Interview
Verbraucher sollen ihre Rechte künftig EU-weit günstig, schnell und ohne Gerichte wahren können. Dafür sollen flächendeckend Streitbeilegungsstellen und eine mehrsprachige, interaktive Internetseite zur Streitbeilegung eingerichtet werden. Das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung führte dazu ein Gespräch mit Prof. Dr. Giesela Rühl von der Universität Jena.
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Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (BPA): Verbraucher sind nicht mehr unbedingt auf Gerichte angewiesen, um ihre Rechtsstreitigkeiten zu klären. Denn mittlerweile gibt es in den EU-Mitgliedstaaten über 750 Streitbeilegungsstellen. Was hat die EU dennoch bewogen, regelnd einzugreifen?
Giesela Rühl: Es ist richtig, dass es insgesamt bereits viele Streitbeilegungsstellen gibt. Allein in Deutschland zählt man über 200 Schlichtungs-, Mediations-, Güte- oder Schiedsstellen.
Viele andere Mitgliedstaaten verfügen aber über keine oder nur über sehr wenige Stellen, die sich mit der außergerichtlichen Beilegung von Streitigkeiten aus Verbraucherverträgen beschäftigen. Und die, die es gibt, sind häufig von fraglicher Qualität.
Mit der Richtlinie über alternative Streitbeilegung, der so genannten ADR-Richtlinie vom Mai 2013, will der europäische Gesetzgeber im Interesse des europäischen Binnenmarktes erreichen, dass Unternehmer und Verbraucher Streitigkeiten in allen Mitgliedstaaten - und das auch grenzüberschreitend - außergerichtlich beilegen können. Bis Mitte 2015 müssen die Mitgliedstaaten deshalb dafür sorgen, dass es flächendeckend Streitbeilegungsstellen gibt, die bestimmte Mindeststandards erfüllen. Durch die Verordnung über Online-Streitbeilegung, die so genannte ODR-Verordnung, soll daneben die Online-Streitbeilegung gefördert werden.
BPA: Was sind die Vorteile der Online-Streitbeilegung?
Rühl: Online durchgeführte Streitbeilegungsverfahren sind in der Regel schneller, einfacher und günstiger. Dies ist gerade bei Verbraucherstreitigkeiten, bei denen es regelmäßig um niedrige Summen geht, ein enormer Vorteil gegenüber gerichtlichen Verfahren. Denn bei gerichtlichen Verfahren wird die Kommunikation regelmäßig auf dem Postweg abgewickelt und die Beteiligten müssen persönlich vor Gericht erscheinen.
Auch bei Verbraucherstreitigkeiten, bei denen die Parteien in unterschiedlichen Ländern wohnen, ist es ein Vorteil, wenn das Verfahren elektronisch geführt wird. Schließlich sparen sich die Parteien die teure und aufwendige Anreise zu einem Verhandlungstermin. Und das Risiko, dass wichtige Dokumente beim internationalen Versand verloren gehen, ist wesentlich geringer.
Die vom europäischen Gesetzgeber verabschiedete Verordnung über Online-Streitbeilegung, die sogenannte ODR-Verordnung, dient allerdings gar nicht wirklich der Förderung der elektronischen Streitbeilegung. Insofern ist die Bezeichnung etwas irreführend. Im Mittelpunkt der Verordnung steht vielmehr die Schaffung einer interaktiven Internetseite, die in allen Amtssprachen zugänglich sein und Informationen über außergerichtliche Streitbeilegung enthalten soll. Vor allen Dingen aber soll sie den Parteien dabei helfen, eine geeignete Streitbeilegungsstelle zu finden. Die Streitbeilegung selbst erfolgt dann aber vor der Stelle, auf die sich die Parteien einigen. Ob das Verfahren vor dieser Stelle online geführt wird oder nicht – darauf hat die zu schaffende europäische Internetseite keinen Einfluss.
BPA: Wie stellt die ADR-Richtlinie sicher, dass die streitbeilegenden Personen fachlich geeignet sind?
