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Sehr geehrte Damen und Herren,
anbei übermitteln wir Ihnen unsere Stellungnahme zur Dialogfassung der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie. In unseren Ausführungen fokussieren wir vor allem das Aktionsfeld „zukunftsorientierte Regionalisierung in der Ernährungswirtschaft“. Die vorliegende Fassung der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie weist nur wenige Ansatzpunkte für Regionalisierungs-prozesse auf. Diese sind unserer Meinung nach aber von zentraler Bedeutung für nachhaltige Entwicklungen weltweit.
Wir begrüßen es, dass der Staatssekretärsausschuss für nachhaltige Entwicklung in seiner Pressemeldung zum Thema „Anforderungen einer nachhaltigen Entwicklung an Ernährungssysteme“ vom 14. Juli 2020 sich zur Gestaltung nachhaltiger Ernährungs-systeme im Sinne der Agenda 2030 auf globaler, europäischer und nationaler Ebene bekannte und Regionalität einforderte. „Der Ausschuss unterstrich angesichts der Corona-Pandemie die systemrelevante Bedeutung einer regionalen Nahrungsmittelproduktion in Deutschland wie weltweit.“
Die nachfolgenden Ausführungen verdeutlichen die Bedeutung von Regionalisierungs-prozessen im Ernährungssystem und stellen entsprechende Handlungsansätze vor.
Mit freundlichen Grüßen
Brigitte Hilcher
Stellvertr. Geschäftsführerin Bundesverband der Regionalbewegung
Vorschläge der Regionalbewegung zur textlichen Ergänzung der Nachhaltigkeitsstrategie
S. 31
„Nachhaltige Agrar- und Ernährungssysteme“
„Für die Verwirklichung der Globalen Nachhaltigkeitsziele mit engen Bezügen zu den Bereichen Landwirtschaft und Ernährung (insbesondere SDGs 2, 3, 12 und 15) bedarf es eines ganzheitlichen Blicks auf die Thematik. Die komplexen Zusammenhänge und Interdependenzen zwischen der Art und Weise der Produktion der Agrarrohstoffe, ihrer Verarbeitung, des Transports sowie des Konsums und des Umgangs mit Lebensmitteln werden mit dem Begriff „Ernährungssysteme“ beschrieben, den auch die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) verwendet.“
Ergänzung der Regionalbewegung: Vor dem Hintergrund vielfältiger positiver Aspekte von Regionalisierungsprozessen und der gesellschaftlich hohen Akzeptanz und Nachfrage nach regionalen Lebensmitteln sollen Maßnahmen zur Regionalisierung der Ernährungssysteme fokussiert werden.
S. 31/ 32
„Es besteht die Herausforderung – auf internationaler, europäischer wie auf nationaler Ebene – die ausreichende Versorgung mit einer Vielfalt an sicheren, erschwinglichen Lebensmitteln sowie eine gesundheitsförderliche Ernährung für alle Menschen weltweit zu sichern, gleichzeitig den Schutz der Umwelt und des Klimas zu gewährleisten, die Haltung von Nutztieren zu verbessern, die Rechte der Erzeugerinnen und Erzeuger zu achten und ihre Arbeits- und Lebensbedingungen zu verbessern sowie die ländlichen Räume als attraktive Wirtschafts- und Lebensräume zu erhalten.“
Ergänzung der Regionalbewegung: Regionalisierungsprozesse in den Regionen können Antworten auf die oben genannten Herausforderungen liefern und Nachhaltigkeitsprozesse unterstützen.
….
