27. Januar – Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus - Gedenkstunde des Deutschen Bundestages - Ansprache des Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse:

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27. Januar – Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus - Gedenkstunde des Deutschen Bundestages - Ansprache des Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse:

  • Bulletin 09-1
  • 27. Januar 2004

Herr Bundespräsident!
Herr Bundeskanzler!
Herr Bundesratspräsident!
Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts!
Verehrte Frau Veil!
Liebe Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages!
Verehrte Gäste!
Meine Damen und Herren!

Als sowjetische Soldaten am 27. Januar 1945 das Konzentrationslager Auschwitz befreiten, machten sie eine grausame Entdeckung. Sie fanden nur noch 7.600 Überlebende, dafür aber 348.820 Männeranzüge und 836.525 Frauenkleider: Spuren der Opfer, Dokumente der Entmenschlichung und planmäßigen Ermordung, die die SS nicht mehr rechtzeitig hatte vernichten können. Insgesamt 6 Millionen Juden sind von den Nationalsozialisten ermordet worden - in Auschwitz und in vielen anderen Konzentrations- und Vernichtungslagern.

Wir kommen heute zum neunten Mal im Plenum des Deutschen Bundestages zusammen, um dieses - so Churchill - "größten und furchtbarsten Verbrechens der Weltgeschichte" zu gedenken. Jenseits der politischen Aufregungen, jenseits des parlamentarischen Streits ist heute ein Tag der Stille, ein Tag, der dem Gedenken der Opfer gewidmet ist: der Juden vor allem, aber auch der Sinti und Roma, der Homosexuellen, der Kriegsgefangenen, der Deserteure, der Behinderten, der Euthanasie-Opfer, der politischen Häftlinge und aller anderen, die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft geworden sind. Sie alle haben das gleiche Recht auf Anerkennung und würdigendes Gedenken.

Auch Kinder, jüdische Kinder vor allem, sind dem Rassenwahn der Nazis zum Opfer gefallen. Auch sie wurden in Waggons gepfercht, nach Auschwitz deportiert und dort - zumeist sofort nach ihrer Ankunft - vergast. Darunter waren auch 44 Kinder, die in dem französischen Dörfchen Izieu vor den Nazis versteckt worden waren. Doch am Morgen des 6. April 1944 holte die Gestapo die Kinder ab. Klaus Barbie, der verhasste "Schlächter von Lyon", hatte ihr Versteck entdeckt und die Deportation angeordnet. Das Schicksal der Kinder von Izieu ist durch den Prozess gegen Klaus Barbie weithin bekannt geworden. In diesen Tagen erinnert hier in Berlin eine außergewöhnliche Ausstellung daran - außergewöhnlich deshalb, weil sie von deutschen und französischen Schülern gemeinsam erarbeitet wurde. Zusammen mit Simone Veil habe ich diese Ausstellung des Deutsch-Französischen Jugendwerks gestern eröffnet.

Wir haben Anlass, heute besonders der jüdischen Kinder zu gedenken, die in Konzentrationslager deportiert und dort ermordet wurden; denn das Schicksal von Simone Veil ist eng mit dem der Kinder von Izieu verknüpft. Die Nazis spürten ihre Familie in Nizza auf und deportierten sie nach Drancy. Dort kam Simone Veil am gleichen Tag wie die Kinder von Izieu an, am 7. April 1944. Sechs Tage später wurde sie mit ihnen im Transport Nr. 71 nach Auschwitz deportiert. 13 Monate lang war Simone Veil in Auschwitz und in Bergen-Belsen inhaftiert. Sie gehört zu den wenigen, die den Konzentrationslagern entkommen sind.

Wir sind dankbar dafür, dass sich Simone Veil bereit gefunden hat, heute hier im Deutschen Bundestag zu uns zu sprechen. Es hat lange gedauert, bis sie begonnen hat, über die Vergangenheit zu reden - nicht nur, weil das Reden die Erinnerung an diese, wie sie sagte, "permanente Entwürdigung" voraussetzte, sondern weil sie viele Jahre lang das Gefühl hatte, dass niemand ihre Geschichte hören wollte. Erst nachdem sie Ministerin geworden war, sei sie aus der Anonymität herausgetreten und habe so die Gelegenheit bekommen, öffentlich über die Deportation zu sprechen. Seitdem hat sie das immer wieder getan, und zwar ebenso eindringlich wie engagiert. Damit hat sie nicht nur in Frankreich, sondern auch in ganz Europa einen unschätzbaren Beitrag dazu geleistet, die Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialisten wach zu halten und weiterzugeben.

In Deutschland ist Simone Veil vor allem als Präsidentin des Europäischen Parlaments bekannt geworden, ein Amt, das sie von 1979 bis 1982 bekleidete. Die europäische Einigung ist für sie zur Leidenschaft und zur Lebensaufgabe geworden. Bis heute hat ihr Engagement für die europäische Einigung nichts an Überzeugungskraft eingebüßt. Es ist wohl kein Zufall, dass Simone Veil als Überlebende des Holocaust zur überzeugten Europäerin wurde; denn die Europäische Union, diese konkrete Utopie des Friedens, ist die Konsequenz aus der zivilisatorischen Katastrophe von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg.

