Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel und Ministerpräsident Mitsotakis zum Besuch der Bundeskanzlerin in der Hellenischen Republik am 29. Oktober 2021

Im Wortlaut Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel und Ministerpräsident Mitsotakis zum Besuch der Bundeskanzlerin in der Hellenischen Republik am 29. Oktober 2021

in Athen

  • Mitschrift Pressekonferenz
  • Freitag, 29. Oktober 2021

(Die Protokollierung des fremdsprachlichen Teils erfolgte anhand der Simultandolmetschung und litt unter akustischen Problemen.)

MP Mitsotakis: Heute hatte ich die sehr große Freude, Bundeskanzlerin Merkel in Athen begrüßen zu dürfen. Sie hat Athen als eine der letzten Stationen ausgewählt, an denen sie ihren politischen Marathon durchläuft. Ich spreche von 16 Jahren am Steuer der Bundesrepublik Deutschland, was auch die Position von Konrad Adenauer bei Weitem übersteigt, und sie ist Helmut Kohl sehr nah, also zwei großen Persönlichkeiten, die wie sie auch sehr viel Gutes beigetragen haben, nicht nur in Europa, sondern insbesondere auch für uns. Das ist für uns von besonderer Bedeutung, und sie kommt diesmal in ihrer offiziellen Position. Ich bin der achte Ministerpräsident, der die liebe Angela empfängt. Ich darf hier sehr kurz all das erwähnen, was hier bis heute passierte. Ich spreche als Allererstes über ihre eigene Position und ihr eigenes Siegel, dass sie der europäischen Politik aufsetzt.

Aber erlauben Sie mir, auch ganz kurz das Bild unseres Landes darzustellen; denn das heutige Griechenland, Frau Bundeskanzlerin, ist ein ganz anderes Griechenland als das Griechenland, das Sie selbst in den letzten zehn Jahren kennengelernt haben. Wir sind nicht mehr ein Krisenherd. Wir sind ein moderner europäischer Staat, der versucht, vorwärtszuschreiten, und der versucht, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren, aber vor allem ein besseres Morgen und eine bessere Zukunft zu skizzieren und darzustellen.

Aber auch Ihre Bundesbürger sehen das. Das wird klar, wenn wir sehen, wie stark die Exporte Griechenlands nach Deutschland trotz COVID stiegen, nämlich um 20 Prozent. Es ist auch klar, warum sehr viele deutsche Unternehmen hier investieren. Man versteht, wieso so viele griechische Start-ups von Deutschen aufgekauft werden, vor allem, wie die griechischen Produkte auf den Märkten Deutschlands eine eigentlich sehr gute Position finden. Die Zahl der deutschen Touristen, die heuer kamen, hat sich im Vergleich mit denen, die letztes Jahr kamen, verdoppelt.

Es ist wahr, dass weder Europa noch Griechenland hier die (akustisch unverständlich) dieses Jahrhunderts zu erreichen. Wir hatten schlechte Erfahrungen, schlechte Entschlüsse, und die kamen immer wieder als Bumerang zurück, indem der Laizismus und die Demagogie wirklich eine sehr schlechte Rolle spielten. Auch Sie haben uns gesagt, dass Sie von uns sehr viel verlangt haben, als wir uns inmitten einer wirklich großen Krise und sehr großer Schwierigkeiten befanden. Gott sei Dank haben weder die europäische Politik noch die nationalen Slogans, die wir hören konnten, durchgehalten. Europa konnte zeigen, dass Europa immer in der Lage ist, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, und Griechenland war in der Lage, das umzusetzen und all diese Schwierigkeiten und die Fehler, die in der Vergangenheit stattfanden, zu ändern. So fanden die Solidarität Europas auf der einen Seite und der positiv verstandene Nationalismus auf der anderen ihr gutes Ergebnis.

In all diesen Bereichen war Angela Merkel die Stimme der Logik, aber auch der Stabilität – nicht nur in Berlin, auch in Brüssel. Manchmal war das nicht immer das Allerbeste, auch unfair, wenn man es so sagen will. Aber es war immer gut in dem Moment, in dem es schwierig war und man etwas durchsetzen musste, so wie 2015. Sie sagte: Nein, Griechenland wird nicht aus Europa herauskatapultiert. – Das war ein großer Entschluss, ein wichtiger Entschluss, der Ihre Unterschrift hatte. Politische Entscheidungen finden immer statt, und die muss man immer sehen, wenn man in einer schwierigen Lage ist und eine Position beziehen muss.

Ich glaube, dass Europa jetzt tatsächlich viel eher als Europa agiert. Wir haben das jetzt mit dem Fonds gesehen, der die Finanzierung von Ländern garantiert. Aber das gilt auch für die Politik, die wir im Hinblick auf COVID beschlossen haben. Bei alledem, liebe Angela, hatten Sie eine sehr entscheidende Rolle, weil, solange Europa mit einer einheitlichen Stimme spricht und sich bewegt - - - Weißt du, das passiert über Abkommen, und das ist von besonderer Bedeutung in dem Moment, an dem wir zueinander finden. Das hilft uns, die Politik weiterzuführen.

