27. Januar – Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus - Gedenkstunde des Deutschen Bundestages - Ansprache von Prof. E. h. Dr. h. c. Ernst Cramer:

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27. Januar – Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus - Gedenkstunde des Deutschen Bundestages - Ansprache von Prof. E. h. Dr. h. c. Ernst Cramer:

  • Bulletin 09-2
  • 27. Januar 2006

Niemand von Ihnen kann auch nur im Entferntesten ermessen, was es für mich bedeutet, jetzt hier zu stehen. Das von Paul Wallot vor 120 Jahren errichtete Reichstagsgebäude war für mich, den im Kaiserreich Geborenen und in der Weimarer Republik Aufgewachsenen, in meinen jungen Jahren so eine Art Tempel der Nation, ein Dom der Demokratie, ein Garant der Aufklärung. In diesem Palast glaubte ich Freiheit, Liberalität, Toleranz, Menschenwürde und wahres Deutschtum fest verankert. Ich war betroffen, als sich in diesem Haus in den Tagen von Weimar Reichstagsabgeordnete der extremen Rechten und der äußersten Linken darin überboten, die deutsche Republik schlecht zu machen. Ich war entsetzt, als dieser ehrwürdige Bau am 27. Februar 1933 von Gegnern eben jenes Weimarer Staates in Brand gesetzt wurde, was andere Feinde der ersten deutschen Republik für ihre eigenen, üblen Zwecke nutzten. All das war ein böses Omen.

Trotz der damaligen Brandschatzung bestand der Reichstag als Institution weiter. Allerdings diente dieses Parlament bald nach der so genannten Machtergreifung nur noch als Forum der Entgegennahme und Billigung von Erklärungen der nationalsozialistischen Reichsregierung. Diese Schein-Volksvertretung, die nicht mehr hier, sondern in der Kroll-Oper zusammentrat, hat die allgemeinen Entrechtungen, die sofort nach dem 30. Januar 1933 begannen und stets besonders die deutschen Juden betrafen, jeweils bedenkenlos gebilligt.

Ein paar Jahre später, am 15. September 1935, hat dann der in jenen Tagen nur noch aus Nationalsozialisten bestehende Reichstag in der Parteitagsstadt Nürnberg die nach diesem Ort benannten Gesetze erlassen. Durch diese wurden allen deutschen Juden, also auch mir, die Bürgerrechte geraubt. Über Nacht wurden mir und allen anderen deutschen Juden die Anrechte entrissen, die sich unsere Vorfahren durch jahrhundertelanges Leben und Wirken in deutschen Landen erworben hatten. Ich und Hunderttausende andere hatten aufgehört, deutsche Bürger zu sein. Wieder ein bisschen später, im November 1938, wurde ich in ein Konzentrationslager verschickt.

Heute nun, ein biblisches Menschenalter danach, stehe ich hier im Reichstag vor den hohen Organen des nochmals erstandenen und wiedervereinten freien Deutschlands und darf uns alle an die Untaten erinnern, die zwischen 1933 und 1945 von Deutschen begangen wurden. Mit Ihnen allen gemeinsam darf ich um die vielen Millionen Opfer trauern, die von Deutschen oder auf deutschen Befehl umgebracht wurden.

Dass diese totale Veränderung möglich wurde, dass Deutschland als freier, freiheitlicher und zutiefst verantwortungsbewusster Staat noch einmal erstehen konnte, aber auch, dass wir heute hier und in der ganzen Welt der vielen Opfer von damals gedenken, dafür danke ich allen Beteiligten:

Ich danke den Soldaten vieler Nationen, die das nationalsozialistische Deutschland bekämpften und besiegten. Ich danke den Politikern und Staatsmännern, die nach dem Zweiten Weltkrieg nicht die Fehler von 1919 – ich denke an Versailles – wiederholten, sondern einem geläuterten Deutschland die Chance zur Erneuerung gaben. Ich danke all denen, die halfen, die staatlichen, die geistigen und die wirklichen Trümmer zu beseitigen und unser Deutschland neu zu errichten.

