Die globale Zeitenwende

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Namensbeitrag des Kanzlers in Foreign Affairs Die globale Zeitenwende

Wie ein neuer Kalter Krieg in einer multipolaren Ära vermieden werden kann – ein Namensbeitrag von Bundeskanzler Olaf Scholz in Foreign Affairs.

25 Min. Lesedauer

Bundeskanzler Olaf Scholz

Bundeskanzler Olaf Scholz

Foto: Bundesregierung/Bergmann

Die Welt erlebt eine Zeitenwende. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine bedeutet das Ende einer Ära. Neue Mächte sind erstarkt oder wiedererstarkt, darunter ein wirtschaftlich starkes, politisch selbstbewusstes China. In dieser neuen multipolaren Welt konkurrieren verschiedene Länder und Regierungsmodelle um Macht und Einfluss.

Deutschland seinerseits tut sein Möglichstes, um die auf den Grundprinzipien der VN-Charta gegründete internationale Ordnung zu verteidigen und zu fördern. Seine Demokratie, seine Sicherheit und sein Wohlstand hängen davon ab, dass Macht an allgemeingültige Regeln gebunden ist. Deshalb strebt Deutschland danach, ein Garant europäischer Sicherheit zu werden, so wie es unsere Verbündeten von uns erwarten, ein Brückenbauer innerhalb der Europäischen Union und ein Verfechter multilateraler Lösungen für globale Probleme. Nur so kann Deutschland erfolgreich die geopolitischen Stürme unserer Zeit überstehen.

Die Zeitenwende geht über den Krieg in der Ukraine und das Thema der europäischen Sicherheit hinaus. Die zentrale Frage lautet: Wie können wir als Europäerinnen und Europäer, als Europäische Union in einer zunehmend multipolaren Welt als unabhängige Akteure bestehen?

Deutschland und Europa können zur Verteidigung der regelbasierten internationalen Ordnung beitragen, ohne sich zugleich den fatalistischen Standpunkt zu eigen zu machen, dass die Welt zwangsläufig wieder in konkurrierende Blöcke zerfallen wird. Angesichts seiner Geschichte kommt meinem Land eine besondere Verantwortung zu, die Kräfte des Faschismus, Autoritarismus und Imperialismus zu bekämpfen. Gleichzeitig haben wir aufgrund der Erfahrung der Teilung unseres Landes im Zuge eines ideologischen und geopolitischen Wettstreits ein besonderes Bewusstsein für die Gefahren eines neuen Kalten Krieges.

Das Ende einer Ära

Für einen Großteil der Welt waren die drei Jahrzehnte seit dem Fall des Eisernen Vorhangs von relativem Frieden und Wohlstand geprägt. Technischer Fortschritt hat zu einem beispiellosen Maß an Vernetzung und Zusammenarbeit geführt. Durch wachsenden internationalen Handel, weltumspannende Wertschöpfungs- und Produktionsketten sowie einen nie dagewesenen Austausch von Menschen und Wissen über Grenzen hinweg haben über eine Milliarde Bürgerinnen und Bürger den Weg aus der Armut gefunden. Vor allem aber haben sich mutige Bürgerinnen und Bürger überall auf der Welt von Diktatur und Einparteienherrschaft befreit. Ihr Streben nach Freiheit, Würde und Demokratie hat den Lauf der Geschichte verändert. Auf zwei verheerende Weltkriege und immenses Leid – das zu einem großen Teil von meinem Land verursacht wurde – folgten über vier Jahrzehnte der Spannungen und Konfrontation im Schatten potenzieller nuklearer Vernichtung. Doch in den 1990er-Jahren schien es, als hätte sich endlich eine widerstandsfähigere Weltordnung etabliert.

Insbesondere die Deutschen konnten sich darüber glücklich schätzen. Im November 1989 wurde die Berliner Mauer von den mutigen Bürgerinnen und Bürger der DDR zu Fall gebracht. Nur elf Monate später war das Land wiedervereinigt – dank weitsichtiger Politikerinnen und Politiker und der Unterstützung von Partnern in Ost und West. Schlussendlich konnte zusammenwachsen, was zusammengehört, wie es der ehemalige Bundeskanzler Willy Brandt kurz nach dem Fall der Mauer ausgedrückt hat.

Diese Worte galten niemals nur für Deutschland allein, sondern auch für Europa als Ganzes. Frühere Mitglieder des Warschauer Paktes entschieden sich, Verbündete im Rahmen der Nordatlantikvertrags-Organisation (NATO) zu werden und der EU beizutreten. Ein Europa, das in den Worten des damaligen US-Präsidenten George Bush „einig und frei“ war, schien keine unbegründete Hoffnung mehr zu sein. In dieser neuen Ära schien es möglich, dass Russland ein Partner des Westens werden könnte anstatt ein Gegner, wie es die Sowjetunion gewesen war. Infolgedessen verkleinerten die meisten europäischen Länder ihre Armeen und kürzten ihre Verteidigungsetats. Für Deutschland schien die Logik einfach: Warum sollte man eine große Streitmacht von rund 500.000 Soldaten unterhalten, wenn all unsere Nachbarn allem Anschein nach Freunde oder Partner waren?

