Mahnwachen in Ostberliner Gethsemanekirche

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2. Oktober 1989 - Auf dem Weg zur Deutschen Einheit Mahnwachen in Ostberliner Gethsemanekirche

2. Oktober 1989: Bürgerrechtler beginnen in der Gethsemanekirche eine Mahnwache für verhaftete Freunde und Kollegen. Die Kirchengemeinde unterstützt die Aktion mit Fürbitt-Andachten. Jeden Abend kommen mehr Menschen in die Kirche.

5 Min. Lesedauer

Beginn der Mahnwache an der Gethsemanekirche in Berlin am 2.10.1989

Beginn der Mahnwache an der Gethsemanekirche

Foto: Robert-Havemann-Gesellschaft/Frank Ebert

Transparent über der Kirchentür

Es geschieht am Erntedankfest: Die Gemeinde der Berliner Gethsemanekirche hat gerade Gottesdienst gefeiert, als die Kirchenältesten zu einer dringenden Sitzung gerufen werden. Bürgerrechtler möchten in ihrer Kirche Mahnwache halten.

Es ist der erste Tag im Dienst von Pfarrer Bernd Albani. Vor wenigen Tagen erst ist er aus dem Erzgebirge nach Ostberlin gezogen, als ihn der Strudel der Ereignisse packt. Er begrüßt den Plan der Mahnwache. Auch die Kirchenältesten stimmen zu: Ein gutes Dutzend ganz normaler Menschen – Bäcker, Apotheker, Verwaltungsangestellte – gewährt der Opposition Einlass in ihr Gotteshaus.

Am nächsten Morgen hängt ein Spruchband über der Pforte. Die Bürgerrechtler fordern Freiheit für die zu Unrecht Inhaftierten. Das Transparent hängt außen. Jeder kann es sehen, und immer mehr Menschen beteiligen sich. Am Altar weichen Blumen und Erntegaben den Luftmatratzen einer Fastengruppe. Tausende Menschen suchen in der Kirche verlässliche Information und moralischen Halt.

Das SED-Regime weiß um den Einfluss der Kirche. Seine Kirchenpolitik ist widersprüchlich: Einerseits versucht es, die Kirchen zu vereinnahmen, um seinen antifaschistischen Anspruch zu legitimieren, andererseits bekämpft es sie. Staatliche Hochschulen lehren Theologie, noch in den 1950er Jahren schicken viele Genossen ihre Kinder zur Christenlehre. Die Partei fordert jedoch zunehmend die Abkehr von Glauben und Religion.

Kontakttelefon für Bürgerrechtler

Mit 16 Jahren stellt der junge Albani seinem Pastor zum ersten Mal die verwirrende Frage: Was kann man gegen die Zustände in der DDR tun? Als Physikstudent in Dresden erträgt er noch die zwei Wochenstunden Marxismus-Leninismus. Fassungslos erlebt er 1968 die Niederschlagung des Prager Frühlings. Noch wagt er nicht zu protestieren. 1969 verbrennt sich auf dem Prager Wenzelsplatz aus Protest der Student Jan Palach. Albani wird klar: "Wenn ich in der DDR leben wollte, musste ich Kompromisse machen. Aber jeder Kompromiss musste eine Grenze haben."

Albani, der promovierte Physiker, studiert noch einmal: Theologie. Er wird Pfarrer im erzgebirgischen Frauenstein, lädt 1987 die Regimekritiker Stephan Krawczyk und Freya Klier zum Auftritt in seine Kirche ein. Mit Perestroika und Glasnost flammt in den Gemeinden der Streit um den politischen Auftrag der Kirche auf. "Die Kirche wurde gebraucht", sagt Albani.

Die Kirche hat sich nicht verweigert: Im Februar 1989 überlässt die Gethsemane-Gemeinde ihren Telefonanschluss Berliner Bürgerrechtsgruppen: Mit dem Kontakttelefon können sie aktuelle politische Informationen austauschen. Private Telefongespräche sind gefährlich: Bei "ungesetzlicher Verbindungsaufnahme" drohen bis zu fünf Jahren Haft.

