Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel beim Jahrestreffen 2012 des World Economic Forums

Sehr geehrter Herr Professor Schwab,
Frau Bundespräsidentin,

gestatten Sie mir, dass ich als Drittes meine Kollegin, die Ministerpräsidentin von Dänemark, stellvertretend für alle Regierungsvertreter ganz herzlich hier begrüße; denn sie ist die Ratspräsidentin der Europäischen Union, Dänemark ist das Land der Ratspräsidentschaft – sehr geehrte Helle Thorning-Schmidt,

Exzellenzen,
meine Damen und Herren, 

Herr Schwab, ich bin sehr gern Ihrer Einladung gefolgt und gerade in diesem Jahr mit großem Interesse zum Davoser Forum gekommen. Das Jahrestreffen ist ja der Höhepunkt vieler Aktivitäten, die Sie über das Jahr hindurch immer wieder starten. Das Motto „The Great Transformation: Shaping New Models“ ist sicherlich ein sehr angemessenes und wie immer auch ein sehr ambitioniertes. Aber Davos hat ja auch Ambitionen. Es deutet an, dass im Grunde ein größeres Umdenken gefragt ist. Wir sind ja seit 2008/2009 im Grunde immer in der Diskussion darüber: Was lernen wir aus der großen Finanz- und Wirtschaftskrise dieser Jahre?

Wenn wir uns einmal fragen – ich habe auch im vergangenen Jahr hier diese Frage gestellt und werde sie wieder stellen –, welche Lektion wir denn nun eigentlich aus der Finanz- und Wirtschaftskrise gelernt haben und ob das, was wir gelernt haben, schon ausreicht, dann glaube ich, auch in diesem Jahr sagen zu müssen: Es reicht noch nicht aus. Wenn es um ganz neues Denken geht, dann sind wir sicherlich noch nicht am Ende. Also ich habe keinen Zweifel, dass hier genug Raum ist, noch neue Ideen einzubringen.

Denn wenn man es ein bisschen realistisch bis pessimistisch sieht, dann muss man sagen: Obwohl wir 2008 und 2009 besonders erlebt haben, dass wir global eng verflochten sind, haben wir es nicht geschafft, die internationale WTO-Handelsrunde, die Doha-Runde, zu einem Ende zu führen. Im Gegenteil, auf dem letzten G 20-Treffen hat uns die OECD gesagt, die Anzeichen von Protektionismus hätten eher zu- als abgenommen.

Wenn es darum geht, dass wir die Banken regulieren, dann haben wir Fortschritte gemacht. Ja, wir haben auf dem letzten G 20-Treffen in Cannes in Frankreich eine Regelung für die systemischen großen Banken dieser Erde gefunden. Aber wenn es um den gesamten Bereich der Schattenbanken geht, dann werden wir wohl noch zwei Jahre auf eine Regulierung warten müssen. Viele Menschen fragen uns natürlich: Was bedeutet das, was habt ihr denn nun gelernt? Denn es waren ja offensichtlich auch mangelnde Regulationen, die zu den Dingen geführt haben.

Ich will an dieser Stelle das Thema der Finanztransaktionssteuer gar nicht aufwerfen. Aber ich sage einmal: Wenn die Welt dazugelernt hätte und alle gemeinsam gesagt hätten, „wir müssen unseren Bürgerinnen und Bürgern zeigen, dass wir nicht nur auf jedes Produkt eine Umsatzsteuer zahlen, sondern gemeinschaftlich auch Finanzaktivitäten besteuern“, dann wäre das ein starkes politisches Signal gewesen. Danach sieht es aber nicht aus.

Und noch eine dritte pessimistische Bemerkung: Wir haben in diesem Jahr 2012 20 Jahre nach „Rio“. Wir werden uns in Rio de Janeiro versammeln. Aber wenn man nach einem Anschlussabkommen zum Kyoto-Abkommen fragt – die Bundespräsidentin hat eben darüber gesprochen –, dann müssen wir sagen: Es wird beim Klimaschutz allgemein erst einmal eine Zeit geben, in der es eher weniger bindende Verpflichtungen gibt als mehr. 