Rühl: Die ADR-Richtlinie verlangt, dass die streitbeilegende Person über das Wissen und die erforderlichen Fähigkeiten verfügt, die für ihre Arbeit erforderlich ist. Da die ADR-Richtlinie auf die Verbesserung der Rechtsdurchsetzung gerichtet ist, muss die Person darüber hinaus über allgemeine Rechtskenntnisse verfügen. Wie sichergestellt wird, dass die streitbeilegende Person tatsächlich über diese Eigenschaften verfügt, überlässt die ADR-Richtlinie den Mitgliedstaaten. Man darf also gespannt sein, was sich der deutsche Gesetzgeber hier einfallen lässt.
BPA: Verbraucher erwarten, dass streitbeilegende Stellen unabhängig entscheiden. Wenn aber das Verfahren für den Verbraucher (fast) kostenlos sein soll, muss irgend jemand anderes die Finanzierung übernehmen. Was gewährleistet dann die Unabhängigkeit?
Rühl: Die Unabhängigkeit gehört neben dem Fachwissen zu den Anforderungen, die die ADR-Richtlinie an die streitbeilegende Person stellt. Und anders als beim Fachwissen macht der europäische Gesetzgeber hier eine ganze Menge Vorgaben. So muss die streitbeilegende Person beispielsweise für einen ausreichend langen Zeitraum berufen werden. Sie darf außerdem nicht ohne triftigen Grund ihres Amtes enthoben werden können. Sie darf an keine Weisungen einer Partei oder ihrer Vertreter gebunden sein. Sie muss in einer Weise vergütet werden, die nicht mit dem Ergebnis des Verfahrens in Zusammenhang steht. Und die streitbeilegende Person muss alle Umstände offenlegen, die im Einzelfall ihre Unabhängigkeit beeinträchtigen oder Interessenkonflikte begründen oder diesen Eindruck erwecken.
In diesem Fall kann das Verfahren nur mit Zustimmung der Parteien weitergeführt werden. Lehnen die Parteien ab, muss die betroffene Person entweder ersetzt oder das Verfahren an eine andere Stelle abgegeben werden.
BPA: Was wird die Umsetzung der EU-Richtlinie in nationales Recht bewirken?
Rühl: Die Umsetzung der ADR-Richtlinie wird die Struktur der außergerichtlichen Streitbeilegung in Deutschland grundlegend verändern. Im Augenblick haben wir eine große Anzahl sehr spezialisiert arbeitender Streitbeilegungsstellen. Nach der Umsetzung wird es eine flächendeckende Struktur von Stellen geben, die sich mit Streitigkeiten aus Verbraucherverträgen beschäftigen.
Dies hat für die Verbraucher den Vorteil, dass sie nicht auf den - in vielen Mitgliedstaaten sehr aufwendigen, teuren und unsicheren - Weg zu Gericht angewiesen sind.
Nicht verschweigen werden sollte natürlich, dass ein entsprechendes System auch seine Kosten hat. Der Aufbau, die Unterhaltung und die Überwachung der einschlägigen Streitbeilegungsstellen ist schließlich nicht umsonst zu haben.
Außerdem kann ein zu großer Erfolg der außergerichtlichen Streitbeilegung für die Verbraucher auch nachteilig sein. Denn wenn Verbraucherstreitigkeiten nur noch außergerichtlich beigelegt werden, haben staatliche Gerichte nicht mehr die Möglichkeit, Entscheidungen über die Auslegung und Anwendung des Verbraucherschutzrechts zu treffen. Die Durchsetzung der einschlägigen zum Wohle der Verbraucher gedachten Bestimmungen bleibt dann unter Umständen auf der Strecke.
BPA: Wie regelt die EU den Fall, dass eine Korrektur nötig ist?
Rühl: Die ADR-Richtlinie und die ODR-Verordnung enthalten - wie die meisten Rechtsakte der Europäischen Union - eine so genannte Überprüfungsklausel. Diese sieht vor, dass die Europäische Kommission dem Europäischen Parlament und dem Rat in regelmäßigen Abständen einen Bericht über die Entwicklung und Nutzung der außergerichtlichen Streitbeilegung sowie über das Funktionieren der einzurichtenden europäischen Internetseite zukommen lassen. Diese Berichte sollen, soweit erforderlich, Vorschläge zur Änderung der Richtlinie und der Verordnung enthalten. Wenn sich herausstellt, dass die Rechtsakte in der Praxis nicht so funktionieren, wie erhofft, kann korrigiert werden.
Das Gespräch führte Susanne Kasten.