Kunze: Wir hatten nie damit gerechnet

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Interview Kunze: Wir hatten nie damit gerechnet

Für den Schriftsteller Reiner Kunze ist der Mauerfall ein Lebenswunder. "Wir hatten nie damit gerechnet, dieses Ende selbst zu erleben", sagt er. In seinen Werken hatte sich Kunze kritisch mit dem DDR-System auseinandergesetzt. Als Reaktion wurde er aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen.

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Was haben Sie empfunden, als Sie zum ersten Mal seit Ihrer Ausbürgerung wieder in Greiz waren?

Ich empfand, was jemand empfinden dürfte, der der Täuschung erliegt, die Naturgesetze seien außer Kraft gesetzt, denn wir erlebten, dass man auch zu Lebzeiten recht bekommen kann.

Bei Ihrer Lesung in der Greizer Stadtkirche am 26. Januar 1990 haben Sie – mit Blick auf die Friedliche Revolution und den Mauerfall – von einem „Lebenswunder“ gesprochen, Heißt das, auch Sie hatten die Hoffnung auf ein Ende des SED-Regimes aufgegeben?

Wir hatten nie damit gerechnet, dieses Ende selbst zu erleben.

Anlass für Ihre Ausbürgerung war Ihr Buch „Die wunderbaren Jahre“, von dem Arnold Vaatz sagte, es bilde „die Seele einer ganzen DDR-Generation ab“. Es ist gerade diese Generation, die 1989 aufbegehrt. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Innerhalb des kommunistischen Machtbereiches war eine Situation entstanden, die dem Aufbegehren dieser Generation eine Chance bot.

Die „wunderbaren Jahre“ waren in der DDR verboten, aber geschmuggelte Exemplare und Hand- und Maschinenabschriften wanderten durch die Hände vieler junger Leute. Ähnlich wie Wolf Biermann haben auch Sie nach Ihrer Ausbürgerung weitergewirkt. Können – so Sie diese abgegriffene Frage erlauben – Schriftsteller also doch die Welt verändern?

Das Kunstwerk selbst (vorausgesetzt, dass es seinen Namen verdient) ist eine Veränderung der Welt. Der Künstler kann nur das Kunstwerk schaffen, mehr steht nicht in seiner Macht. Was er als Staatsbürger bewegt, steht auf einem anderen Blatt.

Sie waren 1990 einer der Ersten die – eher durch Zufall – ihre Stasi-Akte lesen konnten. Sie mussten feststellen, dass Manfred „Ibrahim“ Böhme, einer Ihrer engesten Freunde, Sie jahrelang bespitzelt hatte. War das für jemanden wie Sie, der das System doch gut durchschaut hatte, noch eine Überraschung?

Böhme verfügte über Informationen, die nur jemand haben konnte, der für den Staatssicherheitsdienst arbeitete, und hatte uns mehrmals gewarnt. Ich ahnte also, dass er ein Spitzel war, deutete seine Warnungen aber als Versuch, uns zu schützen. Dass es Warnungen waren, um unser Vertrauen zu gewinnen, wusste ich nicht. Überrascht haben mich später das Ausmaß der Bespitzelung und das Diabolische dieses Mannes.

Nach der Veröffentlichung seines Buches „Die wunderbaren Jahre“ wurde Reiner Kunze 1976 aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen. Das Buch, das in der Bundesrepublik erschienen war, enthielt eine scharfe Kritik am SED-Regime. 1977 stellte Kunze einen Ausbürgerungsantrag, weil ihm eine langjährige Haft drohte. Der Antrag wurde innerhalb von drei Tagen genehmigt.