Der Schwerpunkt unserer Sicherheits- und Verteidigungspolitik verschob sich rasch hin zu anderen vordringlichen Bedrohungen. Durch die Balkankriege und die Nachwirkungen der Terroranschläge vom 11. September 2001, einschließlich der Kriege in Afghanistan und Irak, gewann die regionale und globale Krisenbewältigung an Bedeutung. Innerhalb der NATO blieb die Solidarität jedoch ungebrochen: Nach den Anschlägen vom 11. September wurde erstmals beschlossen, den Bündnisfall nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrags auszurufen, und zwei Jahrzehnte lang kämpften NATO-Truppen in Afghanistan Seite an Seite gegen den Terrorismus.

„Die Welt muss nicht zwangsläufig wieder in konkurrierende Blöcke zerfallen.“

Die deutsche Wirtschaft zog ihre eigenen Schlüsse aus den neuen Zeitläufen. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und einer immer stärker integrierten Weltwirtschaft öffneten sich neue Chancen und Märkte, insbesondere in den Staaten des ehemaligen Ostblocks, aber auch in anderen Schwellenländern, allen voran China. Während des Kalten Krieges hatte sich Russland mit seinen enormen Ressourcen als verlässlicher Energie und Rohstofflieferant erwiesen, und es schien daher nur konsequent – zumindest anfänglich –, diese vielversprechende Partnerschaft nun in Friedenszeiten auszubauen. 

Die russische Führung jedoch erlebte die Auflösung der ehemaligen Sowjetunion und des Warschauer Paktes ganz anders als die politische Führung in Berlin und anderen europäischen Hauptstädten und zog daraus auch gänzlich andere Schlüsse. Anstatt den friedlichen Sturz der kommunistischen Herrschaft als Chance für mehr Freiheit und Demokratie zu begreifen, bezeichnete Russlands Präsident Wladimir Putin diesen als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Die wirtschaftlichen und politischen Turbulenzen in Teilen des postsowjetischen Raums in den 1990er-Jahren verschärften das Gefühl von Verlust und Schmerz nur noch weiter, das viele Russinnen und Russen bis heute mit dem Ende der Sowjetunion verbinden.

In diesem Umfeld schließlich begannen autoritäre und imperialistische Bestrebungen wieder aufzuleben. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 hielt Putin eine aggressive Rede, in der er die regelbasierte internationale Ordnung als bloßes Werkzeug amerikanischer Vorherrschaft brandmarkte. Im Jahr darauf führte Russland Krieg gegen Georgien. Im Jahr 2014 besetzte und annektierte Russland die Krim und entsandte Truppen in Teile der im Osten der Ukraine gelegenen Region Donbas – unter eklatanter Verletzung des Völkerrechts und Moskaus eigener vertraglicher Verpflichtungen. In den Folgejahren untergrub der Kreml Rüstungskontrollverträge und baute seine militärischen Fähigkeiten aus, vergiftete und ermordete russische Dissidentinnen und Dissidenten, ging hart gegen die Zivilgesellschaft vor und intervenierte in einem brutalen militärischen Einsatz zugunsten des Assad-Regimes in Syrien. Schritt für Schritt schlug Putins Russland einen Weg ein, der das Land von Europa und von einer auf Zusammenarbeit beruhenden Friedensordnung immer weiter entfernte. 

Das Imperium schlägt zurück

In den acht Jahren nach der rechtswidrigen Annexion der Krim und dem Beginn des Konflikts im Osten der Ukraine konzentrierten sich Deutschland und seine europäischen und internationalen Partner in der G7 darauf, die Souveränität und politische Unabhängigkeit der Ukraine zu sichern, eine weitere Eskalation durch Russland zu verhindern und den Frieden in Europa wiederherzustellen und zu bewahren. Dies sollte mit einer Mischung aus politischem und wirtschaftlichem Druck erreicht werden, der Sanktionsmaßnahmen in Bezug auf Russland mit Dialog verband. Gemeinsam mit Frankreich engagierte sich Deutschland im sogenannten Normandie-Format, das in den Minsker Vereinbarungen und dem entsprechenden Minsker Prozess mündete, durch die Russland und die Ukraine zu einer Waffenruhe und einer Reihe weiterer Schritte aufgerufen wurden. Trotz Rückschlägen und fehlendem Vertrauen zwischen Moskau und Kiew hielten Deutschland und Frankreich den Prozess aufrecht. Doch ein revisionistisches Russland machte diplomatische Erfolge unmöglich.

Russlands brutaler Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 markierte schließlich den Beginn einer grundlegend neuen Realität: die Rückkehr des Imperialismus nach Europa. Russland bedient sich dabei einiger der grausamsten militärischen Methoden des 20. Jahrhunderts und bringt unsägliches Leid über die Ukraine. Abertausende ukrainischer Soldatinnen und Soldaten sowie Zivilistinnen und Zivilisten haben bereits ihr Leben verloren; viele weitere wurden verwundet oder sind traumatisiert. Millionen von Ukrainerinnen und Ukrainern mussten aus ihrer Heimat fliehen und haben in Polen oder anderen europäischen Ländern Zuflucht gesucht; eine Million von ihnen sind nach Deutschland gekommen. Ukrainische Wohnhäuser, Schulen und Kliniken sind durch russische Artillerie, Raketen und Bomben in Schutt und Asche gelegt worden. Mariupol, Irpin, Cherson, Isjum: Diese Orte werden die Welt auf ewig an Russlands Verbrechen erinnern – und die Täter müssen zur Rechenschaft gezogen werden.