„Die Entwicklung zu nachhaltigeren Ernährungssystemen kann nur gelingen, wenn Politik, Wirtschaft und Konsumenten ihre jeweilige Verantwortung wahrnehmen. Die Bundesregierung begrüßt in diesem Zusammenhang die zahlreichen Initiativen der Wirtschaft und Zivilgesellschaft, z.B. für klima und umweltfreundliche sowie faire Produktion, Stärkung regionaler Erzeuger, aber auch für eine nachhaltigere Ernährung und zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung innerhalb des gesamten Ernährungssystems.“
Ergänzung der Regionalbewegung: Diese Initiativen müssen bundesweit gestärkt und vervielfältigt werden. Dauerhaft finanzierte Ernährungsräte in den Städten und Regionale Wertschöpfungszentren mit Wertschöpfungsmanagern in den Regionen könnten das Potential regionaler Wertschöpfung heben und die Prozesse der Initiativen begleiten (weitere Infos zu den Wertschöpfungszentren siehe 6 weiter unten im Dokument). Sie könnten die wichtige Unterstützungs-, Vernetzungs- und Aufbauarbeit entlang von Wertschöpfungsketten leisten. Ein Bundesprogramm Regionale Wertschöpfung sollte die notwendigen Mittel zur Realsierung von Regionalisierungsprozessen und zum Erhalt der notwendigen Kleinst- und Kleinbetriebe zur Verfügung stellen.
S.89
Ergänzung der Regionalbewegung: Deutschland benötigt eine Regionalitätsstrategie auf Bundesebene, um die Prozesse zur zukunftsorientierten Regionalisierung in der Ernährungswirtschaft voranzubringen.
Jede Region hat vielfältige Potentiale Regional- und Direktvermarktung auszubauen. Diese Potentiale auszuschöpfen, dafür braucht es jeweils ein politisches und gesellschaftliches Agreement. Kommunale Regionalitätsstrategien als Gesellschaftsverträge für eine zukunftsfähige nachhaltige Landwirtschaft mit regionaler Vermarktung sollten ergänzend vor Ort entwickelt werden. Das könnte eine erste Aufgabe der Regionalen Wertschöpfungszentren sein.
Weitere eigene Ausführungen zur Bedeutung von Regionalisierungsprozessen im Ernährungssystem
Hohe Nachfrage nach regionalen Produkten für eine zukunftsfähige Ernährung nutzen
Die Nachfrage nach regionalen Produkten seitens der Verbraucherschaft ist hoch. Der aktuelle Ernährungsreport des Bundeslandwirtschaftsministeriums aus dem Jahr 2020 macht dies deutlich: Immer mehr Verbraucherinnen und Verbraucher wollen auch verstärkt auf saisonale Produkte mit kurzen Transportwegen zurückgreifen. 83 Prozent ist es (sehr) wichtig, dass ein Lebensmittel aus der Region kommt.
Regionale Produkte haben viele Vorteile: Sie schonen die Umwelt durch kurze Transportwege, sie bieten Landwirtschafts- und Lebensmittelhandwerksbetrieben Einkommensmöglichkeiten, schaffen Ausbildungs- und Arbeitsplätze vor Ort und stärken letztlich die gesamte regionale Wertschöpfung inklusive Steuereinnahmen. Sie tragen zur Diversifizierung der landwirtschaftlichen Produktion und somit zu einer vielfältigen Kulturlandschaft, die Artenvielfalt begünstigt, bei, auch wenn sie manchmal in der Klimabilanz schlechter abschneiden (Demmeler M (2009): Local Food: Regionalität zum Nutzen für Klima und Umwelt? In: Kritischer Agrarbericht 2009, S. 165 ff).
Weiterhin hat ein regional orientiertes Ernährungssystem das Potential, Nährstoffkreisläufe wieder zu schließen, in dem Nährstoffentnahme und -rückführung (über Nutzung von Lebensmittelabfällen, Kompost, Abwässern etc.) ausgeglichen werden.
Schließlich zeichnen sich regionale Produkte durch Frische aus und sind in der Regel geschmackvoll ausgereift. Die Nähe zu den Erzeuger*innen steigert die Wertschätzung für die Lebensmittel, was eine wichtige Grundlage für gesunde Ernährung ist und Lebensmittelverschwendung vorbeugen kann.