Das heißt, der Welt bleibt viel zu tun, wir haben alle Hände voll zu tun. Es geht auch darum, das Tempo so zu wählen, dass nicht unverrückbare und irreversible Schäden eintreten.

Nun ist Europa sicherlich ein Kontinent, auf dem auch über die Fragen neuer Methoden gesprochen werden muss. Wir haben gelernt: Wir hängen alle eng zusammen, wir sind Teil einer gemeinsamen Welt. Aber wir haben auch in Europa erfahren müssen, dass die Finanz- und Wirtschaftskrise, die von Amerika ausgegangen ist, in Europa tiefe Spuren hinterlassen hat, an deren Bewältigung wir noch immer arbeiten.

Europa ist ein großes, ein erfolgreiches politisches Projekt. Ich bin – ich denke, gemeinsam mit all meinen europäischen Kollegen – der festen Überzeugung, dass wir dieses Projekt weiterentwickeln wollen. Mit Recht haben wir zum 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge gesagt: „Wir sind zu unserem Glück vereint.“ – Glücklicherweise sind wir vereint; wir würden nicht glücklicher werden, wenn wir nicht vereint sein würden.

Wenn wir uns überlegen, dass wir heute in einer Welt leben, in der im vergangenen Jahr der siebenmilliardste Bürger geboren wurde, dann sehen wir, was sich entwickelt hat. Denn als Anfang der 50er Jahre die ersten Konturen einer europäischen Integration erkennbar waren – nach dem Zweiten Weltkrieg war und ist das ein Projekt des Friedens; man kann es gar nicht hoch genug schätzen, welch ein Erfolg das nach Jahrhunderten voller Kriege ist –, lebten auf der Welt rund 2,5 Milliarden Menschen. 500 Millionen davon waren damals schon Europäer. Die Europäer sind ungefähr genauso viele geblieben, aber die Welt hat heute sieben Milliarden Einwohner, Europa hat nur noch sieben Prozent der Bevölkerung der Welt und 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Beide Zahlen werden in den nächsten Jahren kleiner werden. So ist neben der Frage von Frieden, Freiheit und Demokratie auch die Frage hinzugekommen: Wie können wir uns in dieser Welt behaupten, wie können wir gemeinsame Interessen artikulieren? Das ist nur gemeinsam als Europa möglich. Ein Land wie Deutschland, die größte Volkswirtschaft in Europa, hat nur noch über ein Prozent der Weltbevölkerung als Einwohner – Tendenz abnehmend, weil ganz Europa eine große demographische Veränderung bevorsteht.

Also sowohl die Ratio als auch die Emotionalität, das Glück, miteinander gestalten zu können, motivieren uns jetzt, erfolgreich durch eine schwierige Phase zu kommen. Was ist deutlich geworden? Es sind im Grunde drei Dinge deutlich geworden. Im Vordergrund der Diskussion steht immer die Diskussion der Staatsschulden in einigen europäischen Ländern. Man spricht deshalb auch manchmal von Staatsschuldenkrise. Es ist zweitens deutlich geworden – und das ist mindestens so wichtig –, dass wir in einigen europäischen Ländern Schwierigkeiten mit der Wettbewerbsfähigkeit haben. Und es ist – das ist noch schwieriger zu bewältigen – klar geworden, dass insbesondere in dem Bereich, in dem wir eine gemeinsame Währung haben, in der Wirtschafts- und Währungsunion, politische Strukturen fehlen, damit das Ganze richtig funktionieren kann.

Das soll uns nicht verzagt stimmen. Ich bin sehr froh, dass diese Analyse im Grunde von allen geteilt wird. Die Defizite sind über Jahre entstanden. Sie werden sich deshalb auch nicht mit einem Paukenschlag überwinden lassen, sondern es wird dauern, diese Defizite zu überwinden. Aber wir sind entschlossen, das zu tun. 