Ich danke auch den Frauen und Männern – besonders denen im Osten dieses Landes –, die den Glauben an ein freies Deutschland nie aufgaben und durch ihren Mut die Wiedervereinigung, die wir heute feiern, möglich machten. Ich danke dafür, dass der Tag der Befreiung von Auschwitz von Bundespräsident Roman Herzog als Tag des Gedenkens an alle Opfer der nationalsozialistischen Unrechts- und Gewaltherrschaft festgelegt wurde.

Ich danke dem Bundestag, den in freien Wahlen gekürten Vertretern aller Deutschen, dass diese Gedenkstunde hier stattfinden kann. Ich danke dem Vogler-Quartett für die würdige Umrahmung dieser Feststunde. Von den Komponisten, die Sie heute spielen, habe ich zwei persönlich gekannt; ich überlasse es Ihnen, zu raten, wer die zwei waren.

Dem Herrn Bundestagspräsidenten danke ich für seine freundlichen, bemerkenswerten und erinnernswerten Worte und auch einfach dafür, dass er mich eingeladen hat, hier zu Ihnen zu sprechen.

Aber ganz besonders danke ich Gott, dass Er all dies möglich gemacht hat. Ich danke Ihm mit einem uralten jüdischen Lobspruch, der für alle monotheistischen Religionen Gültigkeit hat oder zumindest haben sollte: "Boruch Ha’Schem" – Gelobt sei Sein heil’ger Name.

Herr Bundespräsident,
liebe Frau Köhler,
Herr Bundestagspräsident,
Frau Bundeskanzlerin,
Herr Bundesratspräsident,
Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts,
verehrte frühere Würdenträger und – das betone ich – Baumeister des neuen Deutschlands!
Meine sehr geehrten Damen und Herren Minister des Bundes und der Länder,
sehr geehrte Exzellenzen,
hochverehrte Abgeordnete des Deutschen Bundestages!
Meine Damen und Herren und liebe Freunde!

Wir sind – das haben wir schon gehört – hier versammelt, um am Jahrestag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz aller Opfer des Nationalsozialismus zu gedenken.

Auch in meiner Kindheit und Jugend war der 27. Januar eine Art Gedenktag, allerdings ein ganz anderer, einer ohne die heutige Tragik. Es war Kaisers Geburtstag. Obwohl Wilhelm II. schon vor meiner Schulzeit abgedankt hatte, überboten sich bei mir sowohl in der Volksschule als auch später im Gymnasium all meine Lehrer darin, an jedem 27. Januar die Würde des letzten deutschen Kaisers zu preisen. Alle meine Lehrer waren eben leider keine Sympathisanten der Weimarer Republik gewesen.

Dass auch Wolfgang Amadeus Mozart an einem 27. Januar geboren wurde, das fand man damals überhaupt nicht erwähnenswert. Ich freue mich, dass heute dank des Komponisten von "Don Giovanni", von "Figaros Hochzeit", der "Zauberflöte", der Haffner-Sinfonie und des Requiems – um nur einige Werke zu erwähnen – dieser Gedenktag an haarsträubende, von Deutschen begangene und dennoch dem deutschen Wesen nicht entsprechende Untaten ergänzt wird durch die jubilierende Erinnerung an das universalste tonschöpferische Genie, das je in deutschen Landen, ja in der Welt gelebt und gewirkt hatte, eben an Wolfgang Amadeus Mozart.

Wir aber sind – ich wiederhole es – heute zusammengekommen, um der Opfer des Nationalsozialismus zu gedenken. "Auschwitz", so sagte Bundespräsident Roman Herzog in seiner vor zehn Jahren gehaltenen Gedenkansprache, "steht symbolhaft für millionenfachen Mord – vor allem an Juden, aber auch an anderen Volksgruppen." Zwar war der Judenhass der Hauptmotor, der die Nationalsozialisten antrieb, und auch der wichtigste Kitt, der sie immer wieder zusammenhielt und wie ein Fliegenfänger auch viele andere Deutsche einfing; dennoch gedenken wir heute nicht nur der jüdischen, sondern auch aller anderen Opfer des Nationalsozialismus: Wir gedenken der vielen ermordeten Sinti und Roma, die man damals allgemein Zigeuner nannte. Wir gedenken der weiblichen und männlichen Homosexuellen, der Behinderten und der anderen Euthanasiegeschädigten, der Verurteilten einer willkürlichen beziehungsweise einer auf Befehl handelnden Militärgerichtsbarkeit, der politischen und der angeblich arbeitsscheuen Häftlinge. Wir gedenken der hauptsächlich aus dem europäischen Osten stammenden Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter und natürlich der Frauen und Männer des vielgestaltigen Widerstandes in Deutschland. Kurz: Wir gedenken in Demut, Trauer und mit dem feierlichen Versprechen, in Zukunft die Freiheit jedes Menschen zu achten und zu verteidigen, aller, die von den Nationalsozialisten und ihren Helfershelfern drangsaliert, unterdrückt, verdammt, vertrieben und schließlich ermordet wurden.

