Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus - G

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Sehr geehrter Herr Bundespräsident!
Frau Bundeskanzlerin!
Herr Bundesratspräsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrte, liebe Frau Deutschkron!
Verehrte Gäste! Meine Damen und Herren!

Der 30. Januar ist nicht irgendein Datum. Heute vor 80 Jahren, am 30. Januar 1933, wurde Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. Damit begann das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte. Die Nationalsozialisten übernahmen an diesem Tag die Macht in Deutschland und liquidierten innerhalb weniger Wochen die erste Demokratie auf deutschem Boden. Fast exakt zwölf Jahre später, am 27. Januar 1945, befreite die Rote Armee das Vernichtungslager Auschwitz, das zum Symbol des Zivilisationsbruchs, menschenverachtender Brutalität und eines staatlich organisierten Völkermords geworden ist. Beide Daten trennen nur zwölf Jahre – und eine Ewigkeit des Grauens.

Am Ende des von Deutschland entfesselten Vernichtungskrieges und des nationalsozialistischen Rassenwahns lag fast ganz Europa in Trümmern, nicht nur materiell; tiefer als die mit bloßem Auge sichtbaren Ruinen europäischer Städte reichten die unermesslichen seelischen und geistigen Verwundungen.

Wir gedenken heute aller Opfer der verbrecherischen Ideologie des Nationalsozialismus, aller Menschen, die um ihre materielle, seelische und physische Existenz gebracht und ihrer Würde beraubt wurden, der Verfolgten, Gemarterten, Gedemütigten, Ermordeten. Wir gedenken der europäischen Juden, der Sinti und Roma, der zu „Untermenschen“ degradierten slawischen Völker, der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, dem Hungertod preisgegebenen Kriegsgefangenen, der Opfer staatlicher Euthanasie, der Homosexuellen, aller, die sich aus religiösen, politischen oder schlicht menschlichen Beweggründen dem Terror widersetzten und deswegen der totalitären Staatsgewalt zum Opfer fielen. Wir gedenken Millionen und Abermillionen Toten.

Wir gedenken auch der Überlebenden, derjenigen, die an dem Grauen der Unmenschlichkeit seelisch zerbrochen sind, die, wie der Schriftsteller Jean Améry einmal sagte, nach der Schoah in dieser Welt nicht mehr heimisch werden konnten.

Wir denken heute auch an alle, deren Familien damals ausgelöscht wurden – ein Schicksal, das auch die Familie von Inge Deutschkron erlitt. Verehrte Frau Deutschkron, ich begrüße Sie herzlich hier im Deutschen Bundestag.

Seit 1996 begehen wir den Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz als nationalen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Wir gedenken ihrer im Parlament, im wichtigsten Forum der deutschen Demokratie. Der Reichstag ist ein stummer Zeuge der Demontage unserer ersten Demokratie vor 80 Jahren. Deshalb ist er der richtige Ort, um öffentlich als Staat und Gesellschaft den Toten Ehre zu erweisen und gleichzeitig den Willen zu bekunden, alles zu tun, damit eine ähnliche menschengemachte und staatlich organisierte Katastrophe sich nie mehr ereignen kann.

Deshalb ist es gut, dass diese Veranstaltung von Phoenix übertragen wird. Noch schöner wäre es, wenn es auch ARD und ZDF, wie wir, wichtig genug fänden, dieses gemeinsame jährliche Gedenken und den politischen Willen aller Demokraten einer breiten Öffentlichkeit im Hauptprogramm öffentlich-rechtlicher Sendeanstalten zu vermitteln.

Der Weg nach Auschwitz begann mit der Zerstörung der Demokratie und der anschließenden verbrecherischen Pervertierung legitimer Macht in Willkür und Despotie. Und wir wissen auch: Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten war kein Betriebsunfall in unserer Geschichte; sie war weder zufällig noch zwangsläufig. Die Selbstaufgabe der Weimarer Demokratie ist und bleibt eine Warnung und Verpflichtung für die Nachgeborenen.

Dieses Bewusstsein wachzuhalten und zu vermitteln, hat Inge Deutschkron zu ihrer ganz persönlichen Mission gemacht. Sie hat die nationalsozialistische Diktatur, als Unrecht zum geltenden Recht wurde, erlebt und erlitten. In Ihrem Buch Ich trug den gelben Stern beschreiben Sie, verehrte Frau Deutschkron, die Situation in Berlin in den 30er-Jahren und während des Krieges – wie die Diskriminierung und die Schikanen gegen die Juden immer perfidere, zynischere Formen angenommen haben, wie die Existenzängste und schließlich die blanke Todesangst zu täglichen Begleitern der Entrechteten wurden. Ihre Erinnerungen, die als Theaterstück unter dem Titel „Ab heute heißt du Sara“ viele, vor allem junge Menschen beeindruckt haben, sind ein wertvolles aufklärerisches Zeugnis.

Wir leben in Deutschland heute in einer gefestigten, selbstbewussten Demokratie. Aber wir wissen auch: Diese Demokratie ist uns nicht ein für alle Mal geschenkt, sondern muss täglich gestaltet, mit Leben erfüllt und – ja – auch verteidigt werden. Wie bitter nötig das auch heute ist, haben uns in jüngster Zeit die unglaubliche, entsetzliche sogenannte NSU-Mordserie und antisemitisch motivierte Gewalttaten gezeigt.

„Alles, was das Böse benötigt, um zu triumphieren, ist das Schweigen der Mehrheit“, hat der frühere UN-Generalsekretär Kofi Annan einmal im Hinblick auf die nationalsozialistische Gewaltherrschaft gesagt. Das Wissen um die Vergangenheit ist daher auch und gerade eine verbindliche Verpflichtung für alle Demokraten, ihre Stimme - unsere Stimme - gegen jegliche Ansätze und Formen von Ausgrenzung, Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit zu erheben und danach zu handeln.

