„Russland wird technologisch rückständiger werden“

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Interview mit Dr. Janis Kluge „Russland wird technologisch rückständiger werden“

Als Reaktion auf Putins Krieg in der Ukraine hat die EU im Februar 2022 Sanktionen gegen Russland beschlossen. Wie wirksam sind die Sanktionen? Und schaden sie womöglich Deutschland und der EU mehr als Russland? Antworten darauf gibt der Osteuropa-Experte Dr. Janis Kluge von der Stiftung Wissenschaft und Politik.

8 Min. Lesedauer

Portrait von Dr. Janis Kluge. Er trägt ein Hemd mit einem Pullover und eine Brille.

„Die russische Wirtschaft kann die Kooperation mit dem Westen niemals vollständig ersetzen“, sagt Dr. Janis Kluge.

Foto: Dr. Janis Kluge

Herr Kluge, die Energie- und Lebensmittelpreise steigen bei uns, woran liegt das? Sind die EU-Sanktionen gegen Russland schuld daran?

Janis Kluge: Die EU-Sanktionen spielen bei den hohen Preisen für Lebensmittel und Energie kaum eine Rolle. Die EU führt grundsätzlich keine Sanktionen ein, die die Versorgung mit Lebensmitteln treffen könnten. Hierbei begann der Preisanstieg schon im letzten Jahr. Das hatte mehrere Ursachen, wie etwa Dürreperioden und unterbrochene Lieferketten in der Corona-Pandemie.

Russlands Krieg gegen die Ukraine hat die Situation dann noch einmal verschlimmert, weil die Ukraine ein wichtiger Lieferant von Nahrungsmitteln ist. Über mehrere Monate hat die russische Marine die Ukraine am Export gehindert. Inzwischen sind die Preise zumindest im internationalen Handel wieder gesunken und liegen unter dem Niveau vor dem Krieg.

Bei den Energiepreisen muss man differenzieren: Auch der Ölpreis ist bereits vor dem Krieg stark gestiegen, weil die Weltwirtschaft sich von der Corona-Pandemie erholt hat und die wachsende Nachfrage auf ein begrenztes Angebot traf. Der Ölpreis ist heute nicht höher als im Februar, vor dem Krieg. Der Anstieg der Gaspreise hat sich hingegen in den letzten Wochen deutlich verschärft und zieht auch die Strompreise mit nach oben. Die Ursache ist, dass Russland das Angebot von Gas in Europa gezielt verknappt. 

Dr. Janis Kluge ist Wissenschaftler und Osteuropa-Experte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik . Einer seiner Schwerpunkte ist die russische Innenpolitik und die wirtschaftliche Entwicklung Russlands. Sein Blick fällt dabei auch auf das Thema Sanktionen und ihre Wirkung. 

Russland hat seine Gaslieferungen nach Deutschland massiv gedrosselt. Erwarten Sie, dass die Gaslieferungen aus Russland schon bald ganz ausbleiben? Falls ja, kann Russland es sich überhaupt leisten, die Gaslieferungen komplett auszusetzen? 

Kluge: Russland liefert aktuell nur noch 20 Prozent der üblichen Menge durch Nord Stream 1 und hat auch Lieferungen über andere Pipelines gedrosselt oder eingestellt. Der Kreml hält uns bewusst im Unklaren darüber, wie es in den nächsten Wochen weitergeht. Wenn Deutschland besser als erwartet mit den reduzierten Gasmengen zurechtkommt, dann ist damit zu rechnen, dass Putin die Daumenschrauben weiter anzieht und die Gaslieferungen ganz einstellt. 

Aktuell leidet Russland selbst nicht darunter, dass es kaum noch Gas nach Europa verkauft. Wegen der exorbitant hohen Preise verdient Gazprom immer noch gut an den kleinen Restmengen, die es noch liefert. Selbst wenn die Lieferungen nach Deutschland komplett eingestellt würden, wäre das für Russland erst einmal verkraftbar, weil es parallel viel mit dem Ölexport verdient.

Langfristig ist es natürlich ein großes Problem, wenn Gazprom die EU und damit seinen lukrativsten Markt verliert. Aus russischer Sicht ist das aber ohnehin unvermeidbar, schließlich ist es das erklärte Ziel der EU, möglichst schnell von russischer Energie unabhängig zu werden. Für Putin ist es nur noch die Frage, ob das Ende der Gasbeziehungen nach unseren oder nach seinen Regeln abläuft.