Vor einem Jahr nannte der damalige Außenminister Joschka Fischer vor den Vereinten Nationen Auschwitz "den Tiefpunkt der deutschen Geschichte". Dieses Urteil möchte ich nicht nur bekräftigen, sondern dazu auch eine Anmerkung wiederholen, die ich an anderer Stelle schon einmal machte: Die Juden waren damals – das kann man gar nicht oft genug betonen – nicht die alleinigen Leidtragenden, aber sie waren die Hauptbetroffenen. Dieser ruchlose Massenmord, dieser Genozid, war die größte Katastrophe, welche die Juden je befiel, schlimmer als die Zerstörung des Tempels durch die Römer im Jahre 70, schlimmer als die Massaker zu Beginn der Kreuzzüge und schlimmer als die Vertreibungen von der Iberischen Halbinsel im Zusammenhang mit der Inquisition.

Was aber, frage ich mich und frage ich Sie, bedeutet der Millionenmord, an den wir uns heute – und hoffentlich nicht nur heute! – erinnern, für die Deutschen? Der Zivilisationsbruch, den die Nationalsozialisten verübten und an dem viele Deutsche in den verschiedensten Formen mitwirkten, war auch die größte – wenn auch eine selbstverschuldete – Katastrophe und gleichzeitig die unbegreiflichste Tragödie in der deutschen Geschichte. So tief war Deutschland vorher nie gesunken. Ohne Täter und Opfer durcheinander zu bringen oder gar gleichzustellen, steht für mich fest: Die grauenhafteste Heimsuchung in der Geschichte der Juden war auch – spiegel- und schicksalsverkehrt – das größte Desaster in der Geschichte der Deutschen, eben der Tiefpunkt.

Ich weiß, wovon ich spreche. Als deutscher Jude, der ich trotz der vielen Wechselfälle meines Lebens immer geblieben bin, gehöre ich zu beiden Gruppen: zu den Juden und zu den Deutschen. Zweifach spüre ich deshalb das Leid und die Tragik.

Ich sprach von mir als deutschem Juden, der ich geblieben bin, obwohl ich 1945 als amerikanischer Soldat nach Deutschland zurückgekommen war. Erlauben Sie mir deshalb, zur Erklärung jetzt ganz kurz auf mein Leben zurückzublicken.

Als ich aufwuchs und zur Schule ging, war beides – Judentum und Deutschtum – etwas Selbstverständliches, etwas scheinbar Untrennbares. Oft hatte mein Vater Jakob Wassermann zitiert, der in seinem Essay "Mein Weg als Deutscher und Jude" das aussprach, was der Großteil der deutschen Juden damals fühlte. Ich selbst las, was Gabriel Riesser, der Hamburger Jurist und spätere Vizepräsident der Frankfurter Nationalversammlung, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gesagt hatte: "Wir" – die deutschen Juden – "sind nicht eingewandert. Wir sind eingeboren." Bei anderer Gelegenheit sagte er: "Wer mir den Anspruch auf mein deutsches Vaterland bestreitet, der bestreitet mir das Recht auf meine Gedanken, meine Gefühle, auf die Sprache, die ich rede, auf die Luft, die ich atme." Etwas überhöht sagte das etwa ein Jahrhundert später der – schließlich auch aus Deutschland vertriebene – Theaterkritiker Julius Bab: "Durch deutsche Weisheit und deutsche Kunst haben wir den Weg zur Kulturgemeinschaft der Welt gefunden."