Fürbitte und Prügel

Mit Beginn der Mahnwachen lädt die Gemeinde jeden Abend zur Fürbitt-Andacht ein.  Am Tag nach Erntedank kommen 30, tags darauf 300 Menschen. Am 4. Oktober schließlich drängen sich 3.000 Gläubige und Besucher in der Kirche. Im Laufe der Woche spitzt sich die Lage zu: draußen die Polizei, in und um die Kirche die Mahnwache, mittendrin Gemeinde und Demonstranten. Sie essen und trinken, schlafen und beten, später dann halten viele auch Prügel aus.

Am 7. Oktober feiert die SED-Führung mit Pomp und Paraden den 40. Jahrestag der DDR, während sich das Volk sammelt. Die Nachbarn der Kirche haben Kerzen ins Fenster gestellt, die Polizei wartet mit geschnürten Stiefeln auf der Straße. Sie werden die Demonstranten auf dem Nachhauseweg abpassen: In Nebenstraßen werden die Bürger zusammengetrieben, viele geschlagen und verhaftet.

Gethsemanekirche wird zum politischen Marktplatz

Aber die Menge lässt sich nicht einschüchtern: Am nächsten Abend wiederholt sich das Geschehen. "Es war meine größte Angst, dass geschossen wird. Aber ich fürchtete auch, dass die Leute bei all der angestauten Wut zurückschlagen", sagt Albani. Die Demonstranten folgen jedoch einer anderen Losung: "Keine Gewalt".

Endlich wendet sich das Blatt: Zehntausende demonstrieren am 9. Oktober in Leipzig . Die Sicherheitskräfte, einsatzbereit und voll bewaffnet, halten sich zurück. Das System kapituliert vor der Menschenmenge. Auch in der Gethsemanekirche sitzen die Menschen wieder an diesem Abend zusammen.

Er habe damals große Angst gehabt, dass es in Leipzig zu einem Blutvergießen kommen könnte, sagt Pfarrer Albani. Doch als man erfahren habe, dass in Leipzig 70.000 Menschen gewaltfrei demonstriert und die Sicherheitskräfte sich zurückgezogen hätten, sei das ein große Erleichterung gewesen. "Das war für mich ein ganz bewegender Moment", sagt er. Einerseits sei die Anspannung abgefallen, andererseits habe man plötzlich gefühlt, "jetzt beginnt sich was zu verändern".

In den folgenden Wochen wandelt sich die Gethsemanekirche zum politischen Marktplatz: Die neuen Gruppierungen stellen ihre Programme vor. Später wird Albani von dem Ausspruch eines SED-Funktionärs erfahren: "Wir hatten mit allem gerechnet, nur nicht mit Kerzen und Gebeten."

Kirchen in der DDR
Die Kirchen waren die einzigen großen Institutionen, die vom SED-Staat unabhängig waren. Sie waren Schutzraum – ein Ort, an dem sich Andersdenkende versammeln konnten. Über Jahrzehnte waren die Kirchen für den Widerstand überlebenswichtig.

Schon in den 1960er Jahren boten viele Pfarrer Oppositionellen Unterschlupf. Vom System unterdrückte, teils auch verbotene Fragen, die Tausende bewegten, wurden hier ausgesprochen und diskutiert: Frieden, Umwelt, Bürgerrechte. In den 1980er Jahren setzte die evangelische Kirche besondere Zeichen für den Frieden: "Schwerter zu Pflugscharen" war der Wahlspruch vieler, die sich in den Kirchen für Abrüstung in Ost und West stark machten. Kirchen boten Raum für Bürgerrechtler und Umwelt-Aktivisten, die hier in Lesungen und Konzerten auftraten.

Viele Gemeinden begehrten gegen das Regime auf. Darum zogen sie Nicht-Getaufte an, die die DDR politisch verändern wollten. Die Nikolaikirche in Leipzig, Kreuz- und Hofkirche in Dresden, Zions- und Gethsemanekirche in Berlin, aber auch unzählige kleinere Gotteshäuser hielten trotz aller Unterdrückungsversuche ihre Pforten offen. Hier konnten die Menschen Informationen austauschen und Gleichgesinnte finden. Die Gemeinschaft vieler Christen in der DDR mit den Gläubigen im Westen brachte zusätzlichen Schutz.

Wegen ihrer besonderen Bedeutung waren die Kirchen stets den Zwängen des Regimes ausgesetzt. Sie standen unter besonderer Beobachtung der Staatssicherheit, die Hunderte von Spitzeln gegen sie ansetzte.