Es war sehr wichtig, dass die Bundeskanzlerin eine neue Position im Hinblick auf den Fonds bezog, der jetzt in der Lage sein wird, die Wirtschaften von Kleineren Ländern zu stärken, die wirklich sehr große Probleme hatten und eine sehr große Krise durchliefen, aus der allein oder mit eigenen Kräften herauszukommen sie bei Weitem nicht immer eine Chance hatten. Ich konnte das immer wieder bei den Gipfeln feststellen, bei denen die Kanzlerin immer darstellt, dass sie nicht nur Lösungen vorstellt oder vorschlägt, sondern auch in der Lage ist, diese Lösungen realistisch umzusetzen.

Der Kampf um Covid hatte auch einen weiß-blauen Charakter oder Aspekt, weil Griechenland das erste Land war, das den Kampf gegen die Pandemie aufnahm. Danach forderte sie ein digitales Zeichen, das uns hilft. Wir haben ein sehr modernes Impfverfahren, und wir waren als Land diejenigen, die eine entscheidende Rolle in der Kreation dieses Fonds spielten. Wir konnten mit sehr erfolgreichen und wichtigen Abänderungen die eigene Wirtschaft wirklich auf einen sehr gesunden Pfad platzieren. Das war nicht einfach.

Das war wirklich nicht einfach, weil es auch immer wieder nationale Herausforderungen gab. Manchmal gab es unangenehme Attacken wie am Evros mit illegalen Migranten, die von der Türkei kamen, oder es gab öffentliche Krisen, als wir die Aggressivität unserer Nachbarn letzten Sommer erfuhren. Das ist ein Peak, den wir jetzt immer wieder erleben, und ich glaube, das ist ein Problem für den ganzen Westen und für Europa. Ich weiß sehr genau, Frau Bundeskanzlerin, dass wir eine Anzahl von sehr ehrlichen Diskussionen darüber hatten, was Ihre Position ist, eine Position für den Dialog und eine Entschärfung der Probleme. Das ist das, was ich akzeptiere. Ich werde weiter versuchen, auch diese Kanäle offenzuhalten. Aber ich befürchte, muss ich sagen, dass die westliche Zurückhaltung für die Türkei leider oft ein Zeichen dafür ist, dass sie weiter agieren kann. Es ist Zeit, dass der Westen tatsächlich eine westliche Politik fährt, und das muss eine westliche aktive Politik gegenüber all denen sein, die uns herausfordern. In Griechenland sagen wir nämlich: Nur wenn wir eine sehr klare Position haben, wird das für uns alle klar. – Wir wollen nur Freunde sein, und das zeigen wir immer, indem wir immer wieder neue Abkommen mit allen freundlich gesonnenen Ländern unterschreiben. Wir wollen eine gute Erfahrung machen. Wir wollen gute Beziehungen zu unseren Nachbarn haben, basierend auf dem Recht der Meere, aber auch auf dem internationalen Recht. Aber wir akzeptieren nicht, wenn jemand unsere Position infrage stellt und unsere Rechte infrage stellt. Diesbezüglich ist unsere Position klar und deutlich.

Das sind Themen, die ohne Zweifel auch die neue Regierung Ihres Landes beschäftigen werden. Ich hoffe, dass sich die sehr guten und sehr dynamischen gegenseitigen Beziehungen erweitern und vertiefen werden, auch bezüglich der sehr schwierigen Probleme, die wir von der Vergangenheit her vor uns hertragen. Aber vor allem wollen wir die Zukunft sehen. Wir wollen die Zukunft eines neuen, unabhängigen Europas sehen, eines starken Europas, wie Sie auch sagten. Wir können nicht, indem wir immer nur die Gelder zurückfahren, ein gutes Ergebnis einfahren. Das können wir nicht; das ist nicht möglich. Wir müssen wirklich schlechte Entscheidungen der Vergangenheit in neue Möglichkeiten und Perspektiven für die Zukunft umwandeln. Ich glaube eigentlich auch, das deutsch-französische Abkommen sowie das Abkommen der gegenseitigen Unterstützung zwischen Griechenland und Frankreich könnten Vorreiter dieser Art der Autonomie sein. Basierend auf diesen beiden Positionen, glaube ich, kann sich Europa für die Zukunft aufstellen, vor allem, indem wir Demokratie vertiefen und indem wir Ungleichheiten ausmerzen.

Aber ich glaube, wir müssen auch Themen wie das Klima weiter im Auge haben. Wir haben große Probleme, die so wichtig sind wie die neuen Energiekanäle, die jetzt neu entstehen und eigentlich neue Interessenspolitiken abzeichnen.

Hiermit, Frau Bundeskanzlerin, möchte ich abschließen: Die Zukunft ist von besonderem Interesse – für Griechenland, für Europa, für Deutschland, für uns alle. Wir werden Schritt für Schritt gehen, basierend auf einem (akustisch unverständlich), das die Bundeskanzlerin immer wieder betont. Ich habe es versucht. Ich versuche es immer wieder. Das sind die Ergebnisse, aber das ist auch die Position, mit der Sie sich innerhalb der europäischen Politik profilierten. Es gab viele Schwierigkeiten, aber wir kamen immer in ruhige Gewässer. Deshalb, Frau Bundeskanzlerin, können Sie immer wieder sehr stolz darauf sein.

