Flüchtlingsdrama ist das "Werk Krimineller"

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Im Wortlaut: de Maizière: Flüchtlingsdrama ist das "Werk Krimineller"

"Migration darf keine Angelegenheit auf Leben und Tod sein", so Bundesinnenminister de Maizière und fordert im Interview eine "gemeinsame europäische Strategie", um die Flüchtlingskatastrophe zu bewältigen. Weiter spricht er über Asylpolitik in Deutschland und den Zusammenhalt der Gesellschaft.

  • Interview mit Thomas de Maizière
  • Stern
Thomas de Maizière, Bundesminister des Innern.

de Maizière: Wir müssen auf viele Flüchtlinge einstellen, solange die internationalen Krisen nicht gelöst sind.

Foto: Peter Lorenz

Das Interview im Wortlaut:

Stern: Herr de Maizière, wann waren Sie das letzte Mal so richtig froh, ein Deutscher zu sein?

Thomas de Maizière: Als ich am Karfreitag in der Dresdner Kreuzkirche die "Matthäuspassion" von Bach gehört habe. Wie Bach mit seiner Musik die deutsche Kultur geprägt hat, ist unglaublich.

Stern: Wann haben Sie sich das letzte Mal als Deutscher geschämt?

de Maizière: Ich schäme mich, wenn ich mich mit Fremdenfeindlichkeit gegenüber Asylbewerbern beschäftigen muss. Und wenn wir guter Gastgeber sein wollen und es zu Gewaltexzessen kommt, wie kürzlich bei der Eröffnung des neuen Eurotowers in Frankfurt. Dieses Durchbrennen von Sicherungen bereitet mir große Sorge. Da frage ich mich manchmal schon: Was sind wir für ein Volk?

Stern: Ist es angesichts der Flüchtlingsdramen im Mittelmeer angebracht, sich als Europäer zu schämen?

de Maizière: Was in diesen Tagen wieder und wieder auf dem Mittelmeer passiert, ist entsetzlich und eine große Tragödie. Sie ist das Werk Krimineller.

Stern: Und wir schauen tatenlos zu.

de Maizière: Entscheidend ist, dass die EU-Kommission und alle EU-Mitgliedstaaten nun endlich gemeinsam an einem Strang ziehen müssen. Kein Land kann diese große Herausforderung allein bewältigen, auch nicht Deutschland. Wir brauchen eine gemeinsame europäische Strategie und eine viel bessere Verzahnung von Außen-, Innen - und Entwicklungspolitik, und zwar auch mit den Herkunfts- und Transitstaaten. Hieran arbeiten wir mit Hochdruck.

Stern: Mit wie vielen Toten rechnen Sie in diesem Jahr im Mittelmeer?

de Maizière: Was für eine Frage! Migration darf keine Angelegenheit von Leben und Tod sein. Die Seenotrettung muss erheblich verbessert werden. Gleichzeitig muss die Europäische Union ernsthaft die Ursachen von Flucht angehen und die kriminellen Schleuserbanden bekämpfen.

Stern: Eine Studie der Universität Leipzig attestiert den Deutschen ein erhebliches Potenzial an Ausländerfeindlichkeit. Der Osten schneidet besonders schlecht ab. Im sachsen-anhaltinischen Tröglitz wurde kürzlich ein Haus angezündet, das als Flüchtlingsheim geplant war. Zufall?

de Maizière: Es hat solche Ereignisse auch schon in Bayern und Nordrhein-Westfalen gegeben. In der Tat haben aber die Menschen im Osten Deutschlands in den vergangenen 25 Jahren enorme Umwälzungen erlebt und hoffen nun, dass damit endlich Schluss ist. Aber die Digitalisierung, die Globalisierung werden für weitere Umbrüche sorgen. Vielen - aber nicht nur im Osten - fehlt inzwischen der Glaube daran, dass Veränderungen zum Besseren führen. Manche ziehen daraus den Trugschluss: Dann verändern wir uns am besten gar nicht. Ablehnung von Fremdem und Fremden ist somit eine Chiffre für die Ablehnung von Veränderungen überhaupt.

Stern: In Tröglitz war zuvor schon der Bürgermeister zurückgetreten, weil Demonstranten vor sein Privathaus ziehen wollten. Braucht es mal wieder einen Aufstand der Anständigen?

de Maizière: Offenbar müssen wir ein paar Grundbedingungen der Demokratie wieder neu erlernen oder erstreiten. Das beginnt mit Respekt. Als Bürgermeister ist man Amtsträger, aber immer noch ein Mensch, dessen Familie nicht in den Schmutz gezogen werden darf. Der Amtsträger darf Privates nicht mit Dienstlichem vermischen, die Bürger dürfen das umgekehrt aber auch nicht.