Regionalisierungsprozesse haben das Potential ländliche Räume als attraktive Wirtschafts- und Lebensräume zu erhalten, das Miteinander zu fördern und ein Gefühl des „Abgehängtseins“ zu verhindern. Auch zur Stärkung des Ökolandbaus sowie zur Umstellungsmotivation kann der Aufbau regionaler Wertschöpfungsketten wesentlich beitragen; nicht selten hängt die Stagnation der Anzahl ökologisch wirtschaftender Betriebe mit fehlenden Absatzperspektiven zusammen.
Anteile regionaler Vermarktung deutlich erhöhen
Insgesamt wird aber in Deutschland nur ein sehr geringer Anteil der Produkte regional vermarktet. Ca. 10.300 landwirtschaftliche Betriebe sind in der Direktvermarktung tätig (vgl. BMEL, Landwirtschaft verstehen. Fakten und Hintergründe, 2018, S. 8) dies entspricht lediglich vier Prozent. Leider können keine genauen Zahlen zum regionalen Absatz von Lebensmittel genannt werden, weil hierzu Studien mit entsprechenden Erhebungen fehlen. Dies liegt auch mit daran, dass die Datengrundlage hierzu schwer zu definieren ist, denn: eine einheitliche Definition von Region ist deutschlandweit nicht vorhanden.
Wie extrem der deutsche Markt hingegen von Im-und Exporten abhängt, zeigen die Zahlen des Statistischen Bundesamtes: Insgesamt hat sich der weltweite Warenexport in den letzten 40 Jahren verzehnfacht, etwa ein Viertel aller in Deutschland erzeugten landwirtschaftlichen Produkte gehen in den Export. In vielen Bereichen ist Deutschland zudem sehr abhängig von Agrarimporten. Gemüse, Obst und Öl kommen zu großen Anteilen aus anderen Ländern, sogar Fleischerzeugnisse werden in großen Mengen importiert, obwohl der Selbstversorgungsgrad mit Fleisch in Deutschland bei 115 % liegt.
Globale Verwerfungen wie in diesem Jahr aufgrund der Corona Pandemie können also potenziell auch immer zu Versorgungsengpässen bei Nahrungsmitteln bzw. zu Betriebsinsolvenzen führen. Eine Diversifizierung des regionalen Anbaus und der Verarbeitungsstrukturen ist daher mehr als systemrelevant, denn mit vielen kleinen, lokalen Betrieben, die vielfältige Produktpaletten vorhalten, können Ausfälle abgefedert und zudem klimaschädliche Treibhausgase vermindert werden.
Ziel sollte ein ausgewogenes Verhältnis von regionaler Selbstversorgung und globalem Handel sein, kein Entweder-Oder. Da sich die Regionalversorgung bundesweit eher im einstelligen Prozentbereich bewegen dürfte, ist hier noch viel Luft nach oben. Die vorwiegende Orientierung auf Exportmärkte und den globalen Handel muss also verringert werden. Sie widerspricht dem Grundverständnis einer überzeugenden regionalen Kreislaufwirtschaft, verschärft das Transportaufkommen und trägt zudem zur Zerstörung der kleinbäuerlichen Strukturen und Marktsysteme in den Ziel-Ländern des Südens bei.
Einseitige Effizienzorientierung hinterfragen – externe Kosten gewichten
Vielfach wird angeführt, dass kleinteiligere regionale Strukturen zu Effizienzeinbußen und diese wiederum zu geringerer Warenverfügbarkeit führen. Demgegenüber müssen aber die hohen externen Kosten angeführt werden, die in sogenannten hocheffizienten Agrarsystemen entstehen (z.B. hohe Kosten der Trinkwasseraufbereitung durch die Gülleproblematik; ökologische, ökonomische und soziale Folgeschäden des Sojaanbaus - für die deutsche Tierfütterung - in Übersee).
