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„50 Jahre deutsch-israelische Beziehungen – Einmaligkeit und Herausforderung“

Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ganz besonders dürfen wir heute Gäste aus Israel begrüßen. Herzlich willkommen hier in Berlin!

Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele werden sich erinnern: An diesem Pult stand vor fünf Jahren Präsident Schimon Peres. Er erzählte die Geschichte seines geliebten Großvaters Rabbi Meltzer. Er berichtete von dem Tag, als die Nationalsozialisten in die Stadt Wiszniewo, heute in Weißrussland gelegen, eingedrungen waren und alle Juden gezwungen hatten, in die Synagoge zu gehen. Der Rabbi ging seiner Gemeinde voran. Er trug denselben Gebetsmantel, in den sich der kleine Schimon an kalten Tagen eingehüllt hatte. Angekommen in der Synagoge verriegelten die Nazis die Türen. Die Synagoge wurde angezündet. Und von der gesamten Gemeinde blieb nur glühende Asche.

Schimon Peres hielt vor fünf Jahren, am Holocaust-Gedenktag, hier in diesem Plenarsaal ein, wie ich es in Erinnerung habe, berührendes Plädoyer gegen das Vergessen. Zugleich sprach er von der – so seine Worte damals – „einzigartigen Freundschaft“ zwischen Deutschland und Israel. Über dem Abgrund der Vergangenheit hat Israel, das Land der Opfer, dem Land der Täter die Hand gereicht, und gemeinsam haben wir, Deutschland und Israel, eine Brücke der Freundschaft gebaut. Dass diese Freundschaft gelingen konnte, ist, wie ich finde, nicht weniger als ein Wunder. Dafür dürfen insbesondere wir Deutsche glücklich und dankbar sein, und das nicht nur an Gedenktagen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Wenn wir nächste Woche das 50-jährige Bestehen unserer diplomatischen Beziehungen feiern, dann feiern wir eine Freundschaft, die sich zu Kriegsende vor 70 Jahren wohl niemand hätte vorstellen können. Heute aber, drei Generationen später, leben unsere Kinder diese Freundschaft ganz selbstverständlich mit Freude und mit Neu-gier. Deshalb ist dieses Jubiläum viel mehr als ein politischer Meilenstein. Deutsche und Israelis sind einander im wahrsten Sinne des Wortes ans Herz gewachsen. Nicht alle Geschichten dieser Freundschaft kann ich heute würdigen.

Lassen Sie mich deshalb stellvertretend nur drei persönliche Schlaglichter auf die Geschichte werfen, um deutlich zu machen, wie kostbar das ist, was wir heute feiern.

Meine Mutter wurde in Breslau geboren – damals ein Zentrum des jüdischen Lebens, die Stadt von Fritz Stern und Ignatz Bubis etwa. Beide mussten – viele Tausende mit ihnen – als Kinder mit ihren Familien vor dem Hass und Rassenwahn der Nationalsozialisten fliehen. Zehn Jahre später musste auch meine Mutter mit denen, die von der Familie übrig geblieben waren, fliehen, nunmehr vor dem Krieg, den die Nazis über die Welt gebracht hatten und der sich gegen diejenigen gewendet hatte, die ihn ausgelöst haben. Vor einem halben Jahr war ich in Breslau zu Gast in der renovierten Synagoge. Dort durfte ich die erste Ordinierung junger Rabbiner seit dem Krieg miterleben – Rabbiner, die hier in Berlin und in Potsdam ausgebildet worden waren. Diese vier jungen Geistlichen standen dort, wie ich finde, als lebendiges Zeugnis, dass heute jüdisches Leben wieder aufblüht – in Europa und bei uns in Deutschland. Darüber sollten nicht nur Juden sich freuen. Das bereichert uns alle, liebe Kolleginnen und Kollegen, weit über den Gedenktag hinaus.

Das zweite Schlaglicht, an das ich mich erinnere, fällt in mein 18. Lebensjahr: der erste Besuch eines deutschen Bundeskanzlers in Israel. Damals, als Willy Brandt nach Jerusalem ging, knirschte noch der Boden unter jedem Schritt. Man beäugte sich vorsichtig. Jeder Schritt wollte behutsam gesetzt sein. Es gab großes Misstrauen gegenüber einem Neubeginn mit dem Tätervolk. Heute gehören deutsch-israelische Besuche zu unserem festen politischen Alltag. Wir sitzen sogar mit beiden vollständigen Regierungsmannschaften einmal im Jahr um einen großen Tisch herum, planen Projekte, debattieren, es wird gelacht, auch gestritten – ernsthaft und ehrlich, so wie gute Freunde das eben tun. Die mutige politische Saat von Ben-Gurion und später Konrad Adenauer – sie ist aufgeblüht, und sie trägt Früchte, auch über unsere eigenen Grenzen hinaus, wenn wir uns zum Beispiel in den internationalen Foren gemeinsam gegen Antisemitismus und Rassismus einsetzen.