Doch die Auswirkungen von Russlands Krieg betreffen nicht nur die Ukraine. Als Putin den Befehl zum Angriff gab, zerstörte er eine europäische und internationale Friedensarchitektur, die über Jahrzehnte errichtet worden war. Unter Putins Führung hat sich Russland über die elementarsten in der VN-Charta verankerten Grundprinzipien des Völkerrechts hinweggesetzt: den Verzicht auf die Anwendung von Gewalt als Mittel internationaler Politik sowie die Verpflichtung zur Achtung der Unabhängigkeit, Souveränität und territorialen Unversehrtheit aller Staaten. In der Manier einer imperialen Macht unternimmt Russland nun den Versuch, Grenzen gewaltsam zu verschieben und die Welt erneut in Blöcke und Einflusssphären zu spalten. 

Ein gestärktes Europa

Die Welt darf nicht zulassen, dass Putin seinen Willen durchsetzt. Wir müssen Russlands revanchistischem Imperialismus Einhalt gebieten. Deutschland kommt jetzt die wesentliche Aufgabe zu, als einer der Hauptgaranten für die Sicherheit in Europa Verantwortung zu übernehmen, indem wir in unsere Streitkräfte investieren, die europäische Rüstungsindustrie stärken, unsere militärische Präsenz an der NATO-Ostflanke erhöhen und die ukrainischen Streitkräfte ausbilden und ausrüsten.

Deutschlands neue Rolle erfordert eine neue strategische Kultur, und die Nationale Sicherheitsstrategie, die wir in wenigen Monaten beschließen werden, wird diesem Umstand Rechnung tragen. In den letzten drei Jahrzehnten wurden Entscheidungen im Hinblick auf Deutschlands Sicherheit und die Ausrüstung der Bundeswehr vor dem Hintergrund eines friedlichen Europas getroffen. Jetzt wird man sich an der Frage orientieren, welchen Bedrohungen wir und unsere Verbündeten in Europa gegenüberstehen, in erster Linie ausgehend von Russland. Dazu gehören potenzielle Angriffe auf das Bündnisgebiet, Cyberkriegsführung und sogar die entfernte Möglichkeit eines nuklearen Angriffs, mit dem Putin auf wenig subtile Weise gedroht hat.

Die transatlantische Partnerschaft ist und bleibt zentral für die Bewältigung dieser Herausforderungen. US-Präsident Joe Biden und seine Regierung verdienen Anerkennung dafür, dass sie auf der ganzen Welt starke Partnerschaften und Bündnisse aufbauen und in diese investieren. Doch eine ausgewogene und widerstandsfähige transatlantische Partnerschaft erfordert auch ein aktives Engagement Deutschlands und Europas. Einer der ersten Beschlüsse, die die Bundesregierung nach Russlands Angriff auf die Ukraine gefasst hat, war die Schaffung eines Sondervermögens in Höhe von 100 Milliarden Euro, um die Bundeswehr besser auszurüsten. Wir haben sogar unser Grundgesetz geändert, damit dieses Vermögen eingerichtet werden kann. Dieser Beschluss markiert die weitreichendste Wende in der deutschen Sicherheitspolitik seit Gründung der Bundeswehr im Jahr 1955. Unsere Soldatinnen und Soldaten erhalten die politische Unterstützung, das Material und die Fähigkeiten, die sie brauchen, um unser Land und unsere Verbündeten zu verteidigen. Das Ziel ist eine Bundeswehr, auf die wir uns und auf die sich unsere Verbündeten verlassen können. Um das zu erreichen, werden wir in Deutschland zwei Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren.

Diese Veränderungen spiegeln ein neues Bewusstsein auch in der deutschen Gesellschaft wider. Heute ist eine große Mehrheit der Deutschen der Ansicht, dass unser Land eine Armee mit der Fähigkeit und der Bereitschaft braucht, Gegner abzuschrecken und sich sowie seine Verbündeten zu verteidigen. Bei der Verteidigung ihres Landes gegen die russische Aggression steht Deutschland an der Seite der ukrainischen Bevölkerung. Von 2014 bis 2020 stammte die größte Summe an privaten Investitionen und staatlicher Unterstützung in der Ukraine aus Deutschland. Seit Beginn der russischen Invasion hat Deutschland seine finanzielle sowie humanitäre Unterstützung für die Ukraine weiter aufgestockt und im Rahmen des deutschen G7 Vorsitzes zur Koordinierung der internationalen Reaktion beigetragen.

„Unsere Botschaft an Moskau ist klar: Wir werden jeden Zentimeter des NATO-Gebiets verteidigen.“

Die Zeitenwende hat die Bundesregierung außerdem dazu veranlasst, einen seit Jahrzehnten bestehenden, fest etablierten Grundsatz deutscher Politik in Bezug auf Rüstungsexporte zu überdenken. Zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte Deutschlands liefern wir heute Waffen in einem Krieg zwischen zwei Staaten. In meinen Gesprächen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky habe ich eines sehr deutlich gemacht: Deutschland wird seine Unterstützung für die Ukraine so lange wie nötig aufrechterhalten. Was die Ukraine heute am Dringendsten braucht, sind Artillerie und Luftabwehrsysteme, und genau solche liefert Deutschland in enger Abstimmung mit seinen Verbündeten und Partnern. Die deutsche Unterstützung für die Ukraine umfasst unter anderem Panzerabwehrwaffen, gepanzerte Truppentransporter, Flugabwehrkanonen und -raketen sowie Radarsysteme zur Artillerieortung. Mit einer neuen EU-Mission werden bis zu 15.000 ukrainische Soldatinnen und Soldaten ausgebildet, davon bis zu 5.000 – eine ganze Brigade – in Deutschland. Derweil haben die Tschechische Republik, Griechenland, die Slowakei und Slowenien der Ukraine rund 100 Kampfpanzer aus Sowjetzeiten zugesagt oder bereits geliefert; Deutschland wird diesen Ländern im Gegenzug instand gesetzte deutsche Panzer zur Verfügung stellen. So erhält die Ukraine Panzer, mit denen die ukrainischen Streitkräfte vertraut sind und Erfahrung haben und die sich leicht in die bestehenden Logistik- und Wartungsprozesse der Ukraine einfügen lassen. 