Wie bewerten Sie dieses Vorgehen der russischen Seite – welches Ziel verfolgt Russland damit? 

Kluge: Zum einen ist es wichtig für die russische Propaganda, dass die Energiepreise in Deutschland steigen. Im russischen Staatsfernsehen wird sehr viel über hohe Preise und Wirtschaftsprobleme in Deutschland berichtet. Das soll von den viel gravierenderen Schwierigkeiten ablenken, mit denen Russland wegen der Sanktionen zu kämpfen hat.

Zum anderen versucht Russland, den Zusammenhalt der deutschen Gesellschaft zu untergraben und Zwietracht zu sähen. Aus russischer Sicht ist das Drosseln der Gaslieferungen dafür ein probates Mittel, weil man überzeugt ist, dass die Deutschen vom Wohlstand verwöhnt sind und relativ schnell aufgeben werden. Dann hofft Putin, die Sanktionen loszuwerden. Zumindest aber soll die Energiekrise dafür sorgen, dass wir in Europa so sehr mit uns selbst beschäftigt sind, dass wir darüber das Schicksal der Ukraine ein stückweit vergessen.

Die EU hat seit Februar 2022 sechs umfangreiche Sanktionspakete gegen Russland beschlossen. Am 20. Juli wurden diese noch einmal erweitert. Russland behauptet, diese westlichen Sanktionen seien ursächlich dafür, dass weniger Gas nach Deutschland und letztlich nach Europa geliefert werden kann…

Kluge: Diese Behauptung ist nicht richtig. Die EU-Sanktionen enthalten explizite Ausnahmeregeln, die verhindern sollen, dass die Gasversorgung der EU beeinträchtigt wird. Wenn es dennoch zu unerwarteten Hindernissen durch die Sanktionen käme, könnten die auch kurzfristig ausgeräumt werden.

Im Fall der angeblich von Gazprom dringend für den Betrieb von Nord Stream 1 benötigten Gasturbine hat die Bundesregierung das getan. Es hat sich dabei erneut gezeigt, dass die von der russischen Seite vorgebrachten technischen Gründe nicht das eigentliche Problem sind.

Wenn Russland mehr liefern wollte, könnte es das jederzeit und auf vielen Wegen tun. Gazprom könnte zum Beispiel mehr Gas durch die Ukraine pumpen. Hier hat das Unternehmen Kapazitäten gebucht, die es sogar bezahlt, aber nicht nutzt. Die angespannte Situation auf dem europäischen Gasmarkt führt Russland also gezielt herbei.

Das begann übrigens schon im Frühjahr 2021, parallel zu dem ersten großen Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze. Seitdem standen Gazproms Speicher in Deutschland leer und die Gaspreise in Europa stiegen immer weiter. Inzwischen stehen die Speicher unter der Kontrolle der Bundesnetzagentur und werden wieder gefüllt.

Die Sanktionen sollen in erster Linie mittel- und langfristig wirken. Gibt es bereits jetzt Auswirkungen auf Russland? Und gibt es dazu bereits verlässliche Zahlen, die den wirtschaftlichen Schaden Russlands Stand heute beziffern? 

Kluge: Ja, die Statistiken sprechen da eine eindeutige Sprache. Die russische Wirtschaft ist von Februar bis Juni 2022 um rund 6,5 Prozent geschrumpft. Man geht in Russland davon aus, dass diese Talfahrt sich bis ins nächste Jahr fortsetzt. Allerdings ist die Wirkung der Sanktionen sehr ungleich verteilt.

In einigen Sektoren der russischen Wirtschaft, wie etwa der Luftfahrt oder der Autoindustrie, geht aktuell fast gar nichts mehr. Der Konsum ist ebenfalls eingebrochen, auch wenn die vollen Restaurants in Moskau das auf den ersten Blick nicht vermuten lassen. Das Geschäft mit dem Erdöl brummt aber weiterhin und auch das wenige Gas, das noch geliefert wird, bringt viel Geld. Deshalb steht auch der Staatshaushalt noch relativ gut da, trotz der Ausgaben für den Krieg und großer Hilfspakete, die wegen der Sanktionen geschnürt werden müssen. 

Welche Auswirkungen auf die russische Wirtschaft sind als nächstes zu erwarten? 