Liebe Angela, ich heiße Sie herzlich willkommen! Ich kann nur sagen, dass Athen Sie immer wieder als Freundin und als Bürgerin Europas erwartet, weil dies der Staat ist, in dem wir seit 2500 Jahren sagen: Wir sind immer diejenigen, die allen Freunden freundlich gesonnen sind, die uns besuchen. – Versuchen Sie auch immer, an die Worte Goethes zu denken (auf Deutsch): „Unter allen Völkerschaften haben die Griechen den Traum des Lebens am schönsten geträumt.“ In diesem neuen Lebensabschnitt vergessen Sie bitte nicht die Worte Goethes.

Noch einmal herzlich willkommen in Athen bei diesem letzten Besuch in Ihrer offiziellen Position! Danke!

BK’in Merkel: Sehr geehrter Herr Ministerpräsidenten, lieber Kyriakos, ich möchte mich ganz herzlich für den freundschaftlichen Empfang und für die Gastfreundschaft bei meinem letzten offiziellen Besuch bedanken. Frei nach Goethe muss es ja nicht der letzte Besuch in Griechenland gewesen sein, denn ich teile die Meinung: Wer etwas von Kultur und wer etwas von Lebensqualität versteht, der kann ohne Griechenland nicht auskommen; das ist ganz klar.

Ich bin gestern, am Ochi-Tag, gekommen, der ein Beispiel für die klare Haltung Griechenlands in schwierigen historischen Momenten ist. Wir sind uns auch gewiss, dass gerade 2021, wo der Beginn des griechischen Freiheitskampfes von vor 200 Jahren noch einmal im Mittelpunkt steht, das Eintreten für Werte hier in Griechenland auch eine sehr, sehr wichtige Rolle spielt. 2021 ist ja auch das Jahr, in dem Griechenland seit 40 Jahren Mitglied der Europäischen Union ist. Damit zeigt sich eigentlich, dass wir uns auch immer wieder die Geschichte anschauen sollten, wenn wir heutzutage Politik machen.

Ja, die Beziehungen zwischen Griechenland und gerade Deutschland waren in den letzten zehn Jahren recht lebendig. Wir haben verschiedene Phasen durchlaufen. Die schwierigste war sicherlich die Phase, als es um die Stabilität des Euro ging. Ich habe immer wieder gesagt, und du hast es eben auch wiederholt, dass mir auch sehr persönlich bewusst war, welche Zumutungen und welche Herausforderungen für die Menschen in Griechenland mit der Frage des Euro verbunden waren. Aber zum Schluss ist es uns gelungen, dass wir einen Weg gefunden haben, auf dem Griechenland eben nicht nur 40 Jahre in der Europäischen Union ist, sondern auf dem Griechenland auch Mitglied des Euro ist.

Kaum hatten wir diese Phase ein bisschen abgeschlossen, kam für Griechenland schon die große Herausforderung der Flüchtlinge aus Syrien. Das begann ja auch 2015. Auch hier haben wir, glaube ich, gezeigt, dass wir Verantwortung teilen können und dass wir gemeinsam arbeiten können. Ich denke, das EU-Türkei-Abkommen, das wir damals beschlossen haben, ist ein Beispiel dafür, dass man versuchen muss, zusammenzuarbeiten, aber auch eben in diesem Fall mit der Türkei zusammenzuarbeiten.

Ich kenne die Vielzahl von Herausforderungen, die ihr gerade auch in der Zusammenarbeit mit dem Nachbarn Türkei habt. Wir haben uns oft und auch gestern und heute wieder sehr intensiv darüber ausgetauscht, dass natürlich das Völkerrecht gelten muss, dass UN-Resolutionen gelten müssen und dass es trotzdem - das sieht man ja auch - immer wieder notwendig ist, zu versuchen, schwierigste Fragen im Dialog zu klären, auch wenn das historisch leider oft viel länger dauert, als man es sich vorstellen könnte.

Wenn ich noch einmal zu den bilateralen Beziehungen zurückkomme, dann hat sich in der Pandemiezeit europäisch, aber auch bilateral gezeigt, dass wir sehr eng zusammengearbeitet haben. Ich war ganz überzeugt davon und habe deshalb auch diesem Recovery-Plan oder dem Programm „Next Generation EU“ aus vollem Herzen zugestimmt, dass diese Pandemie für uns alle ein sehr, sehr großes Unglück war, ganz besonders aber für die Länder in der Europäischen Union, die durch eine lange Phase von Reformen und von Ausgabenkürzungen gegangen waren. Es ist jetzt ein Gebot der Fairness, der Kohäsion und auch des Funktionierens des Binnenmarktes, dass Länder wie Griechenland, Portugal, Italien oder Spanien die Möglichkeit bekommen, Investitionen in die Zukunft vorzunehmen. Denn wir werden die globalen Herausforderungen nicht bewältigen - siehe zum Beispiel Klimaschutz oder nachhaltige Biodiversität -, wenn wir uns nicht gegenseitig dabei unterstützen, diese Transformation des Wirtschaftens, der Energieversorgung und der Mobilität auch wirklich gemeinsam zu bewältigen.

Ich habe mich heute früh mit jungen Leuten im Goethe-Institut unterhalten, und ich bin sehr froh, dass es uns gelungen ist, das Deutsch-Griechische Jugendwerk auf die Beine zu stellen. Mir ist sehr wichtig, dass hier Programme nicht nur für junge Akademiker gemacht werden, sondern für alle Bereiche der Bevölkerung, damit sich junge Leute in unseren beiden Ländern besser kennenlernen können. Ich denke, auch die Deutsch-Griechische Versammlung, die die Zusammenarbeit der Städte und Gemeinden forciert hat, ist etwas sehr Gutes, damit sich Deutsche und Griechen noch besser kennenlernen - außerhalb der wunderbaren touristischen Erfahrungen, die viele Deutsche hier in Griechenland natürlich in vollem Umfang genießen.