Zurückblickend kann ich feststellen: Obwohl es immer wieder auch antisemitische Auswüchse gab, fühlte ich mich nicht nur als Deutscher, ich war Deutscher, wie alle meine Schulkameraden und anderen Mitbürger neben mir. Meine Heimat, wie die fast aller deutschen Juden, das war hauptsächlich die deutsche Sprache, was zum Beispiel die vorhin erwähnte Hannah Arendt und der leider viel zu selten zitierte Dichter Karl Wolfskehl in der Emigration oft betonten und was schon Heine in seinem "Wintermärchen" beschrieb. Sie alle kennen es, ich zitiere es noch einmal:

"Und als ich die deutsche Sprache vernahm,
Da ward mir ganz seltsam zumute;
Ich meinte nicht anders, als ob das Herz
Recht angenehm verblute."

Ein schöneres Bekenntnis zur deutschen Sprache kenne ich nicht.

Der Zionismus, der Wunsch zur eigenen jüdischen Heimstatt, nahm unter den deutschen Juden so lange einen zweiten Platz ein, bis Adolf Hitler an die Macht kam. Allerdings glaubten auch später, nach 1933, viele – ich gehörte dazu – noch lange, allzu lange, dass es selbst unter dem Nationalsozialismus für Juden in Deutschland einen Modus Vivendi, eine Lebensmöglichkeit gebe. An Massenmord dachte keiner.

Das änderte sich nach dem Verlust der Bürgerrechte im September 1935 und – besonders für mich – nach einem KZ-Aufenthalt im Herbst 1938. Schließlich konnte ich im Sommer 1939 in die Vereinigten Staaten einwandern. Ich möchte hier öffentlich bekennen, dass ich dafür immer dankbar bleiben werde.

Als dann im Dezember 1941 nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor die damalige deutsche Regierung den Vereinigten Staaten den Krieg erklärte, betrieb ich meine sofortige Einberufung in die amerikanische Armee. Als amerikanischer Soldat wurde ich auch amerikanischer Bürger.

1944 landete ich an der französischen Ärmelkanalküste und machte den Feldzug durch Frankreich und Deutschland mit. Durch einen Zufall war ich am 8. Mai 1945, also am Tag des Kriegsendes, in meiner Heimatstadt Augsburg. Noch bis zuletzt hatte ich gehofft, dort irgendwie meine Eltern und meinen jüngeren Bruder lebend anzutreffen. Diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Alle drei waren schon in der Passionswoche des Jahres 1942 in den europäischen Osten deportiert und dann ermordet worden.

Das war in knappen Worten mein Lebenslauf bis zum Ende des Krieges. Das heißt, Auschwitz habe ich selbst nicht erlebt. Die Gründung dieses schließlich größten Konzentrations- und Vernichtungslagers erfolgte ja erst nach meiner Auswanderung. Aber ich weiß natürlich, was für Verbrechen dort begangen wurden. Die Vergasungen mit dem hochgiftigen Vertilgungsmittel Zyklon B begannen in Auschwitz im September 1941. Die ersten Opfer waren gefangene sowjetische Soldaten. Die Vergasungen von Juden, deren Zahl dann in die Millionen ging, fingen im Oktober 1941 an.

Neben Auschwitz gab es noch eine Reihe von anderen Vernichtungsstätten, ganz abgesehen von den Konzentrationslagern in Deutschland. Die Vernichtungsstätten im Osten waren Belzec, Chelmno, Majdanek, Sobibór und Treblinka. All diese Lager im europäischen Osten hatten einen einzigen Hauptzweck: die heimliche Tötung von unliebsamen Häftlingen, hauptsächlich von Juden. Die genaue Gesamtzahl der dort und im ganzen europäischen Osten Ermordeten, die in die Millionen geht, ist unbekannt. Dazu wurde jahrelang geforscht. Aber die genaue Zahl ist nicht bekannt.