Das Vorgehen der NATO darf nicht zu einer direkten Konfrontation mit Russland führen, doch das Bündnis muss für glaubhafte Abschreckung gegen weitere russische Aggressionen sorgen. Zu diesem Zweck hat Deutschland seine Präsenz an der NATO-Ostflanke in erheblichem Umfang erhöht, indem wir den von Deutschland geführten gemischten Gefechtsverband der NATO in Litauen verstärkt und eine Brigade aufgestellt haben, die den Schutz des Landes gewährleistet. Deutschland stellt auch Truppen für die NATO-Gefechtsverbände in der Slowakei, und die deutsche Luftwaffe hilft bei der Überwachung und Sicherung des Luftraums über Estland und Polen. Die deutsche Marine wiederum hat sich an den NATO-Aktivitäten zur Abschreckung und Verteidigung in der Ostsee beteiligt. Deutschland wird ferner mit einer Panzerdivision sowie umfangreichen Einsatzmitteln der Luftwaffe und Marine (alle in hoher Bereitschaft) zum neuen Streitkräftemodell der NATO beitragen, das die Fähigkeit des Bündnisses zur schnellen Reaktion auf alle Krisensituationen verbessern soll. Und Deutschland hält an seinem Engagement im Rahmen der Übereinkünfte der NATO zur nuklearen Teilhabe fest, auch durch den Kauf von Kampfjets des Typs F-35 mit dualer Einsatzfähigkeit.

Unsere Botschaft an Moskau ist glasklar: Wir sind entschlossen, jeden Zentimeter des NATO-Gebiets gegen jedwede Aggression zu verteidigen. Wir werden das feierliche Versprechen der NATO einlösen, demzufolge ein Angriff auf einen Bündnispartner als Angriff auf das gesamte Bündnis gewertet wird. Wir haben Russland gegenüber auch deutlich gemacht, dass die jüngsten russischen Äußerungen in Bezug auf Nuklearwaffen fahrlässig und unverantwortlich sind. Bei meinem Besuch in Peking im November waren der chinesische Präsident Xi Jinping und ich uns einig, dass Drohungen in Bezug auf die Anwendung von Kernwaffen inakzeptabel sind und dass der Einsatz solch entsetzlicher Waffen eine rote Linie überschreiten würde, die die Menschheit zu Recht festgelegt hat. Putin sollte sich darüber im Klaren sein.

Zu den vielen Fehleinschätzungen Putins gehörte, darauf zu spekulieren, die Invasion der Ukraine würde die Beziehungen zwischen seinen Gegnern belasten. Tatsächlich ist das Gegenteil eingetreten: Die EU und das transatlantische Bündnis sind stärker als je zuvor. Nichts zeigt dies deutlicher als die beispiellosen Wirtschaftssanktionen, mit denen Russland nun konfrontiert ist. Von Beginn des Krieges an war klar, dass diese Sanktionen lange bestehen bleiben müssen, da sich ihre Wirksamkeit von Woche zu Woche erhöht. Putin muss begreifen, dass keine einzige Sanktion zurückgenommen wird, falls Russland versuchen sollte, die Bedingungen eines Friedensabkommens zu diktieren.

Alle Staats- und Regierungschefinnen und -chefs der G7-Länder haben Selenskys Bereitschaft zu einem gerechten Frieden gewürdigt, der die territoriale Unversehrtheit und Souveränität der Ukraine wahrt und die künftige Selbstverteidigungsfähigkeit der Ukraine sichert. In Abstimmung mit unseren Partnern steht Deutschland bereit, als Teil einer möglichen Friedensregelung nach dem Krieg Vereinbarungen zu treffen, mit denen die Sicherheit der Ukraine langfristig gewahrt wird. Die durch Scheinreferenden nur dürftig kaschierte rechtswidrige Annexion ukrainischen Hoheitsgebiets werden wir hingegen nicht akzeptieren. Damit der Krieg beendet wird, muss Russland seine Truppen abziehen.

Gut für das Klima, schlecht für Russland

Russlands Krieg hat nicht nur EU, NATO und G7 in ihrem Widerstand gegen diese Aggression geeint, sondern auch wirtschafts- und energiepolitische Veränderungen herbeigeführt, die auf lange Sicht schmerzhaft für Russland sein werden – und dem unabdinglichen und bereits eingeleiteten Übergang zu sauberer Energie enormen Auftrieb verschaffen. Gleich nach meinem Amtsantritt als Bundeskanzler im Dezember 2021 habe ich meine Beraterinnen und Berater gefragt, ob es einen Plan für den Fall gibt, dass Russland seine Gaslieferungen nach Europa einstellt. Die Antwort lautete nein – und das, obwohl wir in gefährlicher Weise abhängig von russischem Gas geworden waren.