Ich hoffe oder gehe davon aus - das brauche ich gar nicht zu hoffen -, dass sich die Beziehungen zwischen Deutschland und Griechenland auch mit einer neuen Bundesregierung gut entwickeln werden und dass wir auch weiterhin in der Europäischen Union eng zusammenarbeiten werden. „Wir sind zu unserem Glück vereint“, haben wir anlässlich 50 Jahren Römischer Verträge gesagt, und das bleibt auch heute noch wahr.

Ich möchte mich ganz herzlich für die Zusammenarbeit bedanken. Denn die griechische Sicht auf die globale Situation - einfach durch die Lage am Mittelmeer, durch den Nachbarn Türkei, durch Libyen, durch die ganzen Herausforderungen, die es gibt - ist noch einmal eine ganz andere, und da können wir unglaublich viel voneinander lernen. Ich danke für viele ehrliche, gute Diskussionen, die meistens auch noch zu Lösungen geführt haben.

Frage: Erlauben Sie mir, Frau Bundeskanzlerin, diese Frage auf Deutsch zu stellen. Vor einigen Wochen haben Sie gesagt, dass einer der schwierigsten Momente Ihrer Amtszeit war, als man in der Euro-Krise den Griechen viel zumuten musste. Das haben Sie auch heute wiederholt. Das mag schwer gewesen sein. Aber war das nicht auch ein Fehler? Was hätten Sie mit Blick auf den Euro-Stabilitätspakt anders gemacht, der 2023 wieder mit strengen Regeln für die Fiskal- und Schuldenpolitik in Kraft treten wird? Wäre es nicht falsch für Deutschland, auf demselben Rezept zu bestehen?

Herr Ministerpräsident, offenbar wird Herr Scholz als Bundeskanzler kommen. Was werden Sie diesbezüglich in Hinsicht auf die Wirtschaftsfragen tun? Werden Sie ihn überzeugen können, dass man nicht nach 2023 so strenge Regeln verfolgen soll oder muss?

BK’in Merkel: Ich glaube, dass wir damals alle sehr schockiert waren, wie anfällig der Euro gegenüber Spekulationen von außen war. Das hat natürlich erst einmal die Länder betroffen, die eine höhere Verschuldung hatten und die vielleicht auch, was bestimmte Reformen anbelangt, noch nicht alles umgesetzt hatten. Die Frage, wie man diesen Euro stabilisieren kann - ich habe mich immer dafür eingesetzt, dass Griechenland Teil des Euro bleibt -, bedeutet natürlich auch, dass wir in der Effektivität unseres Wirtschaftens vergleichbar sein müssen, sonst kann man so eine Währung nicht zusammenhalten.

Ich habe gewusst, dass ich den Menschen in Griechenland sehr viel zumute. Auf der anderen Seite, sagen wir einmal, gab es auch sehr unterschiedliche Regierungen in Griechenland, die zum Beispiel auch unterschiedliche Reformen für möglich gehalten habe. Man konnte ja immer verschiedene Reformen machen. Ich sage einmal, heute ist das Thema der Privatisierungen nicht mehr ein so kontroverses Thema, wie es das eine Zeitlang war.

Ich glaube, dass Griechenland einen weiten Weg gegangen ist, aber ich glaube nicht, dass die Lösung darin besteht, jetzt einfach den Stabilitätspakt über Bord zu werfen. Schauen Sie, wir sind ein Kontinent beziehungsweise der Euro-Raum ist ein Gebilde, in dem das Durchschnittsalter relativ hoch ist. Deutschland hat ein noch viel höheres Durchschnittsalter als Griechenland. Wir, alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union, haben im Vergleich mit dem Alter der Bevölkerung vergleichsweise hohe Schulden. Wir können uns dann mehr finanzielle Flexibilität leisten, wenn wir innovativ sind, wenn wir kreativ sind. Das erlebe ich in den Diskussionen mit Kyriakos Mitsotakis ganz besonders. Er setzt sich für Start-ups, für Bildung und für Innovationen ein. Ja, wir müssen schauen, wie wir das Kapital für Innovationen bekommen. Aber wir müssen auch schauen, dass wir uns auf den internationalen Finanzmärkten nicht sozusagen anfällig machen. Dies ist keine ganz einfache Aufgabe. Die werden zukünftige Regierungen zu bewältigen haben.

Aber die Flexibilität des bisherigen Stabilitätspakt es ist ja nicht so Klein. Das Problem ist eher, dass in den guten Jahren manchmal doch nicht so gut gewirtschaftet wurde und man für die schlechten Jahre dann nicht die entsprechende Fähigkeit hat. Aber wir haben doch jetzt mit dem Recovery-Plan gezeigt, dass wir auch einen Weg heraus gefunden haben. Das heißt nicht, dass wir das jetzt perpetuieren; das habe ich damit nicht gesagt. Aber wir müssen immer wieder - vor allen Dingen in den nächsten Jahren; davon bin ich überzeugt - an unserer Innovationskraft arbeiten; denn nur, wenn Europa innovativ ist und bei den Erfindungen und Entwicklungen in der Welt vorne mit dabei ist, werden wir auch unseren Wohlstand halten können.

