Im Wortlaut
in Berlin
Sehr geehrter Herr Dr. Al Jaber,
sehr geehrte Damen und Herren Ministerinnen und Minister,
liebe Annalena Baerbock,
meine Damen und Herren!
„Wir überschätzen immer den Wandel der nächsten zwei Jahre und unterschätzen den der nächsten zehn Jahre.“ Dieser Satz von Bill Gates ist so bekannt, dass er manchen als Gates’sches Gesetz gilt. Doch das zurückliegende Jahr, so scheint es, hat dieses Gesetz außer Kraft gesetzt.
Russlands völkerrechtswidriger Angriffskrieg gegen die Ukraine war nicht nur ein infamer Bruch der internationalen Friedensordnung. Er hat ein grundlegendes Umsteuern befördert, was unsere Energieversorgung angeht.
Deutschland zum Beispiel hat sich innerhalb weniger Monate komplett unabhängig gemacht von russischer Kohle, russischem Öl und russischem Gas. Wer hätte das vor einem Jahr für möglich gehalten?
Auch weltweit steuern zahlreiche Länder um. Eine Ursache dafür sind sicherlich auch die zwischenzeitlichen Allzeithochs bei den Energiepreisen, die wir vergangenes Jahr erlebt haben.
Vorübergehend mussten viele Länder deshalb stärker auf Kohle zurückgreifen ‑ auch Deutschland. Um 1,2 Prozent ist der weltweite Verbrauch 2022 gestiegen. Das ist nicht gut; diesen Trend müssen wir schnellstmöglich wieder umkehren.
Und zugleich bin ich heute zuversichtlicher denn je, dass die Bewegung hin zu den erneuerbaren Energien anhält und sich immer weiter verstärkt. Denn wie selten zuvor hat das Jahr 2022 unser Bewusstsein dafür gestärkt, wie gefährlich Abhängigkeiten von fossiler Energie sind: umwelt- und klimapolitisch, aber eben auch wirtschafts- und sicherheitspolitisch.
Deshalb geht es im Handeln der Bundesregierung, aber auch in meinen Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen weltweit nicht mehr um das Ob bei der Erreichung unserer Klimaziele, sondern um das Wie, um das „doing“, um die Umsetzung. Endlich! Denn klarer denn je ist: Es gibt keine günstigere und sicherere Energie als erneuerbare Energie, und zwar auch an Orten auf der Welt, die bislang noch keine verlässliche Energieversorgung haben.
Aus diesem Bewusstseinswandel entstehen neue Chancen ‑ neue Märkte, neue Handelsbeziehungen und Geschäftsfelder ‑, zum Beispiel bei der Produktion von grünem Stahl und grünem Wasserstoff oder bei der Fertigung von Batterien und Halbleitern.
Das bringt mich zum zweiten Teil des Gates’schen Gesetzes: Ich glaube, nach dem Wandel, den wir in den vergangenen zwölf Monaten vorangebracht haben, unterschätzt niemand mehr, welcher Wandel in den kommenden zehn Jahren möglich ist.
Welche Kräfte diese Erkenntnis freisetzt, das kann man rund um den Globus beobachten. Ihr Land, sehr geehrter Herr Dr. Al Jaber, ist auf bestem Weg, von einem der größten Exporteure fossiler Energie zu einem führenden Produzenten erneuerbarer Energie zu werden. Und gerade weil der wirtschaftliche Erfolg der Vereinigten Arabischen Emirate bislang zu einem großen Teil auf fossiler Energie beruhte, ist Ihre entschlossene Hinwendung zu klimaneutraler Wertschöpfung und zu Zukunftstechnologien umso beeindruckender.
Morgen reise ich nach Kenia, wo bereits heute über 90 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien erzeugt werden. Ziel sind 100 Prozent bis 2030.
Namibia möchte einer der führenden Wasserstoffexporteure werden ‑ übrigens auch mithilfe von Investitionen und Technologie aus Deutschland. Bereits in zwei Jahren soll die Ausfuhr beginnen.