Das dritte Schlaglicht, liebe Kolleginnen und Kollegen, fällt auf die Generation unserer Kinder. Ich denke an mein eigenes, aber auch an die Kinder meiner israelischen Kollegen. Für unsere Kinder ist die deutsch-israelische Begegnung ein ganz selbstverständlicher Teil ihrer Welterkundung geworden. Tel Aviv und Berlin ziehen junge Leute an als Magneten der Moderne. Junge Deutsche steigen in Tel Avivs boomende Start-up-Szene ein. Sie studieren in Jerusalem oder leisten ein Freiwilliges Soziales Jahr. Umgekehrt kommen junge Israelis nach Berlin. Sie tauchen ins Kunstleben ein, sie eröffnen Restaurants, starten neue Businessideen. Sie erkunden auch die Spuren ihrer Großeltern und Urgroßeltern, all jener, denen unter den Nazis unsägliches Leid geschah.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesen Geschichten zeigt sich das menschliche Wunder der deutsch-israelischen Beziehungen. Die Freundschaft ist eben längst keine diplomatische Eliteveranstaltung mehr. Diese Freundschaft ist getragen von Menschen. Sie ist in tausend Facetten des Alltags lebendig, und genau das macht sie so stark, genau das macht sie so unverzichtbar. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lasst uns bewahren, was da in den letzten 50 Jahren gewachsen ist!

Der Blick zurück über diese 50 Jahre schärft zugleich den Blick nach vorn, eröffnet uns einen „Horizont der Hoffnung“; denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass Deutschland und Israel nach dem unsagbaren Grauen der Vergangenheit der Weg zur Freundschaft gelungen ist, das sendet, wie ich finde, auch eine ganz kraftvolle Botschaft, eine Botschaft von Verständigung und Versöhnung, die leuchten kann in dieser Welt, die nach wie vor voller Gegensätze, voller Hass und leider ohne Frieden ist. Präsident Peres sprach hier im Deutschen Bundestag vor fünf Jahren von diesem „Horizont der Hoffnung“ und sagte:

„Während mein Herz zerreißt, wenn ich an die Gräueltaten der Vergangenheit denke, blicken meine Augen in die gemeinsame Zukunft einer Welt von jungen Menschen, in der es keinen Platz für Hass gibt …“

Wer heute auf den Zustand der Welt blickt, gerade auf die so unfriedliche Nachbarschaft von Israel, der mag diese Hoffnung naiv nennen. Wer aber auf die deutsch-israelische Freundschaft blickt und sich erinnert, aus welch finsterem Tal sie emporgewachsen ist, der sieht, dass Hoffnung nicht Ausdruck von Naivität sein muss – ganz im Gegenteil! Wer das einsieht, der muss sich die Botschaft von Verständigung und Versöhnung, die in dieser Freundschaft steckt, auch zu Herzen nehmen, sie nicht nur mit Worten feiern, sondern sie, wo immer möglich, in die Tat umsetzen. Das heißt eben, dass wir hier bei uns zu Hause aufstehen müssen gegen jegliche Form von Antisemitismus, Rassismus und Fremdenhass. All das darf keinen Platz in dieser Gesellschaft finden – nie wieder!

Das heißt eben auch, dass wir uns für Frieden für Israel und seine Nachbarn einsetzen. Israels Sicherheit ist für Deutschland historisches Gebot und unverbrüchlicher Teil unserer Freundschaft. Und wir glauben: Nachhaltige Sicherheit für das jüdische und demokratische Israel wird es nicht ohne einen lebensfähigen und demokratischen palästinensischen Staat geben. Und deshalb: So beschwerlich der Weg zu einer Zwei-Staaten-Lösung auch sein mag, wir werden ihn weiter unterstützen. Dabei gilt für mich, liebe Kolleginnen und Kollegen: Meinungsunterschiede und die dazugehörende Ehrlichkeit hält eine gute Freundschaft aus. Umso mehr aber wehre ich mich dagegen, wenn unsere Freundschaft in manchen öffentlichen Debatten einzig auf diese Meinungsunterschiede im Nahostkonflikt reduziert wird. Darum geht es nicht.

Israels Sicherheitsbedürfnis haben wir auch im Blick, wenn die Partner der E3+3 mit dem Iran über den Nuklearkonflikt verhandeln. Klar ist: Am Ende wird nur eine Vereinbarung unterschrieben, die mehr Sicherheit für Israel bedeutet – und nicht weniger. Zugleich steckt auch in diesen Verhandlungen, wie ich finde, die Botschaft der Verständigung. Wenn es uns gelingt, Mitte dieses Jahres das Abkommen zu schließen, dann setzen wir wenigstens ein Hoffnungszeichen, das auf die vielen anderen Konfliktherde im Mittleren Osten ausstrahlen könnte. Auch für diese könnte man vielleicht ähnliche Lösungen suchen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch unsere Generation, die das deutsch-israelische Wunder hat wachsen sehen, wird den von Schimon Peres gezeichneten „Horizont der Hoffnung“ nicht erreichen können. Die Welt ohne Hass, die Schimon Peres entworfen hat, ist leider noch weit weg. Aber wir geben seine Vision weiter an eine starke, optimistische Generation von jungen Israelis und Deutschen, eine Generation, die in allen Gesellschaftsbereichen, von Wirtschaft bis Kultur, miteinander verbunden ist, eine Generation, die kritische Fragen stellt – an die Politik der eigenen und der jeweils anderen Regierung; auch das gehört dazu –, vor allem aber eine Generation, die neugierig aufeinander und auf die Welt ist, die international denkt und international lebt. Wenn ich auf diese Generation schaue, dann weiß ich: So unfriedlich die Welt heute auch sein mag, unsere deutsch-israelische Hoffnung auf Versöhnung und Verständigung war nicht naiv, und sie wird es auch morgen nicht sein.