Weil diese strukturellen Ursachen angesichts der großen Belastung durch die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise sehr viel stärker zu Tage getreten sind, als es vielleicht der Fall gewesen wäre, wenn wir eine kontinuierliche Entwicklung gehabt hätten – wir wären eines Tages dennoch an einem solchen Punkt angekommen, aber wahrscheinlich nicht so schnell –, ist jetzt weltweites Vertrauen in Europa und insbesondere in den Euroraum verlorengegangen, weil die Frage im Raum steht: Wie wollt ihr das schaffen?

Ich glaube, die erste Frage muss doch sein: Sind wir bereit, mehr Europa zu wagen? Dazu darf ich sagen: Das Jahr 2011 hat gezeigt: Ja, wir sind dazu bereit. Das ist die gute Botschaft; und zwar sind wir dazu in drei Bereichen bereit.

Das ist einmal der Bereich der Haushaltsdisziplin, und zwar nicht nur, weil es um das Budget geht, sondern auch um Nachhaltigkeit. Es geht uns ja insgesamt darum, dass wir stabiles Wachstum brauchen, nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Welt. Wir brauchen stabile Verhältnisse. Nachhaltigkeit wird das Markenzeichen der Zukunft sein müssen, damit wir zu Stabilität im Haushaltsbereich kommen. 

Zweitens nenne ich den Bereich der Wettbewerbsfähigkeit verbunden mit Arbeitsplätzen. Das ist ein ganz zentraler Bereich. Die Menschen werden nicht an Europa glauben, wenn die Arbeitslosigkeit hoch bleibt. 

Und drittens die gegenseitige Solidarität, die auch Ausdruck dessen ist, dass wir zusammengehören, dass wir zusammengehören wollen und man auch von außen von uns erwartet, dass wir füreinander einstehen.

Wenn man sich anschaut, was zu den ersten beiden Punkten Haushaltsdisziplin und Wettbewerbsfähigkeit im letzten Jahr von einzelnen Ländern geleistet wurde, dann wird das noch immer nicht als ausreichend angesehen. Aber es geht bei den vielen Dingen, die jeden Tag diskutiert werden, vielleicht auch manchmal eines unter: Wer sich anschaut, was in Spanien passiert ist, was jetzt in Italien passiert, was in Portugal passiert ist, was in Irland passiert ist, zum Teil auch in Griechenland – wenn auch nicht immer zufriedenstellend –, der erkennt, dass viel mehr in Bewegung gekommen ist, als wir es über viele Jahre gesehen haben.

Im Jahr 2000 haben sich die europäischen Staats- und Regierungschefs vorgenommen: Bis 2010 soll Europa der wettbewerbsfähigste Kontinent sein. Das haben wir offensichtlich nicht ganz geschafft. Aber wir haben in der letzten Zeit erkannt, dass sich in diesem Bereich etwas ändern muss. Deshalb sind nicht nur die Austeritätsmaßnahmen, die jetzt sehr im Vordergrund stehen, das Prägende, sondern genauso wichtig sind für mich die strukturellen Reformen, die angegangen werden und die zu mehr Arbeitsplätzen führen werden. Davon bin ich zutiefst überzeugt. Das zeigen im Übrigen auch all die Beispiele, die wir in Europa erlebt haben – ob ich da Schweden als Beispiel nenne oder die Arbeitsmarktreformen in Deutschland, bekannt unter dem Markenzeichen „Hartz IV“, die in Deutschland zu einer massiven Verbesserung auf dem Arbeitsmarkt geführt haben. Wir sind von fünf Millionen Arbeitslosen auf unter drei Millionen gekommen.

Aber jeder weiß: So etwas dauert länger als zwölf oder 18 Monate. Es ist jetzt ganz wichtig, dass wir einen langen Atem haben, um diese Reformen wirken zu lassen, und nicht auf halbem Wege wieder umkehren und sagen: Das bringt doch alles nichts. Da unsere Zeit sehr schnelllebig ist, ist es ganz wichtig, uns zu vergewissern, dass dieser Weg im Grundsatz richtig ist.