Die Vision eines friedlichen und vereinten Europas hat inzwischen ihre Wirkung entfaltet - weit schneller sogar, als das bei Kriegsende vielen vorstellbar erschien. Wer hätte es damals für möglich gehalten, dass Deutsche und Franzosen im Jahr 2003 auf 40 Jahre intensiver Zusammenarbeit und zuverlässiger Freundschaft zurückblicken? Annäherung und Versöhnung wären nicht denkbar gewesen ohne den festen Willen, niemals wieder zuzulassen, dass Intoleranz und Rassismus, Willkür und Gewalt unser Miteinander bestimmen. So konnte gegen alle Wahrscheinlichkeit zwischen den europäischen Völkern wieder Vertrauen wachsen. Ein besonderer Vertrauensbeweis ist es, dass heute in Deutschland wieder Juden leben. Niemand hätte bei Kriegsende für möglich gehalten, dass die Jüdische Gemeinde in Deutschland heute wieder die drittgrößte Europas ist. Paul Spiegel hat es jüngst in einem Interview betont: Viele der Juden, die sich heute entschließen, nach Deutschland zu kommen, vertrauen darauf, dass es gerade in unserem Land, im Land des Holocaust, keinen Nährboden für Antisemitismus mehr gibt. Dieses Vertrauen ist eine Verpflichtung, für deren Erfüllung wir alle einstehen müssen.

Umso bestürzender ist die Erkenntnis, dass sich wieder Antisemitismus - manifester wie latenter - in unserer Gesellschaft breit macht. Aus diesem Grunde haben die Abgeordneten des Deutschen Bundestages im Dezember des letzten Jahres einmütig ihre Entschlossenheit bekundet, den Antisemitismus in allen seinen Erscheinungsformen entschieden zu bekämpfen.

Als Bundespräsident Roman Herzog den 27. Januar zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus erklärte, hoffte er, dass wir Deutsche - so sagte er - "gemeinsam Formen des Erinnerns finden, die zuverlässig in die Zukunft wirken." Er wollte vor allem junge Menschen anregen, über die Vergangenheit nachzudenken und die notwendigen Konsequenzen daraus zu ziehen. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, wie wir heute, mit zunehmendem zeitlichen Abstand, das historische Wissen so vermitteln können, dass es tatsächlich bei der jungen Generation ankommt und auch ein Bewusstsein für die eigene Verantwortung schafft.

Ich bin zuversichtlich, dass jede Generation eigene Wege und Formen des Erinnerns finden wird und finden kann. Die erwähnte Ausstellung über die Kinder von Izieu ist ein hoffnungsvolles Beispiel - auch und vor allem deshalb, weil es nationale Grenzen überschreitet. Wenn junge Menschen aus Deutschland und Frankreich so intensiv forschen, miteinander diskutieren und Projekte realisieren, dann entstehen neue, gemeinsame Formen des Erinnerns, dann bekommt die Auseinandersetzung mit dem Holocaust eine tiefere, eine europäische Dimension.

Der Holocaust war eine europäische Katastrophe, heraufbeschworen und ausgelöst von Deutschen. So kamen die Transporte nach Auschwitz aus Frankreich, aus der Tschechoslowakei, aus Holland, Belgien, Griechenland, Italien, Lettland, Ungarn und Österreich. Auschwitz war das Zentrum einer ganz Europa erfassenden Todesmaschinerie. Simone Veil hat zu Recht festgestellt:

"Ob wir das wollen oder nicht, der Holocaust hat alle Länder Europas mit seinem glühenden Brandeisen gezeichnet. Der Holocaust ist integraler Bestandteil unserer nationalen und europäischen Identität. In gewisser Hinsicht stellt er sogar das europäischste aller Ereignisse des 20. Jahrhunderts dar."

Das Entsetzen über den Holocaust hat die Europäer wieder zusammengeführt - in der Rückbesinnung auf die gemeinsamen Werte Europas, die von den Nationalsozialisten mit Füßen getreten wurden, in der Rückbesinnung auf Menschenwürde und Menschenrechte, Freiheit und Gerechtigkeit, Respekt und Toleranz, auf die Ideale von Humanismus und Aufklärung.

Alle Phasen unserer Geschichte - die dunklen wie die glücklichen - haben die kulturelle Identität Europas geprägt. Wenn im Zuge der politischen auch die kulturelle Integration Europas vorankommen soll, dann kann das nur auf der Grundlage einer europäischen Kultur der Erinnerung gelingen. Zwar mag es noch länger dauern, bis überall in der Welt gleichermaßen, bis überall in Europa gleichermaßen ein offener, vorurteilsfreier und verantwortungsvoller Umgang mit unserer wechselvollen Geschichte möglich ist. Doch gerade ihre schwierigsten Kapitel, zu denen auch die Vertreibung als Folge des Holocaust gehört, können ohne europäische Perspektive nicht angemessen erforscht und erinnert werden.

Und vor allem: Eine grenzüberschreitende Aufarbeitung des Holocaust wird jungen Menschen umso deutlicher vor Augen führen, dass die positiven Werte und Traditionen Europas keine Selbstverständlichkeit sind, die Werte und Traditionen, die bis heute das Fundament der Europäischen Union bilden und die jetzt auch möglichst bald in einer europäischen Verfassung niedergelegt werden sollten. Die Zukunft Europas hängt davon ab, dass sich auch die jungen Generationen mit der Europäischen Union als Friedenswerk und als Wertegemeinschaft identifizieren, ihre Werte verinnerlichen und ein europäisches Bewusstsein entwickeln. Deshalb ist es unsere Aufgabe, die Erfahrungen der Geschichte im europäischen Gedächtnis zu bewahren und ihre Lehren in unserem politischen Handeln lebendig werden zu lassen.

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