Mit Indonesien, Südafrika und Vietnam haben wir unter Deutschlands G7-Vorsitz Partnerschaften zum fairen Übergang zu erneuerbaren Energien geschlossen. Damit beschleunigen wir den dortigen sozial gerechten Kohleausstieg und sorgen für saubere Alternativen.
Brasilien deckt bereits heute die Hälfte seines Primärenergiebedarfs und rund 80 Prozent der Stromproduktion aus erneuerbaren Energien. Gemeinsam mit der neuen brasilianischen Regierung und vielen befreundeten Ländern machen wir den Schutz des Amazonas wieder zu einer Priorität ‑ wie überhaupt die Anliegen der Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas und der Karibik zu Recht viel weiter oben auf der internationalen Agenda stehen als noch vor einigen Jahren.
Bei einer internationalen Konferenz im Juni in Paris und auch auf dem G20-Gipfel in New Delhi werden wir darüber sprechen, wie die multilateralen Entwicklungsbanken einen noch wirkungsvolleren Beitrag zur Entwicklungs- und Klimafinanzierung leisten können. Ich unterstütze dieses Ziel ganz ausdrücklich.
Bei der COP27 in Ägypten ist uns mit dem Schutzschirm gegen Klimarisiken ein Durchbruch gelungen zugunsten der Vulnerable 20, der am stärksten vom Klimawandel betroffenen Länder.
Auch der in Sharm el-Sheikh beschlossene Fonds für Verluste und Schäden kommt voran. Wichtig ist, dass sein Unterstützerkreis breiter wird und dass auch wohlhabende Schwellenländer einen Beitrag leisten.
Wichtig ist mir auch, dass wir die Auswirkungen des Klimawandels auf die Landwirtschaft und die globale Ernährungssicherheit abfedern, vor allem in Afrika. Dafür unterstützen wir zum Beispiel das Welternährungsprogramm in den Sahel-Staaten dabei, Böden wieder für die Landwirtschaft nutzbarer zu machen, Ökosysteme wiederherzustellen und sie gegen den Klimawandel zu stabilisieren. Eine zentrale Frage in diesem Zusammenhang ist, wie wir die Versorgung und die regionale klimafreundliche Produktion von Düngemitteln verbessern können. Das wird auch ein Thema bei meinen Gesprächen mit Präsident Ruto in Kenia.
Zuversichtlich macht mich auch eine neue Entschlossenheit unter den Industriestaaten, noch schneller und noch ambitionierter voranzugehen. Beim G7-Gipfel in Elmau haben wir uns erstmals auf die Dekarbonisierung des Energiesektors bis 2035 und die Beendigung der Kohleverstromung geeinigt. Beim anstehenden Gipfel in Hiroshima wollen wir daran anknüpfen. Unsere Klima- und Energieminister haben bereits vorgelegt und den Ausbau von 150 Gigawatt Offshore-Windkraft und einem Terrawatt Photovoltaik bis 2030 zugesagt.
Eine gute Nachricht für den Klimaschutz ist auch, dass die Vereinigten Staaten unter Präsident Biden den Übergang zu erneuerbaren Energien und klimafreundlichen Technologien wieder vorantreiben. Dafür steht auch der „Inflation Reduction Act“. Wir Europäer mögen nicht mit jeder Einzelregelung einverstanden sein ‑ das sind wir nicht ‑, denn wir brauchen fairen Wettbewerb zwischen Partnern für den Hochlauf wichtiger Klimatechnologien. Darüber sind wir mit den Amerikanern im Gespräch. Das Ziel der US-Regierung aber, nämlich jetzt die Grundlagen zu schaffen für eine klimaneutrale Industrie, das teilen und unterstützen wir zu 100 Prozent.
Als Europäische Union haben wir unser eigenes Ambitionsniveau noch einmal erhöht. Dafür steht die Reform des Emissionshandels, die wir vor wenigen Wochen beschlossen haben. Künftig werden 85 Prozent unserer Emissionen einer CO2-Bepreisung unterliegen, mit klarem Enddatum für den CO2-Ausstoß. Das gilt für die Sektoren Verkehr, Gebäude und Industrie jetzt also gleichermaßen. So sorgen wir mit marktwirtschaftlichen Mitteln dafür, dass wir unsere Klimaziele einhalten und beides hinbekommen: klimaneutral zu werden und ein starker Industriestandort zu bleiben.