Wir begannen dann unverzüglich damit, uns auf das Worst-Case-Szenario vorzubereiten. In den Tagen vor der breit angelegten russischen Invasion in der Ukraine hat Deutschland die Zertifizierung von Nord Stream 2 vorläufig ausgesetzt; über diese Pipeline sollten die Lieferungen von russischem Gas nach Europa erheblich erhöht werden. Bereits im Februar 2022 lagen dann Pläne für den Import von Flüssigerdgas (LNG) vom außereuropäischen Weltmarkt auf dem Tisch – und in den kommenden Monaten werden die ersten schwimmenden LNG-Terminals vor der deutschen Küste in Betrieb gehen. 

Das Worst-Case-Szenario trat kurz darauf ein, als Putin beschloss, Energie als Waffe einzusetzen und die Energielieferungen nach Deutschland und Europa zu kappen. Inzwischen hat Deutschland den Import russischer Kohle vollständig auslaufen lassen, und auch die Einfuhr von russischem Öl in die EU wird bald beendet sein. Wir haben unsere Lehren gezogen: Die Sicherheit Europas hängt davon ab, dass es seine Energieversorgung und Versorgungswege diversifiziert und in seine Energieunabhängigkeit investiert. Die Sabotageakte an den Nord-Stream-Pipelines im September haben diese Notwendigkeit noch einmal unterstrichen.

Um mögliche Energieengpässe in Deutschland und Europa insgesamt zu überbrücken, hat die Bundesregierung Kohlekraftwerke vorübergehend wieder ans Netz angeschlossen und ermöglicht, dass deutsche Kernkraftwerke länger laufen als ursprünglich geplant. Wir haben außerdem gesetzlich festgeschrieben, dass in Privatbesitz befindliche Gasspeicher schrittweise höhere Mindestfüllstände aufweisen müssen. Heute sind unsere Speicheranlagen vollständig gefüllt, im Gegensatz zum gleichen Zeitpunkt im letzten Jahr, als die Füllstände ungewöhnlich niedrig waren. Das ist eine gute Ausgangslage für Deutschland und Europa, um ohne Engpässe bei der Gasversorgung durch den Winter zu kommen.

Russlands Krieg hat uns vor Augen geführt, dass das Erreichen dieser ehrgeizigen Ziele notwendig ist, um unsere Sicherheit und Unabhängigkeit wie auch die Sicherheit und Unabhängigkeit Europas zu verteidigen. Die Abkehr von fossilen Energieträgern wird die Nachfrage nach Strom und grünem Wasserstoff steigen lassen, und Deutschland bereitet sich darauf durch eine massive Beschleunigung des Umstiegs auf erneuerbare Energiequellen wie Wind- und Solarenergie vor. Unsere Ziele sind klar definiert: Bis 2030 werden mindestens 80 Prozent des in Deutschland verbrauchten Stroms aus erneuerbaren Energien erzeugt, und bis 2045 soll das Niveau der Treibhausgasemissionen in Deutschland auf Netto-Null sinken, also Klimaneutralität erreicht werden.

Putins schlimmster Albtraum

Putin hatte die Absicht, Europa in Einflusszonen zu unterteilen und die Welt in Blöcke von Großmächten und Vasallenstaaten aufzuteilen. Stattdessen hat sein Krieg einzig dazu geführt, die EU weiter voranzubringen. Auf dem Europäischen Rat im Juni 2022 hat die EU der Ukraine und der Republik Moldau den Status eines Bewerberlands zuerkannt und bekräftigt, dass auch die Zukunft Georgiens in der Europäischen Union liegt. Wir waren uns außerdem darin einig, dass der EU-Beitritt für alle sechs Staaten des Westbalkans endlich Wirklichkeit werden muss – ein Ziel, für das ich mich auch persönlich einsetze. Aus diesem Grunde habe ich den sogenannten Berliner Prozess für die Westbalkanstaaten wiederbelebt, der zum Ziel hat, die regionale Zusammenarbeit zu vertiefen, die Staaten des westlichen Balkans und seine Bürgerinnen und Bürger stärker zusammenzubringen und auf den EU-Beitritt vorzubereiten.

Es ist wichtig klarzustellen, dass eine Erweiterung der EU und die Aufnahme neuer Mitglieder auch mit Schwierigkeiten verbunden sein wird, denn nichts wäre schlimmer, als bei Millionen von Menschen falsche Hoffnungen zu wecken. Doch der Weg steht offen und das Ziel ist klar: eine EU, die aus mehr als 500 Millionen freien Bürgerinnen und Bürgern besteht, den größten Binnenmarkt der Welt bildet, weltweit Standards in den Bereichen Handel, Wachstum, Klimawandel und Umweltschutz setzt und Heimat führender Forschungsinstitutionen und innovativer Unternehmen ist – eine Familie stabiler Demokratien, die von beispielloser sozialer Sicherheit und öffentlicher Infrastruktur profitieren. 

Auf dem Weg der EU hin zu diesem Ziel werden ihre Gegner auch in Zukunft versuchen, Keile zwischen die Mitgliedstaaten zu treiben. Putin hat die EU als politischen Akteur nie akzeptiert. Denn letztlich bildet die EU als eine Union freier, souveräner, demokratischer und auf Rechtsstaatlichkeit beruhender Staaten den Gegenpol zu Putins imperialistischer und autokratischer Kleptokratie. 