In einer Studie der Universität Augsburg fanden Forscher heraus, dass allein der Einsatz von künstlichem Stickstoff in Deutschland jährlich 11,5 Milliarden Euro Folgekosten verursacht.
Eine überschaubare Regionalökonomie ist weniger anfällig für die Externalisierung ökologischer und sozialer Kosten. Sie macht mögliche Nebenfolgen der Produktion schneller sichtbar, führt zu kürzeren Feedbackloops , denn „die Geschädigten sind die Nachbarn“. Regionalversorgung führt zu weniger Ausbeutung der globalen Peripherie, stärkt die Transparenz der Produktion sowie die soziale Kontrolle (Gerolf Hanke - Regionalisierung als Abkehr vom Fortschrittsdenken?
In den vergangenen zwanzig Jahren hat sich die Zahl der Landwirtschaftsbetriebe halbiert. Wenn Landwirtschaft mit seinen nachgelagerten Bereichen bzw. Wirtschaftszweigen nur noch in Gunstregionen stattfindet, werden die anderen Regionen abgehängt. Wegen der schlechten Aussichten finden immer weniger Landwirt*innen eine*n Hofnachfolger*in. Eine vergleichbare Entwicklung ist im Lebensmittelhandwerk zu beobachten. Die Zahl der Metzgereien und Bäckereien hat in Deutschland allein in den vergangenen 10 Jahren um etwa ein Drittel abgenommen. In der gesellschaftlichen Debatte um die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse ist die „Regionale Wertschöpfung“ einer der Angelpunkte zur Stärkung ländlicher Räume geworden. Funktionierende regionale Wertschöpfungsketten sind essentiell, um die Wirtschaftskraft ländlicher Räume unter den Bedingungen permanenten Strukturwandels aufrechtzuerhalten.
Die Regional- und Direktvermarktung bietet zahlreiche gute Ansatzpunkte hierfür.
Chancen einer Regionalisierung der Ernährungssysteme ergreifen
Zur Unterstützung der Daseinsvorsorge, der gesunden Ernährung sowie des Umwelt- und Klimaschutzes empfiehlt der Bundesverband der Regionalbewegung deshalb der Politik, ein verstärktes Augenmerk auf eine zukunftsorientierte Regionalisierung der Ernährungssysteme zu legen. Ziel sollte es jetzt sein, die zunehmende Wertschätzung für nachhaltig erzeugte regionale Produkte vonseiten der Verbrauer*innen in zusätzliche Wertschöpfung, unter Einbeziehung der nachgelagerten weiterverarbeitenden Betriebe, zu verwandeln. Also Direktvermarktung zu stärken und darüber hinaus regionale Vermarktung entlang von Wertschöpfungsketten voranzubringen, damit regionale Produkte z.B. auch in der Gastronomie, in Großküchen oder Bäckereien verarbeitet werden und es insgesamt für Verbraucher*innen leichter wird, regionale Produkte zu erkennen und zu beziehen.
Die Bandbreite möglicher Regionalisierungsprozesse, die über die Direktvermarktung hinaus gehen, ist groß: Nachhaltige Regionalvermarktungsmodelle, wie z.B. Regionalvermarktungs-initiativen (BERGISCH PUR, der Dachverein Unser Land e.V. oder die Regionalmarke EIFEL), Marktschwärmereien, Solidarische Landwirtschaften, Regionalwert AGs, Erzeuger-Verbraucher-Gemeinschaften, Erzeugerzusammenschlüsse zur Belieferung von Ladenregalen etc. bieten nicht nur für klein- und mittelständische Betriebe zukunftsfähige Einkommensmöglichkeiten, sondern auch vertrauenswürdige Angebote für die Verbraucherschaft sowie Teilhabemöglichkeiten am Ernährungssystem inklusive der so notwendigen Erzeuger-Verbraucher-Kommunikation.