Stern: Tröglitz hat rund 2700 Einwohner und sollte 40 Flüchtlinge aufnehmen. Ist das eigentlich viel?

de Maizière: Das ist akzeptabel. Nehmen wir Meßstetten, eine Kleinstadt in Baden-Württemberg. In einer alten Kaserne ist dort eine große Asylunterkunft entstanden - begleitet von Protesten, aber letztlich mit großem Erfolg. Man muss die Menschen vor Ort überzeugen. Jeder Einzelne muss spüren: Die große Zahl an Asylbewerbern ist eine Aufgabe, die auch mit mir zu tun hat.

Stern: Sie würden also auch weiterhin in kleinen Orten Unterkünfte schaffen?

de Maizière: Auf jeden Fall. In kleinen Gemeinden ist die Chance sogar größer, dass Flüchtlinge sich integrieren. In Städten ist die Versuchung groß, in Parallelgesellschaften abzutauchen. Darum wäre es falsch, kleine Gemeinden auszunehmen.

Stern: Für dieses Jahr rechnen Sie mit etwa 300 000 neuen Asylbewerbern. Wie viele verträgt dieses Land?

de Maizière: Beim Asyl gibt es keine Obergrenze. Im Grundgesetz steht: Politisch Verfolgte genießen Asyl. Punkt.

Stern: Das klingt politisch korrekt.

de Maizière: Moment! Man muss die Zahlen genau betrachten. In den ersten drei Monaten dieses Jahres kam die Hälfte der Asylbewerber aus europäischen Staaten, im Februar waren es an manchen Tagen über 1500 Menschen aus Serbien, Albanien und dem Kosovo. Das ist inakzeptabel und für Europa blamabel. Das hat mit Asyl auch nichts zu tun.

Stern: Hinzu kommt, dass die Asylverfahren noch immer zu lange dauern.

de Maizière: Natürlich müssen wir an der Dauer der Asylverfahren noch arbeiten, aber wir haben das Verfahren schon jetzt erheblich beschleunigt. Heute dauert die Prüfung im Schnitt fünfeinhalb Monate, statt zehn Monate wie zu Beginn der Legislatur. Unser Ziel sind drei. Nur, was passiert danach? Das Problem ist nicht so sehr die Zahl der Antragsteller, sondern die Zahl derer, die bleiben, obwohl ihr Antrag abgelehnt worden ist.

Stern: Es wird zu wenig abgeschoben?

de Maizière: Aus den Bundesländern höre ich oft den Satz: Flüchtlingspolitik ist eine nationale Aufgabe. Das stimmt. Gemeint ist damit aber meistens: Der Bund soll mehr zahlen. Ich verstehe unter einer gesamtstaatlichen Aufgabe, dass alle das Ihre leisten - Bund, Länder, Kommunen. Abschiebung oder freiwillige Rückkehr ist nun mal Sache der Länder.

Stern: Und die wollen sich dabei nicht die Hände schmutzig machen?

de Maizière: Wir können Menschen, die vom Balkan zu uns kommen, nicht genauso behandeln wie syrische Flüchtlinge. Wir müssen schneller entscheiden und dann auch schneller abschieben. Sonst entstehen Probleme. Ich verstehe jeden, der fragt, warum soll denn gerade dieser Mensch, gerade jene Familie, zum Beispiel aus Serbien, gehen? Sie haben sich gut integriert, der Sohn spielt Fußball im Verein. Dann gründen sich Initiativen, Nachbarn solidarisieren sich.

Stern: Ist nicht gerade das ein Zeichen gelebter Willkommenskultur?

de Maizière: Das ist nur auf den ersten Blick ein starkes Argument. Aber auch hier muss der Rechtsstaat gelten. Sonst können Sie bald niemanden mehr abschieben. Im Asylverfahren geht es nicht um Zuwanderung. Die Wirtschaft kann sich doch nicht nur diejenige -, raussuchen, die wir zufällig gebrauchen können, und den Rest behalten wir alle dann als Soziallast. So entsteht auch ein gewaltiger Sogeffekt, den unsere Gesellschaft auf Dauer kaum aushalten wird. Unser Sozialniveau ist nun mal erheblich höher als das Lohnniveau in vielen Herkunftsländern.