Putin und andere werden durch Desinformationskampagnen und Einflussnahme versuchen, unsere eigenen offenen, demokratischen Systeme gegen uns zu wenden. Die Bürgerinnen und Bürger Europas vertreten eine große Vielzahl unterschiedlicher Ansichten, und die politisch Verantwortlichen in Europa diskutieren – und streiten auch ab und an – über die richtige Vorgehensweise, insbesondere in geopolitisch und wirtschaftlich so herausfordernden Zeiten. Doch dies sind Wesensmerkmale unserer offenen Gesellschaften, keine Fehler; sie bilden das Kernstück demokratischer Entscheidungsfindung. Unser Ziel besteht derzeit jedenfalls darin, in zentralen Bereichen, in denen sich Europa durch Uneinigkeit angreifbarer für ausländische Einflussnahme machen würde, den Schulterschluss zu suchen. Von entscheidender Bedeutung für diese Aufgabe ist eine noch engere Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich, die beide dieselbe Vorstellung einer starken und souveränen EU teilen.

Die EU muss ganz allgemein alte Konflikte überwinden und neue Lösungen finden, etwa was die Migration nach Europa oder auch die Fiskalpolitik betrifft. Es werden auch in Zukunft Menschen nach Europa kommen, und Europa braucht Zuwanderung – die EU muss folglich eine Einwanderungsstrategie erarbeiten, die pragmatisch ist und im Einklang mit europäischen Werten steht. Das bedeutet, irreguläre Migration einzudämmen und gleichzeitig legale Wege nach Europa zu stärken, insbesondere für die Fachkräfte, die auf unseren Arbeitsmärkten gebraucht werden. Im Bereich der Fiskalpolitik hat die Union einen Aufbau- und Resilienzfonds aufgelegt, mit dem wir auch auf die aktuellen Herausforderungen aufgrund der hohen Energiepreise reagieren können. Die Union muss im Rahmen ihrer Entscheidungsprozesse auch eigennützigen Blockadetaktiken ein Ende setzen, indem die Möglichkeit abgeschafft wird, dass einzelne Länder ein Veto gegen bestimmte Maßnahmen einlegen können. Bei der Erweiterung der EU und ihrer Entwicklung hin zu einem Akteur mit geopolitischem Gewicht sind schnelle Entscheidungen eine wesentliche Voraussetzung für Erfolg. Aus diesem Grund hat Deutschland vorgeschlagen, in Bereichen, in denen Entscheidungen derzeit einstimmig beschlossen werden müssen, die Praxis des Mehrheitsbeschlusses schrittweise auszubauen, beispielsweise in der EU-Außenpolitik und bei Steuerfragen.

Europa muss auch künftig mehr Verantwortung für seine eigene Sicherheit übernehmen und benötigt einen koordinierten und integrierten Ansatz beim Aufbau seiner Verteidigungsfähigkeiten. Die Streitkräfte der einzelnen EU-Mitgliedstaaten betreiben beispielsweise zu viele unterschiedliche Waffensysteme, was ganz praktisch und auch wirtschaftlich ineffizient ist. Um diese Probleme anzugehen, muss die EU ihre internen bürokratischen Verfahren verändern, und dafür sind mutige politische Entscheidungen vonnöten: Die EU-Mitgliedstaaten, darunter auch Deutschland, müssen ihre nationale Politik und ihre innerstaatlichen Rechtsvorschriften im Hinblick auf den Export gemeinsam produzierter militärischer Systeme anpassen.

Ein Feld, auf dem Europa dringend Fortschritte erzielen muss, ist die Verteidigung im Bereich Luft- und Weltraum. Deshalb wird Deutschland seine Luftverteidigung in den nächsten Jahren im Rahmen der NATO durch den Erwerb zusätzlicher Fähigkeiten stärken. Ich habe diese Initiative auch für unsere europäischen Nachbarn geöffnet. Das Ergebnis ist die European Sky Shield Initiative, der sich im vergangenen Oktober 14 weitere europäische Staaten angeschlossen haben. Eine gemeinsame europäische Luftverteidigung wird wirksamer und kosteneffizienter sein als nationale Alleingänge und ein Paradebeispiel dafür, was es heißt, den europäischen Pfeiler innerhalb der NATO zu stärken.

Die NATO ist der maßgebliche Garant für die euroatlantische Sicherheit und sie wird durch den Beitritt zweier erfolgreicher Demokratien, nämlich Finnland und Schweden, nur noch weiter an Stärke gewinnen. Gestärkt wird die NATO zudem auch, wenn ihre europäischen Mitglieder im EU-Rahmen durch eigene Maßnahmen für größere Kompatibilität ihrer Verteidigungsstrukturen sorgen.

China und andere Herausforderungen

Russlands Angriffskrieg mag die Zeitenwende ausgelöst haben – die tektonischen Verschiebungen sind jedoch viel weitreichender. Das Ende des Kalten Krieges bedeutete nicht, wie von einigen vorausgesagt, das „Ende der Geschichte“. Aber genauso wenig wiederholt sich Geschichte. Viele sind der Auffassung, dass wir am Beginn einer neuen Ära der Bipolarität innerhalb der internationalen Ordnung stehen. Sie sehen einen neuen Kalten Krieg heraufziehen, der die Vereinigten Staaten und China als Gegner in Stellung bringt.