MP Mitsotakis: Ich hoffe, dass ich eine sehr gute Zusammenarbeit mit dem Nachfolger der Frau Bundeskanzlerin - höchstwahrscheinlich Herrn Scholz - haben werde. Das wird ohne Zweifel die Diskussion über den Stabilitätsplan beinhalten - das passiert nicht auf bilateraler Basis, sondern im Rahmen von Europa -, und diese Zusammenarbeit wird ohne Zweifel all das wahrnehmen, was in den letzten zehn Jahren passierte, und, wie die Frau Bundeskanzlerin schon sagte, die Erfahrungen der Pandemie. Diese Erfahrungen haben alle Länder gezwungen, mehr Schulden zu kreieren. Gleichzeitig hat dieser Moment auch den Stabilitätspakt, den Recovery Plan, ins Leben gerufen. Ich glaube, das ist etwas, worauf wir uns in der Zukunft beziehen können. Ich glaube, wir werden Interventionen sehen, insbesondere mit Blick auf die Regeln des Stabilitätspakts, die so wenig flexibel sind. Das bedeutet aber nicht, dass wir vergessen werden, was es bedeutet, wenn wir genau wissen, wie wirtschaftlich gesund zu reagieren ist. Es ist nicht möglich, dass man so viele Schulden hat; das kann man nicht langfristig sehen. Unsere Glaubwürdigkeit wird immer infrage gestellt, was wir auch daran sehen, wie die Märkte reagieren. Wenn wir jetzt diese Entwicklungschance haben, hat Griechenland die Chance, nach 2023 schwarze Zahlen zu schreiben.

Die Diskussion über die Änderungen des Stabilitätspaktes - ja/nein und wie - kann also nicht so verstanden werden, als könnten wir jetzt auf das schlechte Verhalten der vergangenen Jahren zurückkehren. Was wir brauchen - und die Bundeskanzlerin hat recht, wenn sie sich darauf bezieht -, ist eine Förderung von Investitionen und Innovationen. Wie das jetzt passieren wird - ob jetzt Gelder aus Europa kommen oder ob im Nachhinein Gelder aus Europa kommen -, ist eine Diskussion, die noch offen ist. Es liegt aber bei uns, uns zu entscheiden, was wir wollen, wie wir es wollen und warum. Ich glaube, in dem Moment, wo wir das tun, wird es insbesondere für die Länder des Südens, die automatisch mehr Gelder bekommen werden, also Griechenland, Italien und Spanien, in der Zukunft mehr Chancen geben, besser zu agieren und durch etwas, was wegen der Pandemie ins Leben gerufen wurde, eine ganz andere Unterstützung und ein ganz anderes Profil zu bekommen.

Frage: Die Beziehungen zwischen Griechenland und der Türkei sind heute sehr viel schlechter als 2005 bei Ihrem Amtsantritt. Die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei sind ebenfalls viel problematischer geworden. Frau Bundeskanzlerin, wenn Ihr designierter Nachfolger Olaf Scholz Sie fragen würde - vielleicht tut er es ja -, was die nächste Bundesregierung in diesem schwierigen Spannungsverhältnis Griechenland-Türkei-Zypern besonders beachten sollte und was sie vielleicht anders machen sollte, was würden Sie ihm sagen?

An den Ministerpräsidenten: Was erwarten Sie und was erhoffen Sie sich von einer neuen Regierung in Deutschland im Hinblick auf die Beziehungen zwischen Griechenland und der Türkei?

BK’in Merkel: Wenn man jetzt einmal zurückblickt: Als ich Bundeskanzlerin wurde, hatte der Europäische Rat gerade nach langer Diskussion beschlossen, dass die Türkei jetzt Beitrittsverhandlungen eröffnet. Ich gehörte damals zu den wenigen, etwas skeptischer waren. Ich habe immer von besonderen Beziehungen der Europäischen Union zur Türkei gesprochen, habe aber die Vollmitgliedschaft immer sehr kritisch betrachtet. Das war damals aber die absolute Ausnahme. Heute sieht man die Dinge innerhalb des Europäischen Rates etwas anders, aber es haben sich natürlich auch eine ganze Reihe von Entwicklungen vollzogen, die wir damals auch nicht absehen konnten.

Ich glaube, dass die Türkei als Nato-Mitglied und die Türkei als unser Nachbar so behandelt werden sollte, dass wir deutlich machen, dass es in unserem Interesse ist, vernünftige Beziehungen zur Türkei zu haben - selbst bei Meinungsverschiedenheiten, die wir zum Beispiel auch in Fragen der Menschenrechte haben, die damals nicht so im Vordergrund gestanden haben.

Ich sehe die Betroffenheiten - ich kenne den zyprischen Präsidenten Nikos Anastasiadis; wir reden mit dem griechischen Ministerpräsidenten sehr häufig über die Dinge -, und trotzdem sehe ich keine Alternative zum Dialog. Man muss eine Position haben, und das muss möglichst eine gemeinsame europäische Position sein; denn dann ist natürlich jeder von uns stärker. Da versuchen wir uns auch immer abzustimmen. Trotzdem ist der Dialog notwendig, auch wenn er manchmal länger dauert, als man denkt.