Kluge: Der Abstieg der russischen Wirtschaft setzt sich weiter fort, aber es wird keinen plötzlichen Zusammenbruch geben. Stattdessen wird es immer wieder zu Knappheiten kommen, weil die Lagerbestände von westlichen Gütern langsam erschöpft sind. Auch der Maschinenpark der russischen Industrie, der größtenteils importiert ist, kann in vielen Unternehmen nicht mehr erneuert werden und verschleißt nach und nach.

Wenn das EU-Ölembargo ab Ende des Jahres schrittweise in Kraft tritt, wird es auch für den Energieexport schwieriger werden. Natürlich suchen alle russischen Unternehmen und die russische Regierung gerade händeringend nach alternativen Lieferanten und Absatzmärkten. Auch wenn das zum Teil erfolgreich ist: Die russische Wirtschaft kann die Kooperation mit dem Westen niemals vollständig ersetzen. Russland wird deshalb in den kommenden Jahren deutlich ärmer und technologisch rückständiger werden.

Was würden Sie Menschen sagen, die der Meinung sind, dass die Sanktionen Deutschland und die EU härter treffen als Russland? 

Kluge: Ich würde die offiziellen Zahlen zur Entwicklung der russischen und deutschen Wirtschaft nebeneinanderlegen. Während Russland in einer tiefen Rezession steckt, ist Deutschland in diesem und nächstem Jahr unterm Strich immer noch auf Wachstumskurs.

Ein ganz wesentlicher Unterschied ist, dass die wirtschaftlichen Probleme in Russland nicht offen diskutiert werden können. Es gibt keine Opposition, die das wirtschaftspolitische Versagen Putins anprangert. Bei uns wird dagegen offen darüber gestritten, ob Sanktionen richtig oder falsch sind. Das ist eine Stärke unseres politischen Systems, die aber manchmal den Eindruck erweckt, als hätten die deutsche Wirtschaft und die deutsche Bevölkerung viel mehr Probleme als die russische. Die russische Propaganda verstärkt diesen Eindruck noch.

Gleichzeitig müssen wir aber darauf vorbereitet sein, dass die deutsche Wirtschaft im Winter schrumpfen könnte, und die Gaspreise weiter steigen, wenn Putin den Gashahn vollständig zudreht, oder wenn sich Deutschland entscheidet, kein russisches Gas mehr zu kaufen. So eine Krise wäre aber in Deutschland vorübergehend, und der Staat könnte gezielt gegensteuern, während sich die russische Wirtschaft unter Sanktionen nie wieder ganz erholen kann. 

Mit welchen Mitteln können wir Putin am besten zeigen, dass sich Krieg nicht lohnt? Und welchen Preis müssen auch wir in Deutschland bereit sein, dafür zu zahlen? 

Kluge: Putin hat in den vergangenen 20 Jahren viele Kriege geführt, und sie haben sich alle für ihn gelohnt. Er ist als Feldherr des zweiten Tschetschenien-Krieges zum Präsidenten gewählt worden. Die russischen Kriege gegen Georgien im Jahr 2008, gegen die Ukraine ab 2014 und gegen die syrische Opposition ab 2015 waren aus Putins Sicht alle erfolgreich. Ich glaube, wir können ihn jetzt nicht mehr davon überzeugen, dass Kriege führen sich nicht lohnt.

Wir können nur alles dafür tun, den russischen Vormarsch in der Ukraine zu stoppen. Dafür haben wir drei Mittel: Sanktionen gegen Russland, die langfristig wirken. Waffenlieferungen, die sofort einen Unterschied machen. Und natürlich wirtschaftliche Unterstützung für die Ukraine, damit der Staat und die Gesellschaft nicht unter der Last des Krieges zusammenbrechen. Welchen Preis wir dafür in Deutschland bezahlen sollten, ist eine persönliche Frage, die jeder für sich selbst beantworten muss.

Aus meiner Sicht geht es gerade aber um sehr viel. Wenn Putins Krieg gegen die Ukraine erfolgreich ist, dann ist die europäische Friedensordnung Makulatur. Damit wäre langfristig auch die Grundlage unseres Wohlstands dahin. Vor allem aber wären wir an unserer historischen Verantwortung gescheitert, nie wieder imperialistische Kriege in Europa zuzulassen.