Ich teile diese Ansicht nicht. Ich bin vielmehr der Meinung, dass wir derzeit das Ende einer außergewöhnlichen Phase der Globalisierung erleben und Zeuge eines historischen Wandels sind, der durch externe Schocks wie die Covid-19-Pandemie und Russlands Krieg in der Ukraine zwar beschleunigt, aber nicht allein dadurch ausgelöst wurde. Während dieser außergewöhnlichen Phase haben Nordamerika und Europa 30 Jahre lang stabiles Wachstum, hohe Beschäftigungsquoten und eine niedrige Inflation erlebt; es war eine Zeit, in der die Vereinigten Staaten zur bestimmenden Weltmacht wurden – eine Rolle, die sie auch im 21. Jahrhundert beibehalten werden.

Doch während der Phase der Globalisierung nach dem Kalten Krieg wurde auch China zu dem Global Player, der es bereits früher in der Weltgeschichte über lange Zeiträume gewesen war. Chinas Aufstieg ist weder eine Rechtfertigung für die Isolation Pekings noch für eine Einschränkung der Zusammenarbeit. Aber zugleich rechtfertigt Chinas wachsende Macht auch keine Hegemonialansprüche in Asien und darüber hinaus. Kein Land sollte der Hinterhof eines anderen sein – das gilt für Europa ebenso wie für Asien und jede andere Region. Bei meinem Besuch in Peking vor Kurzem habe ich meine unerschütterliche Unterstützung für die regelbasierte internationale Ordnung, wie sie in der VN-Charta verankert ist, sowie für offenen und fairen Handel zum Ausdruck gebracht. Im Zusammenwirken mit seinen europäischen Partnern wird Deutschland weiterhin gleiche Wettbewerbsbedingungen für europäische und chinesische Unternehmen fordern. China tut in dieser Hinsicht zu wenig und hat erkennbar einen Pfad in Richtung Isolation und weg von Offenheit eingeschlagen.

In Peking habe ich auch die Besorgnis über die wachsende Unsicherheit im Südchinesischen Meer und in der Straße von Taiwan zum Ausdruck gebracht und Chinas Haltung zu Menschenrechten und individuellen Freiheitsrechten angesprochen. Die Achtung der Grundrechte und Grundfreiheiten kann niemals eine „innere Angelegenheit“ eines einzelnen Staates sein, denn alle Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen haben sich dazu bekannt, diese Rechte und Freiheiten zu wahren.

„Chinas Aufstieg ist keine Rechtfertigung für die Isolation Pekings oder eine Begrenzung der Zusammenarbeit.“

Während sich China und die nordamerikanischen und europäischen Staaten an die sich verändernde Realität dieser neuen Phase der Globalisierung anpassen, werden viele Länder in Afrika, Asien, der Karibik und Lateinamerika, die das außergewöhnliche Wachstum der Vergangenheit durch die kostengünstige Produktion von Waren und Rohstoffen überhaupt erst ermöglichten, nach und nach wohlhabender und haben inzwischen einen eigenen Bedarf an Ressourcen, Gütern und Dienstleistungen. Diese Regionen haben jedes Recht darauf, die Chancen, die sich durch die Globalisierung ergeben, zu ergreifen, und im Einklang mit ihrem wachsenden wirtschaftlichen und demografischen Gewicht eine größere Mitsprache in globalen Fragen zu fordern. Das stellt keine Bedrohung für die Bürgerinnen und Bürger in Europa oder Nordamerika dar. Im Gegenteil: Wir sollten diese Regionen zu größerer Beteiligung an der Gestaltung der internationalen Ordnung und zu stärkerer Integration in diese ermutigen. Das ist der beste Weg, den Multilateralismus in einer multipolaren Welt am Leben zu erhalten.

Aus diesem Grund investieren Deutschland und die EU in neue Partnerschaften mit zahlreichen Ländern in Afrika, Asien, der Karibik und Lateinamerika und erweitern bestehende derartige Partnerschaften. Viele dieser Länder haben ein charakteristisches Merkmal mit uns gemein: Auch sie sind Demokratien. Diese Gemeinsamkeit spielt eine entscheidende Rolle – nicht, weil wir Demokratien gegen autoritäre Staaten ausspielen wollen, was nur zu einer neuen Zweiteilung der Welt beitragen würde, sondern weil gemeinsame demokratische Werte und Systeme uns dabei helfen werden, in der neuen multipolaren Realität des 21. Jahrhunderts gemeinsame Prioritäten zu definieren und gemeinsame Ziele zu erreichen. Um eine These des Wirtschaftswissenschaftlers Branko Milanović aufzugreifen, die dieser vor einigen Jahren formuliert hat: Wir mögen alle kapitalistische Staaten geworden sein (vielleicht mit Ausnahme von Nordkorea und einer kleinen Handvoll anderer Länder). Doch es macht einen gewaltigen Unterschied, ob Kapitalismus auf liberale, demokratische Weise oder entlang autoritärer Linien gestaltet ist.