Immer wenn ich an das Grauen von Auschwitz denke, wo ich selbst nicht war, lebt in mir wie ein Albtraum die Erinnerung an Buchenwald wieder auf. Ich habe es schon erwähnt: Dorthin wurde ich im Verlauf der Novemberpogrome des Jahres 1938 verbracht. Ich will nun nicht im Einzelnen schildern, was ich dort alles erlebte und sah; denn sonst müssten wir hier ein paar Stunden beisammenbleiben. Es mag genügen, dass ich sage: Es war furchtbar, es war unvorstellbar. Am schlimmsten war es natürlich nicht für mich, der ich damals erst 25 Jahre alt war, sondern für die Alten und Kranken.

Während der Pogrome in Deutschland wurden bei diesen angeblich spontanen Ausschreitungen unzählige Synagogen und Bethäuser demoliert und etwa 8.000 jüdische Geschäfte geplündert. Ums Leben kamen damals etwa 100 Menschen. Was für mich so unverständlich ist: Diese Verwüstungen haben Tausende Nichtjuden gesehen, aber so gut wie keiner hat etwas getan. Natürlich gab es Ausnahmen, wie es während der ganzen nationalsozialistischen Zeit immer wieder Einzelne gab, die bei der allgemeinen Verrohung und beim Wegschauen nicht mitmachten. Ich will nur ein einziges Beispiel nennen.

Es war in Ostpreußen, in einem Gebiet, das heute nicht mehr zu Deutschland gehört. Als der Landrat von Schloßberg, ein Mann namens Wichard von Bredow, hörte, dass in seinem Landkreis die Synagoge angezündet werden sollte, zog er seine alte Uniform an und sagte Frau und Kindern: "Ich will als Christ und Deutscher ein Verbrechen in meinem Amtsbereich verhindern." Dann stellte er sich mit geladener Pistole vor die Synagoge und schwor, nur über seine Leiche könne dieses Gotteshaus entweiht werden. Das Wunder geschah: Die Synagoge blieb dank dieses wackeren Mannes unberührt.

Noch einmal kurz zurück zu Buchenwald: Bald schon wurden solche Häftlinge entlassen, die nachweisen konnten, dass ihre Auswanderung bevorstand. Damals, 1938, war es noch nationalsozialistische Politik, die Juden zum Verlassen ihrer Heimat zu zwingen. Die Politik des Massenmordes begann erst ein paar Jahre später. Auch ich selbst wurde nach ganz kurzer Zeit, schon nach einigen Wochen, aus Buchenwald entlassen. Auf der Rückreise begegnete ich zwei integer gebliebenen einfachen Leuten. Ein Arbeiter im Zug steckte mir heimlich ein belegtes Brot in meine Tasche. Eine Klosettfrau in Berlin nahm von mir kein Geld, nachdem sie erkannt hatte, dass ich aus einem KZ kam. Anstand war in Deutschland Mangelware geworden, aber man fand ihn noch, manchmal an den unglaublichsten Plätzen.

Nicht ganz fünfeinhalb Jahre später war ich wieder in Buchenwald, diesmal als amerikanischer Soldat, quasi als Befreier. Aber was ich an jenem 11. April 1945 dort sah, ließ das, was ich selbst erlebt hatte, zu einem Nichts zusammenschrumpfen. Die gerade befreiten Häftlinge waren lebendige Skelette. Sterbende lagen mit glanzlosen Augen um mich herum am Boden. Tote waren wie Holzscheite aufeinander gestapelt. Ein Leichengeruch hing in der Luft. Der Gedanke, dass es in Auschwitz noch schrecklicher gewesen sein musste, war kaum zu ertragen. 1938, als ich selbst dort war, war Buchenwald ein sadistisch geführtes Straflager. 1945 aber war es eine Stätte des Todes.

Wenn ich an den Anfang zurückdenke, dann war damals in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Diktatur das Schlimmste, dass Menschen, mit denen man bisher normal verkehrte, ja mit denen man befreundet war, sich plötzlich rar machten. Man fühlte sich auf einmal als Außenseiter, als Paria, als Ausgestoßener. Das war nicht nur, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg oft verharmlosend hieß, Feigheit oder Angst. Nein, es war für die meisten ein unverständliches Anpassen an das Böse, das man oft gar nicht mehr als solches erkannte. Es war ein Gesinnungswandel, es war eine Gesinnungslumperei. In vielen Menschen hatte damals der Teufel über Gott gesiegt.

