"Vorlesen ist wichtig für die Lebenschancen von Kindern"

Interview zum Vorlesetag "Vorlesen ist wichtig für die Lebenschancen von Kindern"

Am Bundesweiten Vorlesetag macht die Stiftung Lesen darauf aufmerksam, wie wichtig Vorlesen für Kinder ist. Im Interview spricht Simone Ehmig vom Institut für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen darüber, warum Eltern schon mit Kleinkindern lesen sollten, das Image von Büchern - und wie die Digitalisierung unsere Gewohnheiten verändert.

3 Min. Lesedauer

Drei Grundschülerinnen lesen in einem Schulbuch.

Mädchen lesen in einem Schulbuch: Der Bundesweite Vorlesetag soll Eltern und Kinder motivieren.

Foto: mauritius images

Welches Ziel verfolgt die Stiftung Lesen mit ihrer Arbeit?

Simone Ehmig: Wir wissen, dass sich die Bildungsbenachteiligung von Generation zu Generation fortzusetzen droht, wenn man es nicht schafft, Kinder von klein auf gute Bildungschancen zu ermöglichen. Aus diesem Grund möchten wir von der Stiftung Lesen von Anfang an dafür sorgen, dass Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene Zugang zum Lesen erhalten. Deshalb machen wir – in Kooperation mit unseren Partnern – unterschiedliche Projekte oder Aktionen wie den Bundesweiten Vorlesetag.

Der Bundesweite Vorlesetag findet zum 16. Mal statt – warum ist vorlesen und lesen so wichtig?

Ehmig: Kinder, die frühzeitig Lesekompetenz erlernen, kommen mit einem klaren Vorteil in die Schule. Deshalb ist es so wichtig, dass man auch schon bei den ganz Kleinen anfängt. Es genügt schon, gemeinsam Bilderbücher anzuschauen. So kann man Kleinkindern zeigen, dass beispielsweise der Ball eben Ball heißt und dass er rund ist. Auf diese Weise lernen sie beiläufig Wörter kennen und stellen eine Verknüpfung zwischen Wort, Klang und Inhalt her. Kinder lernen über diesen spielerischen Einstieg, das Betrachten und das Erzählen, später das richtige Lesen. 

Simone Ehmig

Prof. Dr. Simone Ehmig leitet das Institut für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen in Mainz. Zudem unterrichtet sie Publizistik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Foto: Stiftung Lesen

Wird denn überhaupt noch vorgelesen?

Ehmig: 32 Prozent der Kinder zwischen zwei und acht Jahren bekommen von ihren Eltern nicht oder nur selten vorgelesen. Das ist ein Ergebnis aus unserer eigenen Vorlesestudie. Die Grundlagen für Lesekompetenzen werden schon in sehr frühen Jahren gelegt. Deshalb empfehlen wir allen Eltern, jeden Tag 15 Minuten vorzulesen. Das reicht schon als Impuls. Und da kommen wir wieder zurück zum Bundesweiten Vorlesetag: Dieser Tag soll eben nicht nur dafür stehen, dass man vorliest, sondern aufzeigen, wie wichtig das Vorlesen für die Lebenschancen von Kindern ist. Er soll Eltern und Kinder motivieren.

Lesen ist die Grundlage für gute Bildung und gesellschaftliche Teilhabe. Deshalb finanziert das Bundesbildungsministerium das bundesweite Leseförderprogramm "Lesestart – Drei Meilensteine für das Lesen" für Familien mit Kindern im Alter von einem, zwei und drei Jahren. Durchgeführt wird es von der Stiftung Lesen.

Wie steht es in Zeiten der Digitalisierung um das Leseverhalten der Menschen?

Ehmig: Grundsätzlich: Digitalisierung geht nicht auf Kosten des Lesens. Das ist ein ganz klarer Befund, den man in allen Studien sieht. Wir haben seit Ende der 1990er-Jahre kontinuierliche Erhebungen zum Bücherlesen. Da sieht man, etwa bei denjenigen, die mehrmals in der Woche oder jeden Tag lesen, dass sich bis heute so gut wie nichts geändert hat. Die Vorstellung, dass alle Menschen nur noch digitale Medien nutzen und niemand mehr Gedrucktes liest, geht an der Realität vorbei.

Was hat sich denn durch die Digitalisierung verändert?

Ehmig: Die Zeiten, die wir faktisch mit Lesen im Sinne einer Basiskompetenz verbringen, haben zugenommen. Wir lesen mehr in unserem Alltag als jemals zuvor. Das liegt daran, dass wir digital basierte Kommunikationsinstrumente nutzen: Auf jedem Bildschirm über dem wir beispielsweise eine Fahrkarte kaufen, über jede Anzeige am Bahnhof, über Nachrichten-Dienste am Smartphone oder E-Mails werden wir damit konfrontiert. Wir lesen deshalb den ganzen Tag, ohne dass es uns bewusst ist.

Lesen hat bei vielen jungen Menschen ein schlechtes Image. Woran liegt das?

Ehmig: Das Leseimage ist ein ganz wichtiger Punkt. Der hängt nämlich damit zusammen, was man eigentlich unter Lesen versteht. Wenn wir uns über das Lesen unterhalten, dann verknüpfen wir diesen Begriff häufig mit Büchern, mit guter Literatur oder besonders langen Texten. Es gibt also eine Kontroverse um das "richtige" Lesen - und das "Alltagslesen". Viele meinen,  das "Alltagslesen" wäre nicht "richtiges" Lesen. Das trifft aber nicht zu, denn wir lesen sehr viel mehr als nur in Büchern.

Wie kann man diesem Trend entgegenwirken?

Ehmig: Man muss die richtigen Impulse setzen und den Lesebegriff zweiseitig betrachten. Wir haben deshalb ein Projekt ins Leben gerufen, das sich "Zeitschriften an Schulen" nennt. Schulklassen verschiedener Jahrgangsstufen können sich anmelden und erhalten ein Zeitschriftenpaket mit einer breit gefächerten Auswahl. Viele Jugendliche sagten uns: 'Das macht Spaß, wir hatten vorher gar nicht auf dem Schirm, dass das auch Lesen ist.' Dieses Ergebnis zeigt uns, dass man das Image des Lesens mit guten Angeboten verändern kann.

Die Stiftung Lesen  steht unter Schirmherrschaft des Bundespräsidenten und wird von zahlreichen prominenten Lesebotschaftern unterstützt.