Sélitrenny: Die Montagsdemonstrationen waren der Auftakt

  • Bundesregierung ⏐ Startseite
  • Deutsche Einheit

  • Schwerpunkte

  • Themen   

  • Bundeskanzler

  • Bundesregierung

  • Aktuelles

  • Mediathek

  • Service

Frau Sélitrenny, Sie haben an den Leipziger Montagsdemonstrationen teilgenommen...

Ja, aber an den 9. Oktober 1989 erinnere ich mich nicht mehr wirklich. Unabhängig davon, dass es 20 Jahre her ist, ist der Tag für mich ganz stark von den Berliner Ereignissen am 7. Oktober 1989 überlagert, wo die Polizei ja wirklich prügelnd durch die Stadt gezogen ist. Ich war 7. und 8. Oktober in Berlin, weil ich dort gearbeitet habe, und habe einen ganz starken Eindruck von dem Kesseltreiben der Polizei in Berlin nach Hause mitgenommen.

In den Vorwochen hatten Stasi und Polizei ja auch in Leipzig zugeschlagen und etliche Demonstrationsteilnehmer verhaftet. Hat Sie das alles nicht abgeschreckt?

Doch, es hat mich abgeschreckt. Zumal ich wegen eines Bänderrisses Ende Juli bis September 1989 auf zwei Krücken durch Leipzig gelaufen bin. Irgendwann habe ich bei einer Montagsdemonstration vor der Nikolaikirche gestanden. Zwischen mir und dem Zugang zur Kirche stand die Polizei und sperrte – mit dem Rücken zu mir – die Straße ab. Da weiß ich ganz genau, dass ich nicht durchgegangen bin. Ich hatte viel zu viel Angst, dass ich mit meinen zwei Stöcken unterm Arm überhaupt nicht beweglich gewesen wäre.

Warum sind Sie damals überhaupt auf die Straße gegangen?

Ich war schon lange in kirchlichen Oppositionsbewegungen, war im katholischen Friedenskreis Leipzig-Grünau und in der Initiative für Frieden und Menschenrechte (IFM) engagiert und sehr eng mit Christoph Wonneberger [Pfarrer an der Lukaskirche – die Redaktion] befreundet.

Welche politischen Gründe gab es?

Vielleicht, ganz vereinfacht gesagt, das Gefühl, eingesperrt zu sein. Fast alle meine Verwandten väterlicherseits lebten in Westeuropa oder in den USA. Ich habe meine Großeltern mein ganzes Leben lang nicht kennen lernen dürfen, weil sie nicht nach Deutschland zurück konnten und ich sie nicht besuchen durfte. Das habe ich als eine solche Unverschämtheit empfunden und als eine solche Eingrenzung in meinem Leben... Da war so eine ohnmächtige Wut dabei.

Wann ist Ihnen klar geworden, dass die Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989 der erste große Erfolg der Friedlichen Revolution war und endlich eine Chance bestand, sich von der SED-Diktatur zu befreien?

Das ist mir viel, viel später erst richtig klar geworden, dass das wohl ein ganz wesentlicher Schnitt war. Wobei ich persönlich die Ereignisse um die Entmachtung der Staatssicherheit, wo ich vom 5. Dezember 1989, also vom ersten Tag an dabei war, als das Wesentliche empfunden habe in dieser Revolutionszeit. Die Montagsdemonstrationen waren der Beginn, der Auftakt. Später, vom Dezember 1989 an, habe ich die Demonstrationen von der „Runden Ecke“ [der Leipziger Stasi-Zentrale – die Redaktion] aus beobachtet. Das war eine unheimliche Stärkung für uns, wir waren ja nur eine sehr kleine Gruppe, die das Gebäude besetzt hielt. Von Montag zu Montag wuchs die Erkenntnis: Der Prozess wird unumkehrbar sein.

Rita Sélitrenny war Archivassistentin, Kellnerin, Gaststätten- und Hotelleiterin, bis sie 1984 aus politischen Gründen als Geschäftsführerin abgelöst wurde. Danach arbeitete sie als Verkäuferin und Näherin. Sie engagierte sich in verschiedenen kirchlichen und Bürgerrechtsgruppen. 1989/90 war sie maßgeblich an der Auflösung der Stasi in Leipzig und später auch in Berlin beteiligt. Als Vertreterin der Bürgerkomitees begleitete sie das Stasi-Unterlagengesetz während der Beratungen des Deutschen Bundestages in Bonn.