Wir werden in wenigen Tagen, am 30. Januar, einen EU-Sonderrat haben, später dann im März auch ein reguläres Gipfeltreffen des Europäischen Rates. Auf beiden werden wir über das Thema Wachstum und Jobs sprechen. Man kann es vielleicht ganz einfach sagen – Kommissionspräsident José Manuel Barroso sagt das oft: Wir haben in Europa 23 Millionen Firmen und wir haben in Europa 23 Millionen Arbeitslose. Wenn jede noch einen einstellen könnte, dann könnten wir das Problem lösen. Ich weiß natürlich, dass das so nicht geht. Ich will damit nur sagen: Das ist nicht ein Problem, das überhaupt nicht lösbar ist.

Wir haben in Europa ja einen Binnenmarkt. Wir haben natürlich keine freie Mobilität der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, weil wir ganz unterschiedliche kulturelle Wirklichkeiten haben. Wir müssen hier sicherlich insgesamt flexibler werden. Wir werden deshalb darüber sprechen: Welche Länder haben die besten Erfahrungen gemacht, welches Recht liegt hinter diesen guten Erfahrungen und wie können wir voneinander lernen, auch wenn z. B. das Thema Arbeitsrecht nicht ein Gebiet ist, bei dem es eine europäische Kompetenz gibt? Wir werden uns überlegen: Wo haben wir noch Mittel, die wir noch nicht effizient einsetzen und die wir vielleicht für die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen verwenden können? Und wir werden auch darüber reden: Wo können wir Partnerschaften zwischen Ländern organisieren, wer kann wem mit seinen Erfahrungen zur Seite stehen?

Ich halte es auch für dringendst notwendig, dass gerade junge Menschen die Erfahrung machen: Es geht etwas voran. Wenn wir in Europa aber eine durchschnittliche Jugendarbeitslosigkeit von über 20 Prozent haben, in einigen Ländern von über 40 Prozent, dann darf man sich nicht wundern, warum manche junge Menschen nicht gerade davon überzeugt sind, dass Europa schon den richtigen Weg geht.

Wir sind dazu entschlossen. Die dänische Ratspräsidentschaft wird das zusammen mit der Kommission vorantreiben. Das ist im Übrigen ein Projekt, das unbeschadet der Frage, ob man dem Euroraum angehört oder nicht, gemacht werden kann. Wir haben dafür auch den Euro-Plus-Pakt und vieles mehr.

Meine Damen und Herren, wir haben natürlich auch die Anfrage: Wie sieht es denn mit mehr Verbindlichkeit in Europa und mit mehr Solidarität aus? Ich glaube, wir sind in Europa inzwischen an einem Punkt angelangt, an dem Außenpolitik langsam in Innenpolitik übergeht. Wir haben Diskussionen über unseren gemeinsamen Binnenmarkt und über unsere gemeinsame Europäische Union zu führen. Dabei müssen wir sehr ehrlich zueinander sein. Da nützt es nichts, sozusagen immer in Worten einer Präambel zu sagen: „Wir sind zu unserem Glück vereint.“ Das sind wir. Aber wenn auch zukünftige Generationen das noch sagen wollen, dann ist es unsere Aufgabe heute, dieses Europa zu einem funktionierenden Europa zu machen. Das heißt, wir müssen bereit sein, mehr nationale Kompetenzen an Europa abzugeben.

Wir haben seit vielen Jahren einen Stabilitäts- und Wachstumspakt. Aber dieser Stabilitäts- und Wachstumspakt ist nicht eingehalten worden. Im Gegenteil, Deutschland und Frankreich haben ihn sogar noch abgeschwächt. Es ist damals, als der Lissabon-Vertrag geschlossen wurde, gesagt worden: Der Europäische Gerichtshof soll uns nicht verklagen dürfen, wenn wir den Pakt nicht einhalten. So ist Vertrauen verloren gegangen, weil man gesehen hat: Sie versprechen etwas, das sie zum Schluss nicht halten. Vertrauen aber ist die größte Währung, die man weltweit heute haben kann.

