"Die Vielfalt ist eine Stärke Deutschlands"

Französische Perspektive auf 30 Jahre Deutsche Einheit "Die Vielfalt ist eine Stärke Deutschlands"

Der Franzose Pascal Thibaut hat die deutsche Wiedervereinigung in Berlin hautnah miterlebt. Damals wie heute gibt er als Auslandskorrespondent seine Sicht auf die Bundesrepublik an seine Landsleute weiter. Wie er die Deutsche Einheit sieht was er den Deutschen zu diesem wichtigen Jubiläum wünscht, erzählt Thibaut im Interview.

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Ein mann steht vor dem Brandenburger Tor.

Pascal Thibaut ist Deutschlandkorrespondent von Radio France Internationale und lebt seit 1990 in Berlin.

Foto: Screenshot/Bundesregierung

Herr Thibaut, was ist das Erste, was Ihnen einfällt, wenn Sie an Deutschland denken – verbinden Sie eine persönliche Anekdote mit unserem Land?

Pascal Thibaut: Am 22. Dezember 1989 stand ich hier am Brandenburger Tor, als es wiedereröffnet wurde. Es war sehr voll und ein historisches Ereignis, das für mich persönlich einen Bogen zu meiner frühsten Kindheit spannt: Auf einem alten Familienfoto liege ich als Baby in den Armen eines älteren deutschen Herren. Eine Familie aus unserer Städtepartnerschaft Gundersheim in Rheinland-Pfalz war zu Gast bei uns in Selongey nahe Dijon. Hinter diesem Mann, der im Krieg als Soldat diente, steht mein Großonkel, der in deutscher Kriegsgefangenschaft war. So sieht Versöhnung im Kleinen aus.

Wie erleben Sie das geeinte Deutschland nach 30 Jahren Wiedervereinigung?

Thibaut: 30 Jahre nach der Wiedervereinigung ist Deutschland von außen betrachtet eine Nation wie viele andere. Gleichzeitig gibt es nach drei Jahrzehnten immer noch viele Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland – kulturell, sozial, politisch. Diese zu beleuchten, ist eine sehr interessante Aufgabe für einen Auslandskorrespondenten.

Welche Wirkung hatte die Wiedervereinigung in Deutschland Ihrer Meinung nach auf Europa?

Thibaut: Die deutsche Wiedervereinigung hat den europäischen Einigungsprozess beschleunigt. Zu nennen sind hier beispielsweise der Maastricht-Vertrag, die Einführung des Euro unter Mitterrand und Kohl und die EU-Osterweiterung.

Die deutsche Wiedervereinigung hat aber auch das Gleichgewicht innerhalb des Kontinents verändert. Viele Länder, so auch meine französische Heimat, sahen nach dem Kalten Krieg ihre besondere Stellung in Frage gestellt. Frankreich musste plötzlich sehen, wie es mit diesem größeren und stärkeren Nachbarn zurechtkommt. Das hat das deutsch-französische Verhältnis geprägt.

Was bedeutet Deutschland konkret für Ihr Heimatland – kennen Sie die Wünsche an Deutschland für die Zukunft?

Thibaut: Für meine Heimat Frankreich ist Deutschland der wichtigste Partner. Es gibt keine zwei Länder auf dieser Welt, die auf allen Ebenen so viele Kontakte pflegen: politisch, zivilgesellschaftlich, kulturell, sportlich. Gleichzeitig gibt es insbesondere auf französischer Seite Unkenntnisse, die dazu führen, dass sich Missverständnisse entwickeln und alte Vorurteile wiederauftauchen. Genauso wie Deutschland noch an der Vollendung der menschlichen Wiedervereinigung arbeiten muss, müssen auch Deutschland und Frankreich noch an ihren Beziehungen arbeiten.

Was ist Ihrer Meinung die größte Schwäche und die größte Stärke der Deutschen?

Thibaut: Die größte Schwäche Deutschlands ist sicherlich die Neigung, das deutsche Modell als das Beste zu betrachten. Das beschleunigt Reformen nicht unbedingt und manche im Ausland erachten das als arrogant. Eine Stärke Deutschlands ist die Fähigkeit, Probleme anzupacken und viele Akteure zusammenzutrommeln, damit man Kompromisse findet, die dann gelten und das Land vorwärtsbringen. 

Was wünschen Sie den Deutschen abschließend für die nächsten 30 Jahre Einheit?

Thibaut: Für die nächsten 30 Jahre Einheit kann man nur hoffen, dass Deutschland menschlich wiedervereinigt wird und das Trennende zwischen Ost und West in den Hintergrund tritt. Oder zumindest, dass die Unterschiede genauso unwichtig werden wie andere regionale Unterschiede in der Bundesrepublik – wie zwischen Nord und Süd oder Bayern und Nordrhein-Westfalen. Die Vielfalt ist eine Stärke Deutschlands, selbst wenn das Land auch Schwächen hat. 

Pascal Thibaut ist seit 1997 Deutschlandkorrespondent von Radio France Internationale. Zuvor war er als freier Journalist tätig. Er war von 2009 bis 2010 und von 2014 bis 2020 Vorsitzender des Vereins der Ausländischen Presse in Deutschland. Thibaut, der seit 1990 in Berlin lebt und arbeitet, studierte am renommierten Institut d'études politiques de Paris (Sciences Po) und schloss ein Journalismusstudium am Centre de formation des journalistes (CFJ) in Paris ab.