Nehmen wir zum Beispiel nur die weltweite Reaktion auf die Covid-19-Pandemie. In der Anfangsphase der Pandemie wurde teilweise der Standpunkt vertreten, dass autoritäre Staaten geschickter bei der Krisenbewältigung agieren würden, da sie besser auf lange Sicht planen und harte Entscheidungen schneller treffen können. Doch die Erfolgsbilanzen der Pandemiebekämpfung von autoritären Staaten vermögen diese Annahme kaum zu stützen. Die wirksamsten Covid-19-Impfstoffe und -Arzneimittel wurden alle in freiheitlichen Demokratien entwickelt. Darüber hinaus verfügen Demokratien, im Gegensatz zu autoritären Staaten, über die Fähigkeit zur Selbstkorrektur, da Bürgerinnen und Bürger ihre Meinung frei äußern und ihre politischen Führungskräfte frei wählen können. Das fortwährende Debattieren und Hinterfragen, das in unseren Gesellschaften, Parlamenten und freien Medien stattfindet, mag zuweilen erschöpfend sein. Doch es ist genau das, was unsere Systeme langfristig widerstandsfähiger macht.

Freiheit, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Würde jedes einzelnen Menschen sind Werte, die nicht allein auf den Teil der Welt beschränkt sind, der traditionell als „der Westen“ gilt. Sie werden vielmehr von Menschen und Regierungen überall auf der Welt geteilt und in der Präambel der Charta der Vereinten Nationen als grundlegende Menschenrechte bekräftigt. Autokratische und autoritäre Regime stellen diese Rechte und Grundsätze jedoch häufig in Frage oder verweigern sie. Um sie zu verteidigen, müssen die Mitgliedstaaten der EU, darunter Deutschland, enger mit Demokratien auch jenseits des traditionellen „Westens“ zusammenarbeiten. Wir haben die Länder Afrikas, Asiens, der Karibik und Lateinamerikas in der Vergangenheit vermeintlich auf Augenhöhe behandelt. Allzu oft haben unsere Taten dem jedoch widersprochen. Das muss sich ändern. Während des deutschen G7-Vorsitzes 2022 hat die Gruppe ihre Agenda eng mit Indonesien abgestimmt, das im selben Zeitraum den G20-Vorsitz innehatte. Wir haben außerdem Senegal als Vorsitz der Afrikanischen Union, Argentinien als Vorsitz der Gemeinschaft der lateinamerikanischen und karibischen Staaten, unseren G20-Partner Südafrika sowie Indien als nächsten G20-Vorsitz in unsere Beratungen einbezogen.

Letztlich müssen in einer multipolaren Welt Dialog und Kooperation aber auch außerhalb der demokratischen Komfortzone stattfinden. Die neue Nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten verweist zu Recht auf die Notwendigkeit, mit Ländern zusammenzuarbeiten, die demokratischen Institutionen zwar selbst nicht angenommen haben, aber dennoch auf ein regelbasiertes internationales System angewiesen sind und ein solches auch unterstützen. Die Demokratien der Welt werden mit diesen Ländern zusammenarbeiten müssen, um eine Weltordnung zu verteidigen und aufrechtzuerhalten, in der Macht an Regeln gebunden ist und in der revisionistischen Taten wie Russlands Angriffskrieg die Stirn geboten wird. Dafür sind Pragmatismus und ein gewisser Grad an Demut vonnöten.

Der Weg hin zu der demokratischen Freiheit, von der wir heute profitieren, war voller Rückschläge und Misserfolge. Und doch wurden bestimmte Rechte und Grundsätze bereits vor Jahrhunderten etabliert und akzeptiert. Die Formel habeas corpus, der Schutz vor willkürlicher Verhaftung, bezeichnet eines dieser elementaren Rechte – und wurde als erstes nicht etwa von einer demokratischen Regierung, sondern einer absolutistischen Monarchie unter König Karl II. von England anerkannt. Genauso wichtig ist der Grundsatz, dass kein Land mit Gewalt etwas an sich reißen kann, was seinem Nachbarn gehört. Die Achtung dieser fundamentalen Rechte und Grundsätze sollte von allen Staaten, unabhängig von ihrem innerstaatlichen politischen System, verlangt werden.

Phasen relativen Friedens und Wohlstands in der Geschichte der Menschheit, wie eben jene, die ein Großteil der Welt zu Beginn der Ära nach dem Kalten Krieg erlebte, müssen nicht zwangsläufig ein seltenes Intermezzo oder eine bloße Abweichung von einer historischen Norm sein, in der ansonsten brachiale Gewalt die Regeln diktiert. Und auch wenn wir die Zeit nicht zurückdrehen können, so können wir doch die Welle aus Aggression und Imperialismus zurückdrängen. In der komplexen, multipolaren Welt von heute wird diese Aufgabe noch schwieriger. Um sie zu erfüllen, müssen Deutschland und seine Partner in der EU, die Vereinigten Staaten, die G7 und die NATO unsere offenen Gesellschaften verteidigen, für unsere demokratischen Werte eintreten und unsere Bündnisse und Partnerschaften stärken. Wir müssen jedoch zugleich der Versuchung widerstehen, die Welt erneut in Blöcke einzuteilen. Das heißt, unser Möglichstes zu tun, um neue Partnerschaften aufzubauen – auf pragmatische Weise und ohne ideologische Scheuklappen. In unserer aufs Engste vernetzten Welt bedarf es neuer Denkweisen und neuer Werkzeuge, um Frieden, Wohlstand und bürgerliche Freiheiten voranzubringen. Diese Denkweisen und Werkzeuge zu entwickeln – genau darum geht es in letzter Konsequenz bei der Zeitenwende.