Deshalb ist die eigentliche Botschaft des Fiskalpakts, um den wir uns jetzt so mühen, die Tatsache, dass jeder in seine eigene Rechtsordnung Schuldenbremsen einführt und die Kommission dann überwachen und der Europäische Gerichtshof kontrollieren kann, ob diese auch wirklich eingehalten werden. Die eigentliche Botschaft heißt: Wir sind bereit für mehr Verbindlichkeit, wir reden uns nicht mehr heraus, wir erklären nicht mehr einfach etwas, sondern wir sind für Verbindlichkeit zu haben. Das ist ganz wichtig, weil wir ansonsten weiter Glaubwürdigkeit verlieren werden.

Aber ich sage voraus: In den nächsten Jahren wird dies nicht der letzte Integrationsschritt sein, sondern wir werden weiter zusammenrücken müssen, so wie ich es für die Bereiche Wettbewerbsfähigkeit und Jobs schon gesagt habe. Natürlich kann man fragen: Warum werden jetzt so anspruchsvolle Forderungen gestellt? Ich kenne die Vorwürfe, dass Deutschland Ursache von wirtschaftlichem Ungleichgewicht sei. Nun kann man fragen, ob es sinnvoll ist, innerhalb eines Währungsraums die Ungleichgewichte gegeneinander aufzurechnen – das könnte ich auch innerhalb Deutschlands tun. Dann würde der Süden eine Übermacht über den Norden haben. Also, es steht in Frage, ob das richtig ist.

Aber nehmen wir einmal an, dass die Ungleichgewichte zeigen, dass es Spannungen im Euroraum gibt. Dann gibt es nur eine einzige spannende Frage. Und die Antwort ist: Deutschland wird sich am Abbau solcher Ungleichgewichte beteiligen, wo immer wir ungerechtfertigterweise Barrieren haben, z. B. im Dienstleistungssektor.

Wenn es aber darum geht, dass Ungleichgewichte aus unterschiedlicher Wettbewerbsfähigkeit entstehen, dann kommen wir in Europa an einen ganz spannenden Punkt. Wollen wir Kohärenz ohne Ambition? Dann treffen wir uns irgendwo bei einem Mittelwert. Oder wollen wir schauen, wer wo am besten ist, und versuchen, dem Besten in Europa nachzueifern? Dann haben wir eine Chance, auf den Weltmärkten mitzuspielen. Es geht nach meiner tiefen Auffassung nämlich nicht nur um den Zusammenhalt als solchen, sondern es geht für Europa um die Zukunft: Welche Rolle spielt Europa in einer dynamischen global vernetzten Welt?

Da gibt es keine Rechtsansprüche. Da gibt es keine Möglichkeit zu sagen, „weil wir schon 50 Jahre ziemlich weit vorne waren, werden wir das auch in den nächsten 50 Jahren sein“, sondern das muss jeden Tag erarbeitet werden – durch Produkte, die wir produzieren und woanders gekauft werden, und durch Innovationen, mit denen wir vorne dran bleiben. Wenn uns das nicht mehr gelingt, dann werden wir zwar sicherlich noch lange ein interessantes Reiseziel bleiben, aber Wohlstand für die Menschen in Europa werden wir nicht mehr erwirtschaften können.

Deshalb geht es nicht darum, wer jetzt strenger und weniger streng ist, sondern es geht darum, dass wir Wohlstand für morgen in Europa auch wirklich produzieren. Ich glaube, dass wir da ruhig ambitioniert sein sollten. Daher glaube ich, dass wir weiter arbeiten müssen. Natürlich sind wir mit den ersten Schritten zu einer Fiskalunion ein ganzes Stück weitergekommen. Aber angesichts der Schwierigkeiten, angesichts der Diskussionen, wie wir zusammenhalten, muss ich immer noch sagen: Wir können auch an Geschwindigkeit noch zulegen, wir können schneller und entschiedener werden.