Was wir deutlich machen sollten, ist, dass bei Einhaltung der Regeln Europa und die Türkei stärker sein können - ökonomisch, aber auch international und global -, wenn wir bestimmte Probleme lösen. Nicht alle dieser Probleme sind zurzeit gelöst; manchmal kommen sogar noch mehr Probleme dazu. Das macht die Arbeit schwierig.

Meine Ratschläge an Olaf Scholz gebe ich sowieso nicht öffentlich. Trotzdem ist absehbar, dass das Thema Türkei und die Beziehungen zur Türkei wichtig sind. Wie Sie wissen, leben in Deutschland über drei Millionen türkischstämmige Menschen, und schon deshalb haben wir eine Brücke zueinander. Das heißt aber nicht, dass wir nicht auch mit einer klaren Position in die Verhandlungen gehen.

MP Mitsotakis: Was ich vom Nachfolger der Bundeskanzlerin erwarte, ist dass man akzeptieren muss, dass die Entscheidungen des Rates im Hinblick auf die Türkei wahrgenommen werden und auch verfolgt werden. Wir haben lange und oft mit der Türkei gesprochen und haben zwei Möglichkeiten angeboten.

Die erste Möglichkeit ist das, was wir alle wollen: Wir wollen eine Zusammenarbeit zugunsten von uns beiden, denn das bedeutet weniger Probleme, und vor allem muss das internationale Recht anerkannt werden.

Der zweite Wege ist ein sehr harter Weg, wo die Türkei verstehen muss, dass, wenn sie sich weiter so bewegt, dann gibt es auch Sanktionen von europäischer Seite; denn es gibt Grenzen, die man nicht überschreiten kann, die man nicht beiseiteschieben kann. Das muss man wissen und entsprechend handeln.

Ich werde immer wieder sagen - das habe ich schon oft angesprochen -: Ich bedanke mich bei der Bundeskanzlerin für ihre sehr offene Position, eine Go-between-Rolle zwischen uns und der Türkei zu übernehmen. Ich habe gesagt: Meine Tür ist und bleibt immer offen für einen positiven Dialog. Sie verstehen aber, dass dieser Dialog als allererstes voraussetzt, dass man nicht immer wieder unter sehr starkem Druck agieren muss. Es kann nicht sein, dass die Türkei den Vereinten Nationen einen Brief schickt, in dem sie sagt, dass sie die Souveränität der griechischen Inseln infragestellt, indem sie das Abkommen von Lausanne ganz ad hoc interpretiert. Das ist eine Herausforderung. Wir können nicht so tun, also ob nichts passiere, denn das passiert immer wieder und auf verschiedenen Ebenen. Ich kann nur sagen: Das wird immer so stattfinden, wenn es um Zypern geht. Das ist ein Thema, das wir auch mit der Bundeskanzlerin besprochen haben. Wir haben beide große Fragezeichen, und wir sagen, dass wir basierend auf einer Logik, dass wir dort zwei Staaten haben, nichts tun können. Das ist etwas, das wir als Prinzip ablehnen.

Wir sagen: Die Türkei muss akzeptieren, dass ein neuer Vertreter von den Vereinten Nationen kommt, und da muss ein Dialog stattfinden, der widerspiegelt, was der Sicherheitsrat entscheidet und will. Ich werde das immer wieder sagen und betonen. Ich werde alles tun, was in meiner Hand liegt, um diesen guten Dialog weiter zu führen. Dieser Dialog muss ein offizieller sein, und das muss ein Dialog sein, der so gestaltet ist, wie gute Nachbarschaft es voraussetzt. Wir haben mit allen unseren Nachbarn - mit Italien, mit Ägypten - Abkommen über die Grenzen und die Wirtschaftszonen. Das ist etwas, was wir ohne Zweifel auch mit der Türkei tun können. Das würde bedeuten, dass es weniger Druck gibt, und man muss gegenseitig verstehen und sehen, dass das etwas ist, was für uns beide gute Ergebnisse zeitigen würde.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, welche Antwort geben Sie, wenn man immer wieder hört und sagt, sie hätten Rahmen aller dieser großen Probleme zwischen Griechenland und der Türkei immer eine Äquidistanz gegenüber beiden Ländern gehalten? Zweite Frage: Glauben Sie, dass Europa angesichts dessen, dass die Türkei immer wieder Herausforderungen stellt, noch strenger werden und reagieren muss?

An den Ministerpräsidenten: Sie wollen immer wieder, dass das griechisch-türkische Problem ein europäisches Problem wird. Sie sprachen auch von den Grenzen beziehungsweise einer Art Demarkationslinie für die Türkei. Wo, glauben Sie, ist eine solche Linie?