Diesem Ziel dient auch der Klimaclub, den wir Ende letzten Jahres unter unserer G7-Präsidentschaft gegründet haben. Es geht um pragmatische Lösungen für den Klimaschutz, auch jenseits des wichtigen Energiesektors. Dafür wollen wir möglichst viele ambitionierte Länder an einen Tisch bringen, die gemeinsam die klimafreundliche Entwicklung ihrer Industrie voranbringen. Es wäre doch verrückt, wenn wir die Bewältigung dieser Jahrhundertaufgabe in einem Geist der Introvertiertheit und des Protektionismus angehen würden ‑ und das in einem Zeitalter, in dem die Welt so klein geworden ist, in dem Reisen von Menschen und der Austausch von Gütern so vielfältig und bereichernd sind.
Deshalb geht es im Klimaclub um gemeinsame Standards und Regeln, und wir wollen miteinander besprechen, wie wir Länder unterstützen können, denen der Zugang zu den nötigen privaten Investitionen noch fehlt. Ich freue mich, dass diese Idee auf so große Resonanz stößt, gerade auch bei vielen wichtigen Schwellenländern. Seit seiner Gründung im Dezember sind neben Chile als Co-Vorsitz zum Beispiel auch Argentinien, Indonesien und Kolumbien Mitglieder im Klimaclub geworden, und ich möchte Sie alle hier ermutigen, diesem Beispiel zu folgen. Je mehr wir sind, die auf vergleichbare Regeln und Standards setzen, je enger wir zusammenarbeiten beim Markthochlauf neuer Technologien, desto weniger Protektionismus, desto weniger droht uns ein Flickenteppich unterschiedlicher Regelwerke, die Fortschritt und Innovationen behindern.
Blicken wir also gemeinsam nach vorn ‑ und nehmen wir dabei die Aufbruchsstimmung des vergangenen Jahres mit. Auf nationaler Ebene heißt das: Wir lassen den Worten Taten folgen. Zu lange haben wir uns damit begnügt, ambitionierte Ziele zu formulieren. Bis 2045 klimaneutral zu werden, bis 2030 80 Prozent unseres Stroms aus erneuerbaren Energien zu beziehen: All das ist richtig und all das gilt. Neu ist aber, dass wir diese Ziele nicht nur beschreiben, sondern den Weg dorthin ebnen ‑ und zwar Tag für Tag, wortwörtlich auf vielen einzelnen Baustellen.
Es geht dabei nicht um die eine symbolische Entscheidung, den einen Hebel, den wir umlegen, sondern zum Beispiel darum, Planungs- und Genehmigungsverfahren für die Infrastrukturen der Zukunft ganz erheblich zu beschleunigen. Das haben wir gemacht. Es geht darum, einen Boom privater Investitionen in klimafreundliche Technologien auszulösen ‑ durch attraktive Investitionsbedingungen. Dafür steht zum Beispiel der Green Deal der EU, zusammen mit unseren nationalen Investitions- und Förderinstrumenten.
Nicht zuletzt brauchen alle ‑ Politik, Unternehmen, die Bürgerinnen und Bürger ‑ Planungssicherheit und einen verlässlichen Rahmen. Deshalb sage ich allen, was es ganz konkret bedeutet, wenn wir in Deutschland 2030 80 Prozent unseres Stromverbrauchs aus erneuerbaren Energien produzieren wollen: Das bedeutet, täglich vier bis fünf Windkraftwerke an Land zu bauen, und 43 Fußballfelder an Photovoltaikanlagen ‑ wohlgemerkt pro Tag. Das bedeutet, für neue Schienenwege und Energienetze zu sorgen, so wie wir das jetzt beschlossen haben. Und das bedeutet, schrittweise auf eine CO2-neutrale Wärmeversorgung umzustellen. Dafür müssen wir alte Heizungen nach und nach durch klimafreundliche ersetzen ‑ auch diese Wahrheit gehört ausgesprochen. Wir begleiten das mit Förderprogrammen, damit jede Bürgerin und jeder Bürger diesen notwendigen Schritt hin zur Wärmewende ohne Sorge vor der eigenen finanziellen Zukunft gehen kann.