Erinnerung lebt vor allem von der Unmittelbarkeit des Erlebten. Mit den Zeitzeugen der damaligen Ereignisse schwindet der unmittelbare Zugang zur Vergangenheit. Umso wichtiger sind neue Formen der Erinnerung. Elie Wiesel, Friedensnobelpreisträger, selbst Überlebender des Holocaust, Redner im Deutschen Bundestag am 27. Januar 2000, hat diese Aufgabe einmal so beschrieben: „… eine Generation von Zeugen von Zeugen von Zeugen zu bilden.“

Genau dies geschieht bei der jährlichen Jugendbegegnung auf Einladung des Deutschen Bundestages. Ich freue mich, dass auch in diesem Jahr 80 junge Leute aus verschiedenen Ländern unserer Einladung gefolgt sind, und begrüße die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die sich in den vergangenen Tagen intensiv mit der Schoah in der Ukraine auseinandergesetzt haben.

Sie trafen in Kiew Zeitzeugen von Massenerschießungen, sprachen mit ehemaligen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen.

Der Holocaust im Osten, vor allem in der Ukraine und in Weißrussland, gehörte lange zu den wenig erforschten Kapiteln des Zweiten Weltkrieges. Durch generalstabsmäßig organisierte Massenerschießungen wurden allein in der Ukraine rund 1,5 Millionen Juden ermordet und in Gruben verscharrt. Fast jedes Dorf wurde Zeuge dieser Tragödie. Erschütternd sind die übereinstimmenden Berichte der Kinder und Jugendlichen von damals, dass sich die Erde über den Massengräbern noch tagelang nach den Erschießungen bewegt habe, weil manche Opfer noch lebten. Erst in den vergangenen zehn Jahren wurden Hunderte dieser Massengräber der Anonymität entrissen – durch einen Franzosen, den Priester Patrick Desbois, den ich unter den Gästen unserer heutigen Veranstaltung besonders herzlich begrüße.

Wie Auschwitz als Chiffre für den fabrikmäßigen Mord in vielen nationalsozialistischen Vernichtungslagern steht, so ist die größte einzelne Mordaktion des Zweiten Weltkrieges in Babij Jar bei Kiew zum Symbol des Völkermordes durch Gewehrkugeln geworden. Am 29. und 30. September 1941 wurden in dieser Schlucht 33 771 ukrainische Juden erschossen, wie es mehrere deutsche Berichte aus dieser Zeit mit akribischer Präzision festhalten. Bis November 1943 wurden in dieser Schlucht weit mehr als 100 000 Menschen ermordet, darunter Ukrainer, Russen, Weißrussen.

Deutschland ist sich seiner Verantwortung bewusst. Sie drückt sich nicht zuletzt in dem neuen Entschädigungsabkommen aus, das die Bundesrepublik und die Jewish Claims Conference im vergangenen November unterzeichnet haben, nachdem die Holocaust-Überlebenden aus Osteuropa lange auf eine materielle Anerkennung ihrer Verfolgung und Leiden warten mussten.

Die Jugendbegegnungen belegen jedes Jahr aufs Neue: Es gibt bei jungen Menschen ein großes Interesse, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Und es gibt ein großes Bedürfnis, zu fragen: Was ist damals geschehen, und warum? Wie konnte es dazu kommen? Inge Deutschkron gehört zu denen, die darüber reden, aus eigenem Erleben. Sie ist eine von den etwa 1 700 geretteten Berliner Juden, die sich der Deportation in den sicheren Tod entziehen konnten, weil sie von nichtjüdischen Bürgern dieser Stadt Hilfe erfahren haben.

Die Erfahrung als Verstoßene, Todgeweihte und Gejagte hat Inge Deutschkron geprägt – auch in ihrer journalistischen und schriftstellerischen Arbeit, wie auch in ihrem unermüdlichen Engagement gegen das Vergessen. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Erinnerung an den Holocaust in Deutschland lebendig zu halten und dabei auch jene Helferinnen und Helfer bekannt zu machen, die Zivilcourage gezeigt und Verfolgte gerettet haben.

Verehrte Frau Deutschkron, es ist Ihr großes Verdienst, dass Sie im Sinne Elie Wiesels Ihre Erlebnisse an junge Menschen weitergeben und ihnen am Beispiel der sogenannten stillen Helden zeigen, dass es auch in Zeiten des Terrors möglich war, Menschlichkeit zu beweisen. Sie tragen dazu bei, eine Generation der Zeugen von Zeugen zu bilden.

Ich danke Ihnen, dass Sie der Einladung zu dieser Gedenkstunde gefolgt sind und zu uns sprechen werden.

In diese Gedenkstunde haben uns Klänge der Synagogalmusik von Louis Lewandowski eingestimmt, der im 19. Jahrhundert die alte jüdische Tradition meisterhaft mit der abendländischen Harmonik zu einem neuen Ganzen verband. Auf seinem Grabstein in der Ehrenreihe des Berliner Friedhofs in Weißensee steht geschrieben: „Liebe macht das Lied unsterblich!“ Seine Sakralmusik sollte ausgetilgt werden, doch sie lebt wieder. Ich danke herzlich dem Synagogal Ensemble Berlin, das die Tradition jüdischer Musik bis heute in Gottesdiensten und Konzerten lebendig hält.

Wir werden nun das traditionelle Gebet El Male Rachamim hören, das mit Nennung der Namen einiger Konzentrationslager zum Gedenken an die Opfer des Holocaust gesungen wird.

Ich möchte Sie bitten, sich dazu von den Plätzen zu erheben.