Es gibt also bereits viele gute Ansätze zur Regionalisierung in der Ernährungswirtschaft, die gleichzeitig auch eine zukunftsfähige, nachhaltige Landbewirtschaftung fokussieren: Diese in den Regionen zu unterstützten, zu vervielfältigen und zu vernetzen wäre ein erster Schritt, die regionale Vermarktung aus dem Nischendasein zu führen und gesunde, frische Produkte für Verbraucher*innen leichter zugänglich zu machen.
Aber: die o.g. Initiativen sind nur punktuell in Deutschland vorhanden, entstehen eher „zufällig“, dort wo Menschen sich - in den überwiegenden Fällen im Ehrenamt, neben ihrem Produzent*innenendasein oder als gesellschaftliche*r Akteur*in - dem Thema annehmen. Die Aktiven arbeiten nicht selten auf befristeten Projektstellen für den komplexen Aufbau regionaler Vermarktung. Immense bürokratische Hürden, unübersichtliche Förderstrukturen, fehlende Weiterverarbeitungsstrukturen, die Suche nach geeigneten Logistiksystemen, die zähen Verhandlungen mit dem LEH … Die Herausforderungen zum Aufbau regionaler Vermarktung sind immens. Nicht selten brechen die in einer zu kurzfristigen Förderung mühevoll aufgebauten Strukturen nach Projektende wieder zusammen.
Regionale Wertschöpfungszentren etablieren
Es wird dringend ein gesellschaftlicher und politischer Konsens für die Schaffung von permanenten, projektförderungsunabhängigen Unterstützungsstrukturen benötigt: Der Landwirt, die Bäckerin, der Metzger, die Regionalhändlerin – sie alleine können den aufwendigen Vernetzungsprozess entlang von Wertschöpfungsketten oder gar den Wiederaufbau von Verarbeitungsstrukturen nicht leisten. Hierfür braucht es Fachpersonal das in bundesweit zu etablierenden sogenannten „Regionalen Wertschöpfungszentren“ (RegioWez) die so wichtige Unterstützungs-, Vernetzungs- und Aufbauarbeit leisten könnte. Diese Zentren könnten auf Ebene der Regierungsbezirke angesiedelt und mit bestehenden Initiativen vor Ort vernetzt werden, die bundesweite Koordination könnte die Regionalbewegung übernehmen. (Die Idee der RegioWez wird aktuell im Netzwerk Regionalitätsstrategie NRW unter Federführung des Landesverbandes Regionalbewegung NRW vorbereitet.)
Die Regionalbewegung sieht im Aufbau solcher Zentren ein großes Potential für eine nachhaltige, zukunftsfähige Ernährungswirtschaft in Deutschland. Durch Koordination der unterschiedlichen Prozesse, Projekte und Player zu diesem Themenfeld in den jeweiligen Regionen könnten zahlreiche sinnvolle Synergien entstehen, was durch ein Nebeneinander von einzelnen Förderprojekten, die zum Teil noch nicht einmal voneinander wissen, nicht gewährleistet sein kann. Die Regionalbewegung geht davon aus, dass der Aufbau einer nachhaltigen Regionalvermarktung in jeder Region möglich ist, wenn er professionell und personell unterstützt in die Regionen gebracht wird.
Qualifikationsoffensive Regionalvermarktung starten
Regionalvermarktung ist nur mit entsprechenden Betrieben entlang der Wertschöpfungskette möglich. Es werden sowohl Landwirtschaftsbetriebe, die in die Weiterverarbeitung einsteigen, als auch z.B. die klassischen Weiterverarbeiter*innen wie Fleischereien und Bäckereien benötigt. Landwirt*innen haben häufig kaum Kenntnis im Weiterverarbeitungsbereich. Ausbildungsmodule zu z.B. Milchhandwerker*innen fehlen. Auch in anderen Bereichen zur Regionalvermarktung fehlt in den Regionen die Fachexpertise – so z.B. zum Thema Logistik. Erfahrungen aus anderen Regionen werden nur sehr schleppend übertragen oder sind gänzlich unbekannt. Hierzu wird eine breite Qualifikationsoffensive Regionalvermarktung benötigt, die Know-How schnell und kompetent verbreitet und Ausbildungsberufe ergänzt und modern bewirbt.