Aber insgesamt, das ist mein Eindruck, wächst Europa zusammen. Das ist das, was in den letzten Monaten passiert ist. Wir haben eine Spannung; über die kann man offen sprechen. Es gibt Euro-Mitgliedstaaten und Nicht-Euro-Mitgliedstaaten. Wir müssen jetzt aufpassen, dass das Europa des Binnenmarktes, das Europa der 27, ein gemeinsames Europa bleibt, auch wenn einige Länder natürlich mehr vernetzt sind. Aber ich bin optimistisch, dass wir das schaffen können.

Nun stellt sich die Frage: Wie messe ich denn eigentlich das Einstehen der Länder Europas füreinander, insbesondere der Euro-Region füreinander? Ich habe manchmal den Eindruck, dass das international sehr stark daran festgemacht wird, inwiefern die Länder bereit sind, füreinander Haftung zu übernehmen und sich mit einer „firewall“, wie man so schön sagt, zu umgeben. Wie viel Geld setzen sie füreinander ein? Dies ist eine sehr kontrovers diskutierte Frage, die, glaube ich, auch viel mit kulturellen Prägungen zu tun hat.

Wir haben einen temporären Rettungsschirm, die EFSF. Darin sind im Grunde 770 Milliarden Euro Garantien. Sie zählen auf den Märkten nur 440 Milliarden Euro, weil man gerne „Triple A“ sein möchte. Damit haben wir die notwendigen Programme und Hilfen für Portugal, Irland und in Zukunft auch Griechenland finanziell abgedeckt. Dann haben wir weitere Mittel. Wir haben diesen Schirm flexibilisiert. Es hat ihn noch nie einer in Anspruch genommen. Es ist gut, dass das nicht notwendig war. Dann haben wir gesagt: Wir schaffen einen permanenten Mechanismus. Das ist ein Bekenntnis dazu, dass wir das nicht kurzfristig machen, sondern dauerhaft, unbefristet, mit einem eingezahlten Kapital von 500 Milliarden Euro. Daran arbeiten wir gerade. Es wird etwas sein in Form eines völkerrechtlichen Vertrags, auf den sich alle teilnehmenden europäischen Mitgliedstaaten verlassen können.

Jetzt aber sagen manche: Das reicht noch nicht, obwohl auch die Europäische Zentralbank unsere Banken mit 500 Milliarden Euro Liquidität zum Jahresende für drei Jahre unterstützt hat und das auch noch einmal machen wird – das müsste doppelt so viel sein; wenn das doppelt so viel wäre, dann würden wir euch glauben. Manche sagen: Es müsste dreimal so viel sein, dann würden wir euch richtig glauben. Ich frage mich immer: Wie lange bleibt das dann glaubwürdig und wann wird das wieder nicht glaubwürdig, weil man das wieder hinterfragt?

Deshalb gestatten Sie mir eine Bemerkung in eigener Sache: Jedes unserer Länder in Europa ist ein starkes Land; manche etwas stärker, manche weniger stark. Von Deutschland denkt man, dass es besonders stark ist. Deutschland ist relativ groß, Deutschland ist auch relativ stark. Aber in Deutschland sagt man nicht: Wir wollen nicht solidarisch sein, wir wollen keine Verbindlichkeiten eingehen. Das ist überhaupt nicht unser Problem. Wir haben vom ersten Tag an gesagt: Wir stehen für den Euro ein. Aber wir möchten nicht in eine Situation geraten, in der wir etwas versprechen, das wir zum Schluss gar nicht repräsentieren können. Denn wenn Deutschland stellvertretend für alle europäischen Länder etwas verspricht, das bei harter Attacke der Märkte nicht einlösbar ist, dann hat Europa eine ganz offene Flanke.

Deshalb gilt es eine Balance zu finden. Unsere Verbindlichkeit äußert sich in vielem. Sie äußert sich in Rettungsschirmen, sie äußert sich aber auch in „mehr Europa“ und in der Bereitschaft, sich von europäischen Institutionen verklagen zu lassen. Sie äußert sich darin, dass wir mehr zusammen machen – selbst in Bereichen, die noch nicht europäisch vergemeinschaftet sind. Alle diese Punkte zählen als Antwort auf die Frage: Halten sie auch wirklich zusammen? Das wollte ich an dieser Stelle noch einmal ganz deutlich sagen.