MP Mitsotakis: Erlauben Sie mir, als Erster darauf zu antworten. - Ich muss sagen: Griechisch-türkische Probleme sind automatisch europäisch-türkische Probleme, und das nicht nur, weil wir ein Teil der Europäischen Union sind, sondern auch, weil sich das, was hier passiert, auch in ganz Europa widerspiegelt. Nehmen Sie zum Beispiel das Migrationsproblem: Natürlich haben wir das größte Problem, weil wir an der Grenze Europas sind, aber das hat auch etwas mit ganz Europa und natürlich vor allem mit Deutschland zu tun. Eine strengere Politik mit einem menschlichen Zug ist eine Politik, die die volle Unterstützung Europas hat, das ist klar und deutlich. Ich glaube, ich habe vorher auch gesagt: Der Europäische Rat hat Entschlüsse zur Unterstützung Griechenlands betroffen. Ja, man musste Einiges tun, damit wir zu diesem Ergebnis gekommen sind, aber ich sage und wiederhole: Niemand möchte, dass die Beziehungen zwischen uns und der Türkei und die Beziehungen zwischen Europa und der Türkei absolut unterbrochen werden; das wäre für niemanden gut. Ich glaube aber, es gibt Grenzen, es gibt Linien, die man nicht überschreiten soll und darf; das habe ich sehr klar gemacht. Im Hinblick auf die griechisch-türkischen Beziehungen kann ich nur sagen - das ist sehr klar und deutlich, und das weiß auch die Türkei -: Griechenland gibt auf der einen Seite die Hand der Freundschaft, aber Griechenland steht auch hundertprozentig hinter seinen Grenzen und seiner Autonomie und wird sie auch auf allen Ebenen durchsetzen.

BK’in Merkel: Erstens kann ich nur zustimmen: Die allermeisten Probleme zwischen Griechenland und der Türkei sind auch Probleme zwischen der Europäischen Union und der Türkei, ob das nun die Flüchtlinge betrifft oder ob das die gemeinsame Mitgliedschaft in der Nato betrifft. Alle Beschlüsse des Europäischen Rates sind von mir genauso bejaht worden wie von dem griechischen Ministerpräsidenten, denn wir können nur einstimmig entscheiden. Das heißt also, hier gibt es eine Einigkeit. Um diese Einigkeit haben wir manchmal gerungen, aber wir haben sie immer wieder gefunden.

Das Zweite ist, dass wir gegenseitige Abhängigkeiten haben. Die Türkei hat - das habe ich bei allem, was ich auch zu kritisieren habe, immer wieder positiv gewürdigt - über drei Millionen, fast vier Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen, und das ist eine erhebliche Leistung. Dass die Europäische Union akzeptiert, dass die Menschen vielleicht besser in der Nähe ihrer Heimat unterkommen, als dass sie alle auf die europäische Seite kommen, ist Ausdruck des EU-Türkei-Abkommens. Darum habe ich mich bemüht. Ich glaube, das ist etwas, was sowohl uns hilft als auch der Türkei helfen soll, und die Türkei braucht an dieser Stelle Unterstützung. Genauso hat die Türkei jetzt mit Blick auf Afghanistan Sorgen, die wir auch verstehen können. Genauso wie wir keine illegale und von Schleppern und Schleusern finanzierte Migration wollen, so hat auch die Türkei darauf ein Anrecht. Darüber hinaus gibt es noch andere kontroverse Fragen, die sich in den Beschlüssen des Europäischen Rates auch widerspiegeln.

Ich glaube also, wir haben hier eine sehr einheitliche europäische Position, und ich habe auch gar keine Bange, dass wir diese Position in Zukunft nicht finden werden.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, ich habe eine Frage zum Thema Migration. Es gab in den letzten Jahren immer wieder akute Krisensituationen. Griechenland war sehr häufig betroffen. Aktuell liegt der Fokus eher bei anderen Staaten, nämlich bei Polen und Belarus. Ganz grundsätzlich: Glauben Sie, dass dieses System, dass einige wenige Staaten die Hauptverantwortung tragen, Grenzen zu schützen und damit offensichtlich auch Migration zu verhindern, Menschen aufzunehmen und sie zu versorgen, langfristig Bestand haben wird, auch vor dem Hinblick, dass dort möglicherweise Menschenrechtsverletzungen passieren, während sich andere Staaten dahingehend, salopp gesagt, eher zurücklehnen können und Geld zahlen, aber ansonsten fein raus sind bei diesem Thema?

(auf Englisch, nicht gedolmetscht) To you, Prime Minister: Do you wish that there would be ways for legal secondary migration, and do you wish for more support from other states, for example Germany, in this area?

BK’in Merkel: Ich finde, da muss man verschiedene Dinge unterscheiden. Ich glaube, dass Europa auch eine Verantwortung für Teile der Welt hat, die nicht zur Europäischen Union gehören. Die Verantwortung kann aber nicht dadurch geschaffen werden, dass wir dazu kommen, illegale Migration, also Schlepper und Schleuser, zu finanzieren, und dass die Menschen zu uns kommen, die vielleicht am meisten Geld hatten, um durchzukommen, und nicht die Menschen, die wir zum Beispiel mit dem UNHCR in einem Resettlement-Programm bei uns aufnehmen wollen, die wir vielleicht für eine Facharbeiterausbildung oder für legale Migration haben wollen. Unser Problem ist doch, dass wir zurzeit so viel illegale Migration haben, die von Schleppern und Schleusern gesteuert wird, dass wir gar nicht dazu kommen beziehungsweise viel zu wenig dazu kommen - wir haben ja humanitäre Kontingente -, auch diejenigen aufzunehmen, die unsere Hilfe am allermeisten brauchen.