Erlauben Sie mir, Folgendes zu sagen: Am meisten hat mich in jener Zeit das weitgehende Verstummen der christlichen Kirchen bestürzt. Indem ich das feststelle, verbeuge ich mich in großer Dankbarkeit vor den wenigen leuchtenden Ausnahmeerscheinungen. Eine der hehrsten möchte ich kurz zitieren. Es ist der Widerstandsgeistliche Dietrich Bonhoeffer, der noch am 9. April 1945, einen Monat vor Kriegsende, auf Befehl Hitlers im KZ Flossenbürg gehängt wurde und dessen 100. Geburtstag nächste Woche begangen wird. Pastor Bonhoeffer stellte fest:

"Die Kirche war ... stumm, wo sie hätte schreien müssen,
weil das Blut der Unschuldigen zum Himmel schrie."

Ich sprach vom Versagen der christlichen Kirchen und ich wiederhole, wie sehr ich die wenigen Einzelnen bewundere, die damals ihrem Glauben und ihrem Gewissen folgten. Das Gebot "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" findet sich nicht nur beim Evangelisten Matthäus; es steht auch schon im dritten Buch Mose. Aber der Aufruf zur für alle geltenden Liebe wurde sehr bald das wichtigste Moralgesetz des Christentums. Bereits im ersten Brief des Apostels Paulus an die Korinther heißt es:

"Nun aber bleiben Glaube, Liebe, Hoffnung, diese drei;
aber die Liebe ist die größte unter ihnen."

Franz Rosenzweig, der mit Buber die Bibel übersetzte, sagte in seinem philosophischen Hauptwerk "Der Stern der Erlösung":

"Liebe deinen Nächsten. Das ist, so versichern Jud’ und
Christ, der Inbegriff der Gebote."

Ich fragte mich damals und ich frage Sie heute: Wo blieb in der Zeit zwischen 1933 und 1945 die christliche Liebe zu den Juden, Sinti und Roma und vielen anderen? Wie nötig wäre damals eine Enzyklika über die Liebe gewesen, von der wir in diesen Tagen in den Zeitungen lesen konnten!

Die Kirchen also bewährten sich damals in diesem so wichtigen Punkt ebenso wenig wie der Großteil der deutschen Bevölkerung, und das trotz der vorbildlichen Haltung Einzelner. Dieses allgemeine Versagen der Deutschen ist unverständlich im Hinblick auf das, was sich vor den Augen jedes Einzelnen abspielte. Gewiss, nur eine Minderheit konnte wissen, was in den Vernichtungslagern wirklich geschah. Das wurde bewusst geheim gehalten. Aber jeder konnte sehen, was zu Hause ablief. Man sah, wie Behinderte schikaniert wurden, wie man Homosexuelle misshandelte oder Roma und Sinti entrechtete. Man sah ganz besonders, wie man den Juden zuerst die Lebensmöglichkeit nahm, dann ihre Gotteshäuser schändete, sie später vertrieb, abholte und in eine ungewisse Zukunft verschickte.

All das konnte man sehen. Doch allzu viele haben einfach weggeschaut. Erst in diesen Tagen sind ein angesehener Bergsteiger und Tibetforscher sowie eine großartige Schriftstellerin gestorben, die beide bekannten und bedauerten, in ihrer Jugend schuldig geworden zu sein.

Wenn ich selbst an solche Menschen denke, stellt sich mir sehr oft die Frage, wie ich mich wohl verhalten hätte, wenn ich damals ein nichtjüdischer Deutscher gewesen wäre. Ich hoffe, ich wäre, der Richtschnur meiner Mutter folgend, ehrenhaft geblieben. Aber mit Sicherheit kann ich das nicht behaupten. Ich warne auch die Nachgeborenen. Viele von ihnen sprechen nicht nur ihre Väter und Großväter schuldig, sondern verkünden vollmundig, so etwas wäre bei ihnen völlig unmöglich gewesen. Aber niemand sollte über andere urteilen, der den Verlockungen nicht selbst ausgesetzt war.