Stern: Herr de Maizière, ist unsere Nation eigentlich mit sich im Reinen?

de Maizière: Im Großen und Ganzen - ja. Deutschland ist innerlich erwachsen geworden. In Zeiten von Not, wie bei der letzten Flut, oder bei kollektiver Trauer, wie beim Germanwings- Absturz, halten wir sogar besonders gut zusammen. Gleichwohl habe ich das Gefühl, dass der Zusammenhalt insgesamt bröckelt. Zu viele verabschieden sich aus der Gesellschaft.

Stern: War das nicht immer so?

de Maizière: Es gab schon immer einige, die das aus ideologischen Gründen oder aus persönlichem Frust getan haben. Aber die Zentrifugalkräfte werden größer. Mich ärgern nicht nur die rechtsfreien Räume, die manche Ausländer in einigen Bezirken zu schaffen versuchen. Mich ärgern auch die, die sehr viel Geld haben, aber ihre Steuern nicht in Deutschland zahlen, die glauben, ihr Leben ohne Verantwortung für die Gesellschaft, ohne innere Bindung an unser Land führen zu können.

Stern: Bindung kann man nicht verordnen.

de Maizière: Nein, aber man kann für sie werben. Wir hatten uns an eine Gesellschaft mit relativ geringer materieller Ungleichheit gewöhnt. Jetzt erleben wir, dass die Vielfalt viel größer geworden ist. Damit müssen wir uns erst abfinden. Wir haben nach 1990 lange nach einer sogenannten inneren  Einheit gesucht. Dieses Ziel habe ich immer für übertrieben gehalten. Wir brauchen kein Volk, das in allem übereinstimmt. In unserer Nationalhymne kommt interessanterweise das Wort „Einheit" gar nicht vor, sondern: Einigkeit. Das bedeutet: Einigkeit in Grundfragen. Wenn wir uns das zum Ziel nähmen, wäre es besser.

Stern: Sie verlangen nach Leitkultur?

de Maizière: Die haben wir ja.

Stern: Jetzt kommen Sie uns als Verfassungsminister bestimmt mit dem Grundgesetz.

de Maizière: Reden Sie das nicht klein! Dieses Wertegerüst ist eminent wichtig. Und damit auch die Errungenschaften unserer repräsentativen Demokratie. Ich glaube übrigens: Je stärker die Zentrifugalkräfte in einer Gesellschaft werden, desto weniger Gründe gibt es für Volksabstimmungen. Wir brauchen mehr Bereitschaft zum Kompromiss, da nehme ich uns Politiker nicht aus. Es ist in Deutschland ja oft verpönt, dass man sich auf etwas einigt, was beiden nicht zu hundert Prozent gefällt. Dann heißt es zu schnell „fauler Kompromiss".

Stern: Es reicht nicht, wenn nur jeder das Grundgesetz unter dem Arm trüge?

de Maizière: Nein. Davon allein kann eine Gesellschaft nicht leben. Es gibt Dinge, die ein Staat nicht herbei - regeln kann: Höflichkeit, Respekt, Achtsamkeit.

Stern: Neue deutsche Tugenden?

de Maizière: Ich spreche von Haltungen. Ein Grundmaß an Höflichkeit braucht jede Gesellschaft, sonst fliegt sie auseinander. Sich die Hand geben, in die Augen gucken, bitte, danke, Entschuldigung - all das zivilisiert menschliches Zusammenleben und befriedet es.

Stern: Klingt spießig.

de Maizière: Mag sein. Nehme ich in Kauf. Meinen Sie nicht auch, dass man einen Berufsanfänger nicht wie einen Praktikanten behandeln, sondern ihm einen anständigen Vertrag geben sollte? Auch eine pluralistische Gesellschaft braucht Bindungen. Mit Egoismus kann man ein Land nicht organisieren. Und es geht nicht, dass reiche Leute in Hamburg sagen: In unser Nobelviertel sollen keine Asylbewerber kommen.

Stern: Herr Minister, Sie reden sich ja regelrecht in Rage.

de Maizière: Mich regen Ruppigkeiten gegenüber Supermarktkassiererinnen genauso auf wie gegenüber Politikern. All das nimmt überhand.

Stern: Gibt es eigentlich eine Nation, die Sie um ihr Nationalgefühl beneiden?

de Maizière: Ich war immer beeindruckt davon, wie die Polen es über Jahrhunderte geschafft haben, auch in größter Not ihren Patriotismus zu erhalten. Persönlich gefällt mir die Botschaft in, der Kinderhymne von Bertolt Brecht: "Und weil wir dies Land verbessern/Lieben und beschirmen wir's/ Und das Liebste mag's uns scheinen/So wie anderen Völkern ihrs."

Das Interview führten Jan Rosenkranz und Axel Vornbäumen für den

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