Rechtliche und bürokratische Regelungen für mittlere, kleine und Kleinstunternehmen vereinfachen
Klein- und Kleinstbetriebe sind das essentiell für den Aufbau einer Regionalvermarktung, weil vorwiegend diese Betriebe die entsprechenden Voraussetzungen erfüllen und in diesen Betriebszweig einsteigen wollen. Gerade diese Betriebe sind aber „vom Aussterben bedroht“. Jeden Tag gibt z.B. in Deutschland ein Bäckereibetrieb auf. Rechtliche und bürokratische Regelungen für Kleinst-, Kleine und Mittlere Unternehmen (KKMU) müssen vereinfacht werden (z.B. Hygienevorschriften für KKMU differenzieren). Vielfach werden bereits vorhandene Ermessenspielräume seitens der Ämter nicht ausgenutzt. Diese müssen aufzeigt werden und eine Sensibilisierung der entsprechenden Ämter sowie ein klares Bekenntnis der leitenden Ebenen, zum Erhalt der Betriebe muss eingeleitet werden. Eine Überprüfung von Gesetzen und Verordnungen vor dem Hintergrund einer Entlastung für Kleinstbetriebe ist notwendig. Alle neuen Vorschriften müssen auf die Praktikabilität für Klein- und Kleinstbetriebe hin geprüft werden.
Einfache Veränderungen zu Gunsten kleinerer Betriebe könnten für faire Wettbewerbsbedingungen sorgen: Eine Umstellung z.B. der Gebührenverordnung für die Schlachttieruntersuchung auf Einheitsabgaben pro geschlachtetem Tier käme den kleineren Schlachtstätten zu Gute. Denn: Während in industriellen Schlachtkonzernen amtliche Veterinäre kontinuierlich vor Ort sind, entstehen in kleineren Betrieben durch Anfahrtskosten und geringere Stückzahlen deutlich höhere Kontrollgebühren.
Wenn Politik und Gesellschaft den Wert einer regional verankerten und vielfältigen Lebensmittelerzeugung und deren Mehrfachbeitrag zu lokaler wirtschaftlicher Resilienz, Arten- und Klimaschutz und gesunder Ernährung anerkennt, müssen sie für Chancengleichheit von Klein- und Großstrukturen sorgen, die der Markt von alleine nicht gewährleistet.
Bundes-, landesweite und kommunale Regionalitätsstrategien entwickeln
Neben der Nachhaltigkeitsstrategie, dem Klimaschutzplan 2050, der Zukunftsstrategie Ökologischer Landbau, der Eiweißpflanzenstrategie, der Bioökonomiestrategie und der Ackerbaustrategie benötigt Deutschland auch eine Regionalitätsstrategie.
Jede Region hat vielfältige Potentiale Regional- und Direktvermarktung voranzubringen. Diese Potentiale auszuschöpfen, dafür braucht es jeweils ein politisches und gesellschaftliches Agreement. Kommunale Regionalitätsstrategien als Gesellschaftsverträge für eine zukunftsfähige nachhaltige Landwirtschaft mit regionaler Vermarktung sollten zudem vor Ort entwickelt werden. Das könnte die erste Aufgabe der Regionalen Wertschöpfungszentren sein.
Schon heute spielt Ernährung auf kommunalpolitischer Ebene eine immer wichtigere Rolle. Dies zeigt auch die wachsende Anzahl an Ernährungsräten. Die Oberbürgermeisterin der Stadt Köln, Henriette Reker, ist beispielsweise selbst Mitglied im zivilgesellschaftlich organisierten Ernährungsrat für Köln und Umgebung, der eine Ernährungsstrategie an die Stadt Köln übergab und somit erstmals einen Handlungsleitfaden für eine kommunale Ernährungspolitik bereitstellt. Diese Prozesse müssen bundesweit durch entsprechende personelle Unterstützung eingeleitet werden.