Insofern ist die Bewachung beziehungsweise die Kontrolle der Außengrenze natürlich etwas, was bestimmten Ländern obliegt. Zur Unterstützung haben wir da eigentlich auch Frontex geschaffen. Hier hat Griechenland Herausragendes geleistet - zum Beispiel vor zwei Jahren, als der Druck auf die Landgrenze so groß war, dass ich dann auch gesagt habe: Präsident Erdoğan nutzt Menschen für politische Zwecke, und die wurden an dieser Stelle im Grunde missbraucht. Gott sei Dank ist das jetzt wieder gestoppt worden. Das, was Herr Lukaschenka macht, ist genau das Gleiche, nämlich einfach Menschen sozusagen als eine hybride Bedrohung zu benutzen. Das ist absolut abzulehnen.

Deshalb dürfen wir in der Europäischen Union - dafür habe ich mich immer eingesetzt - nicht so tun, als ob irgendeiner das Problem nicht hätte. Wir haben es als Sekundärmigration, Griechenland hat es als Primärmigration. Deshalb muss auch jeder eine Verantwortlichkeit dafür übernehmen. Jeder, der vom Schengen-Raum profitieren will, muss in gewisser Weise auch eine Verantwortlichkeit übernehmen, um das Migrationsthema gemeinsam zu lösen - und da sind wir noch nicht. Da kann es unterschiedliche Verantwortlichkeiten geben. Die Kommission beziehungsweise Ursula von der Leyen immer wieder gesagt: Das Migrationspaket ist ausgewogen. Aber keiner kann aus meiner Sicht den Kopf in den Sand stecken und so tun, als ob es ihn oder sie nichts angehe.

MP Mitsotakis: Die Bundeskanzlerin hat hundertprozentig recht, wenn sie sagt, dass wir bis jetzt nicht in der Lage sind, eine gemeinsame europäische Politik zu haben, was die Migrations- und Asylfrage betrifft. Wir versuchen das schon seit Jahren, sind aber noch zu keinem guten Ergebnis gekommen. Deutschland ist nicht nur ein Teil des Problems, sondern auch ein Teil der Lösung dieses Problems. Es gibt andere Länder, die tatsächlich nicht in dieser Richtung gearbeitet haben und die Idee der Solidarität nicht wahrgenommen und diesbezüglich auch nichts getan haben.

Ich glaube, dass wir jetzt sehen, wie sich über die allgemeine Migrationspolitik eine Akzeptanz entwickelt. Wir müssen unsere Grenzen besser schützen. Auf keinen Fall können wir auf europäischer Ebene das tun, was wir jetzt im Rat sehen, nämlich dass arme Leute, die wirklich etwas wollen, als Vehikel gebraucht werden, damit man zu anderen politischen Ergebnissen kommt. Das, was Ende 2020 am Evros passiert ist, kann nicht als Politik verstanden werden, und jetzt passiert das in Belarus - Lukaschenko wurde erwähnt. Europa hat uns unterstützt, aber jetzt hat Europa auch verstanden, dass diese Umsetzung tatsächlich ein großes Problem für uns werden kann.

Wir müssen im Hinblick auf diesen Aspekt jetzt eine sehr klare Position beziehen, und die Bundeskanzlerin hat Recht, wenn sie sagt: Unter Voraussetzungen kann und muss die Türkei mehr tun und muss unser im Hinblick auf dieses Problem unser Partner sein. Wir müssen vor allem mehr tun, wenn wir etwas gegen diese Netze von Schleppern und Schleusern tun wollen. Wir wissen hundertprozentig, was in der Ägäis passiert, und ich glaube, dass ein Staat wie die Türkei in der Lage ist, die Boote aufzuhalten, bevor sie überhaupt losfahren und bevor das Leben von Verzweifelten in Gefahr gerät. Gestern hatten wir ein solches Problem in der Nähe von Chios: Es gab ein Boot und es gab keine Rettungswesten. Dieses Boot fiel auseinander. Wir konnten die Leute noch rechtzeitig auffangen, aber ein paar Leute starben dabei. Das ist etwas, was vonseiten der Türkei nicht stattfinden darf. Da muss das Ganze etwas anders laufen. Wir müssen wirklich versuchen, das Verständnis auszubauen, damit wir in der Lage sind zu verstehen, wie dieses komplexe Thema wahrgenommen wird.

Hinsichtlich dessen, was jetzt intern passiert, muss von uns allen noch ein sehr langer Weg beschritten werden. Ich wiederhole noch einmal: Die Länder, die an der Grenze Europas sind, haben eine sehr große Last wahrzunehmen. Wir glauben: Ja, wir müssen große Unterstützung von Europa erfahren, und ja, die Finanzierung muss tatsächlich dazu führen, dass wir die Technologie bekommen, die uns dabei hilft, festzustellen, wer was tut. Wir müssen aber auch wirklich bessere Grenzen kreieren. Die Kommission ist nicht positiv eingestellt, was das betrifft, aber wir werden das immer wieder wiederholen. Wir sagen: Ein guter Schutz der Grenzen ist die Voraussetzung, wenn wir tatsächlich eine gute Migrationspolitik haben wollen. Dann kann auch Schengen leben. Wenn diese Grenze zusammenfällt, dann werden wir ganz andere Politik sehen und dann werden wir sehen, was andere Länder tun, die sehr weit davon weg sind; denn es gibt immer diese Bewegungen innerhalb der Europäischen Union. Ich glaube, das ist etwas, was wir wirklich nicht wollen - und nicht wollen können.

Herzlichen Dank!