Meine Damen und Herren, über die Probleme, die Europa hat, habe ich gesprochen. Ich will nur nebenbei bemerken, dass manche uns als Wachstumsschwierigkeit für die ganze Welt ansehen. Wir wissen, wie die Dinge zusammenhängen, aber ich glaube, bei näherer Betrachtung sind wir nicht die Einzigen auf der Welt, die Probleme haben, sondern auch in anderen Regionen, die ich jetzt gar nicht einzeln aufzählen möchte, gibt es noch dieses und jenes zu tun. Das beruhigt mich insofern, als wir auch alle miteinander gut beschäftigt sind.

Deshalb wird es wichtig bleiben, dass wir auch beim nächsten G 20-Treffen in Mexiko an unserer Agenda, insbesondere der Agenda für Wachstum und Beschäftigung, die von Südkorea aufgelegt wurde, weiterarbeiten. Auch die mexikanische Präsidentschaft hat dies zum Thema gemacht – neben den Themen „grünes Wachstum“, nachhaltiges Wachstum auch Ernährungssicherung, Klimaschutz und Energie. Wir werden weitermachen müssen bei der Regulierung der Finanzmärkte. Wir werden auch weitermachen müssen bei der Frage, wie wir möglichst viel freien Handel sicherstellen können.

Deshalb lassen Sie mich eine letzte Bemerkung zum transatlantischen Verhältnis machen. Weil wir bei Doha so schwierig vorankommen, wird der Weg – ich halte ihn nicht für den besten – jetzt wahrscheinlich so gegangen werden, dass die einzelnen Regionen, z. B. die EU, Handelsabkommen mit anderen abschließen. Wir haben das mit Südkorea gemacht, wir arbeiten an einem Abkommen mit Japan. Ich glaube, auch im transatlantischen Bereich haben wir noch sehr viele Möglichkeiten, z. B. eine Freihandelszone zu schaffen, die wir heute noch nicht haben. Die EU und die USA sind heute die jeweils wichtigsten Wirtschaftspartner füreinander mit einem Handelsvolumen von über 670 Milliarden Euro. Aber das Potenzial unserer Zusammenarbeit ist längst nicht ausgeschöpft. Wir haben vielfältige Hürden, insbesondere im nichttarifären Bereich – Dienstleistungen, Investitionen, technische Standards, öffentliches Auftragswesen und vieles mehr. Ich freue mich, dass von europäischer und amerikanischer Seite jetzt eine Bereitschaft besteht, hier weiterzuarbeiten. Das dauert sicherlich auch eine bestimmte Zeit. Aber ich sehe – neben unserer Kooperation mit vielen anderen, mit China, mit Indien, mit Asien insgesamt – gerade auch in diesem klassischen und manchmal schon als normal genommenen Bereich noch Möglichkeiten, unser Wirtschaftswachstum zu stärken.

Ich wünsche Ihnen erfolgreiche Tage, erfolgreiche Diskussionen. Davos hat die Chance, dass in den verschiedensten Bereichen – und ich freue mich, dass dieses Mal auch viele aus dem sozialen Bereich hier sind – offene, unkonventionelle Diskussionen geführt werden. Ich sage Ihnen ganz offen: Wir als Politiker brauchen diesen Input. Denn auch wir haben gesehen: Letztlich schaffen wir es nur gemeinsam. Inmitten der Wirtschafts- und Finanzkrise – das ist jedenfalls unsere europäische Erfahrung – hat sich die Soziale Marktwirtschaft gut bewährt, die niemals die alleinige Verantwortung bei der Politik sieht, sondern immer besagt: Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind auch mit im Boot, damit unsere Gesellschaften erfolgreich sein können.

In diesem Sinne: Gute Tage hier in Davos.