Jetzt mache ich in meinen Gedanken einen großen Sprung. Ich komme vom Damals zum Heute. Einerseits leben jetzt in Deutschland so gut wie keine eingeborenen deutschen Juden mehr; ich bin einer der letzten. Andererseits entwickelt sich hier eine wachsende jüdische Gemeinschaft. Das ist ein großes Zeichen des Vertrauens. Es gibt – weitgehend als Folge der nationalsozialistischen Ausrottungspolitik – ein Land der Juden, Israel. Zu diesem Staat unterhält Deutschland seit 40 Jahren diplomatische Beziehungen und gehört seitdem zu seinen zuverlässigsten internationalen Fürsprechern. Es gibt christlich-jüdische Vereinigungen. In Deutschland werden mehr Doktorarbeiten über jüdische Themen als in irgendeinem anderen Land geschrieben.

Im Mai des vergangenen Jahres wurde in der politischen Mitte Berlins das Mahnmal für die ermordeten Juden eingeweiht. Die Berliner und ihre Besucher haben es sofort angenommen. Vielleicht darf ich in diesem Zusammenhang bemerken: Hoffentlich folgen nun bald auch die versprochenen Gedenkstätten für andere Verfolgtengruppen.

In Deutschland leben also wieder Juden. Leider gibt es – nicht deshalb, sondern völlig unabhängig davon – auch hier wie in anderen Teilen Europas wieder Antisemitismus. Dieser ist da, auch wenn sich Judenfeindschaft heute weitgehend versteckt oder als Kritik an Israel tarnt, wobei man manchmal die sinnwidrige These hören kann, die Israelis seien die Nazis von heute.

Auch der Antiamerikanismus ist dem Antisemitismus recht oft sehr nahe. In leichter Abänderung einer hitlerschen These hört man oft, die Juden hätten in den USA zu viel Einfluss, sie bestimmten vor allem hauptsächlich wegen Israel die amerikanische Außenpolitik. All das ist Humbug, aber es wird geglaubt.

Neonazis sind in diesem Lande wieder aktiv. Dabei handelt es sich nicht um alte Parteigenossen von früher – die sind tot –, sondern weitgehend um junge Menschen, bei denen die bekannten alten Vorwürfe und Vorurteile wieder einen Saatboden finden.

Dennoch kann ich an dieser Stelle sagen: Es besteht kein Grund zur Sorge, wenn Sie, wenn wir alle wachsam bleiben, wenn wir, sobald Antisemitismus irgendwo in der Welt virulent wird, wie etwa heute bei der iranischen Staatsführung oder wenn in Palästina eine radikale Bewegung an die Macht kommt, das nicht einfach zur Kenntnis nehmen, sondern zu aktivem Tun bereit sind.

Nun habe ich, zum Schluss kommend, einen Wunsch. Ich bitte Sie, nach meinen Worten nicht, wie es üblich ist, Beifall zu klatschen. Wir gedenken in dieser Feierstunde am zentralen politischen Gestaltungsort Deutschlands – ich wiederhole: am zentralen politischen Gestaltungsort Deutschlands – der Millionen Menschen, denen der Nationalsozialismus den Tod brachte. Wir gedenken der jüdischen und aller übrigen Opfer. Daneben gedenke ich und gedenken viele von Ihnen auch der anderen Opfer, die im vergangenen Jahrhundert in vielen Teilen der Welt getötet wurden, in der Zeit, für die der weise Friedrich Nietzsche den Nihilismus voraussagte, in dem Jahrhundert, in dem mehr Menschen von anderen Menschen umgebracht wurden als je zuvor.

Anstelle einer Beifallsbekundung werde ich Sie um eine Minute des dem Angedenken gewidmeten Schweigens bitten: zunächst zum Gedenken an die sechs Millionen getöteten Juden, zu denen auch meine Eltern gehörten, an die ermordeten Sinti und Roma und an alle Opfer des Nationalsozialismus, aber darüber hinaus an alle, die im 20. Jahrhundert irgendwo auf der Erde wegen ihres Glaubens, ihrer Rasse, ihrer Abstammung, ihres Geschlechts oder auch völlig grundlos ermordet wurden. Auf diese Weise, durch gemeinsames Schweigen, ehren wir sie alle.

Ich darf Sie nun um diese eine Minute der absoluten Stille bitten.

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