Nach vorne schauen und handeln: Dieser Anspruch leitet uns auch in der internationalen Klimapolitik. Wir alle blicken dabei natürlich auf die nächste Klimakonferenz in Dubai, sehr geehrter Herr Dr. Al Jaber. Schließlich ist dort zum ersten Mal die im Pariser Abkommen vorgesehene globale Bestandsaufnahme vorgesehen.
Für Deutschland und für ganz Europa ist dieser Mechanismus das Herzstück des Klimaabkommens. Deshalb hat die EU sich in ihrem Klimagesetz bereits darauf verständigt, spätestens sechs Monate nach der Bestandsaufnahme in Dubai eigene Zwischenziele für die Zeit nach 2030 zu beschreiben. Wir hoffen, dass viele Ihrer Länder das ebenfalls tun.
Noch etwas möchte ich gern vorschlagen, was wir in Dubai gemeinsam beschließen könnten: ein klares Ziel zum globalen Ausbau der erneuerbaren Energien, zum Beispiel die Verdreifachung des Zubaus bis 2030. So würden wir ein deutliches Signal an die Real- und die Finanzwirtschaft senden, wohin die Reise geht.
Denn schließlich ‑ auch darum wird es in Dubai gehen ‑ müssen wir den großen Wandel hin zur Klimaneutralität auch finanzieren, und das geht nur mit öffentlichen und privaten Investitionen. Ich weiß um die großen Unterschiede, die es bei der Finanzierung kapitalintensiver klimafreundlicher Anlagen und Infrastruktur nach wie vor gibt auf der Welt.
Klar ist auch: Marktfähige saubere Technologien nützen nichts, wenn die Kapitalkosten zu hoch sind und die Rentabilität daher zu niedrig ist. Doch auch daran können wir etwas ändern. Der Grüne Klimafonds hat schon heute viel Erfahrung mit der Finanzierung klimafreundlicher Geschäftsmodelle. Meine Kollegin, Entwicklungsministerin Svenja Schulze, wird Ihre Länder deshalb im Oktober zur zweiten Wiederauffüllkonferenz nach Bonn einladen.
Auch hier lassen wir Worten Taten folgen. Daher kann ich Ihnen heute ankündigen, dass Deutschland plant, die zweite Wiederauffüllung mit zwei Milliarden Euro zu unterstützen. Das ist noch einmal ein Drittel mehr als bei unserer letzten Einzahlung. Und ich appelliere an die vielen traditionellen und auch an mögliche neue Geldgeber: Lassen Sie uns die Erfolgsgeschichte des Fonds weiterschreiben! Er ist heute wichtiger denn je.
Und auch das will ich hier noch einmal deutlich bekräftigen: Deutschland steht auch zu seinem Versprechen, die Mittel für die internationale Klimafinanzierung bis 2025 auf sechs Milliarden Euro zu erhöhen. Dabei geht es um unsere Glaubwürdigkeit, und darum, dass jede Tonne CO2, die irgendwo auf der Erde eingespart wird, ein gemeinsamer Erfolg ist.
Meine Damen und Herren, das zurückliegende Jahr hat uns gezeigt, wie viel Wandel in ganz kurzer Zeit möglich ist. In Dubai haben wir die Chance, daran anzuknüpfen und so dafür zu sorgen, dass das Gates’sche Gesetz vielleicht umformuliert werden muss. Wir mögen unterschätzt haben, was wir alles in einem Jahr verändern können. Aber umso mehr wissen wir jetzt, wie viel Wandel in den nächsten zehn Jahren möglich ist. Lassen Sie uns diesen Wandel gemeinsam voranbringen!
Schönen Dank und noch einmal willkommen in Berlin!