Bundesprogramm Regionale Wertschöpfung einführen
Neben dem Aufbau Regionaler Wertschöpfungszentren und Ernährungsräten empfiehlt die Regionalbewegung ein „Bundesprogramm Regionale Wertschöpfung“ auf den Weg zu bringen.
Ziele sind insbesondere:
- die Förderung regionaler Produktions-, Verarbeitungs- und Vermarktungsstrukturen zur Verbesserung der regionalen Wertschöpfung
- die Durchführung von innovativen Modellprojekten für eine funktionierende Nah-versorgung zur Sicherung gleichwertiger Lebensverhältnisse
- die Netzwerkbildung unter den Regionalinitiativen und Wirtschaftsakteuren
- die Zusammenarbeit und Bewusstseinsbildung entlang der Wertschöpfungsketten von den Erzeuger*innen über die Verarbeitung und Vermarktung bis hin zu den Verbraucher*innen
- die Förderung von Stadt-(Um-)Land-Beziehungen im Sinne der Pflege und Entwicklung stabiler wirtschaftlicher Austauschprozesse
Die Ausgestaltung eines solchen Bundesprogramms sollte aufgrund seiner breiten und branchenübergreifenden Thematik und gesellschaftlichen Bedeutung gemeinsam mit den relevanten Akteursgruppen, Verbandsvertreter*innen, Expert*innen aus Wissenschaft, Politik und Administration aus Bund, Ländern und Gemeinden sowie dem Bundesverband der Regionalbewegung als koordinierender Instanz erfolgen.
Zum Bundesverband der Regionalbewegung e.V.
Der Bundesverband der Regionalbewegung e.V. versteht sich als Kompetenznetzwerk für Regionalität in Deutschland, institutionell gefördert im Hause des BMEL.
Der Bundesverband der Regionalbewegung sieht in einer auf regionalen Wirtschaftskreisläufen und nachhaltigen Wirtschaftsweisen basierenden Wirtschaftspolitik einen wichtigen Beitrag zur Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen, zur Wahrung der regionalen Identität und zur Verbesserung der Lebensqualität von Mensch und Natur. Regionalisierungsprozesse sind Kern jeder Nachhaltigkeitsstrategie und sollten daher in der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie viel mehr gewichtet werden.
Unter dem Dach des Bundesverbandes der Regionalbewegung sind rund 300 Mitgliedsor-ganisationen organisiert, von denen ca. 150 Regionalvermarktung betreiben. Ca. 5000 Erzeuger*innen und Verarbeiter*innen sind über diese Initiativen bei der Regionalbewegung gebündelt, ca. 7000 Verkaufsstellen v.a. im LEH werden von diesen bedient.
Der Verband setzt sich für ein umfassendes Konzept der Regionalität ein, das neben der Nahversorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs auch die Nahversorgung mit Bildung, Informationen, Einkommen und Mitbestimmung berücksichtigt. Die Regionalbewegung hält es für dringend notwendig, neben den Strukturen für z.B. Natur-, Umwelt- und Klimaschutzarbeit auch Strukturen zur Förderung regionaler, nachhaltig gestalteter Wertschöpfungsketten aufzubauen und gesetzlich zu etablieren. Der Erhalt gesellschaftlich geschätzter und strukturerhaltender regionaler Betriebe und regionaler Wirtschaftskreisläufe muss als gesellschaftliches Ziel politisch formuliert werden.
Eine zukunftsorientierte Regionalisierung in der Ernährungswirtschaft bzw. des Ernährungssystems ist vor dem Hintergrund zahlreicher Entwicklungen dringend geboten.