27. Januar – Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus - Gedenkstunde des Deutschen Bundestages am 29. Januar 2007 - Ansprache des Bundestagspräsidenten Dr. Norbert Lammert:

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27. Januar – Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus - Gedenkstunde des Deutschen Bundestages am 29. Januar 2007 - Ansprache des Bundestagspräsidenten Dr. Norbert Lammert:

  • Bulletin 08-1
  • 29. Januar 2007

Sehr geehrter Herr Bundespräsident!
Verehrte Frau Köhler!
Frau Bundeskanzlerin!
Herr Bundesratspräsident!
Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts!
Verehrter, lieber Herr Kertész! Liebe Frau Kertész!
Exzellenzen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages!
Verehrte Gäste!

Der Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus ist in der Abfolge der jährlichen Gedenktage nicht irgendeiner, "noch einer", sondern gewissermaßen der erste.

Der Gedenktag erinnert an die vielleicht größte Katastrophe der Menschheitsgeschichte, die in Europa stattgefunden hat und von Deutschland verursacht wurde: eine von Menschen organisierte Hölle der Entrechtung und Verfolgung anderer Menschen, die für minderwertig erklärt wurden. Er erinnert an den industriell organisierten Massenmord, der bis zur Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch Soldaten der Roten Armee am 27. Januar 1945 Millionen unschuldiger Opfer gefunden hat.

Der Deutsche Bundestag ist heute wie in jedem Jahr zusammengekommen, um an diesem Jahrestag aller Opfer des Nationalsozialismus zu gedenken: Wir gedenken der ermordeten Juden Europas, der Sinti und Roma, der Homosexuellen, der Euthanasieopfer, wir gedenken all der Menschen, die wegen ihrer religiösen oder politischen Überzeugungen ermordet wurden, und wir sind mit unseren Gedanken bei denen, die als Überlebende der Vernichtungslager vom Trauma des Überlebens gezeichnet sind und für die das Grauen der Konzentrationslager mit dem Verlust ihrer Angehörigen und Freunde lebendig geblieben ist.

Der italienische Schriftsteller Primo Levi, einer der Überlebenden des Holocaust, bilanzierte seine qualvolle Auseinandersetzung mit den Erfahrungen in Auschwitz und Birkenau mit der bitteren Mahnung: "Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen." Damit meinte er ganz gewiss nicht jene schlichte Erwartung, dass Geschichte sich genau so wiederholen, sich selbst kopieren könnte. Er hatte wohl eher die Tatsache vor Augen, dass es der Mensch selbst ist, der Humanität, Recht und Menschenwürde immer wieder gefährdet. Darum dürfen wir nie verdrängen und nicht müde werden, zu betonen, dass Freiheit und Demokratie, Toleranz und Humanität keine selbstverständlichen Gewissheiten sind, sondern das fortdauernde Engagement jedes Einzelnen von uns voraussetzen.

Die Erfahrung des Holocaust gehört zu den ungeschriebenen Gründungsdokumenten der zweiten deutschen Demokratie. Auschwitz ist als authentischer Ort des millionenfachen Mordes an Juden und anderen Opfergruppen zugleich ein Symbol für den Zivilisationsbruch geworden, für das Menschheitsverbrechen, das hier und an vielen anderen Orten innerhalb und außerhalb Deutschlands begangen wurde.

Der Artikel eins unseres Grundgesetzes hat die historische Einsicht formuliert, die nach den entsetzlichen Erfahrungen der nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit unser staatliches Handeln wie unser persönliches Verhalten bestimmen muss: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Dieser Satz gilt nicht erst, seit es das Grundgesetz gibt. Aber diese unsere Verfassung macht ihn zur ausdrücklichen "Verpflichtung aller staatlichen Gewalt".

Der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer hatte an diese Verantwortung in einer Rede im Jahr 1952 mit dem Hinweis erinnert, dass es "weder nur ein Heute oder Morgen gibt, sondern eben auch ein Gestern, das das Heute und das Morgen stark, ja manchmal entscheidend beeinflusst. Man muss" – fuhr Adenauer fort – "das Gestern kennen, man muss auch an das Gestern denken, wenn man das Morgen wirklich gut und dauerhaft gestalten will. Die Vergangenheit ist eine Realität. Sie lässt sich nicht aus der Welt schaffen, und sie wirkt fort, auch wenn man die Augen schließt, um zu vergessen."

Deutschland hat nicht vergessen und aus dem Entsetzen über den Terror der NS-Diktatur die Lehre gezogen, sich allen Formen von Extremismus, Rassismus und Antisemitismus entschieden entgegenzustellen. Dazu gehört auch, dass Aussagen, die die schreckliche historische Wahrheit des Holocaust leugnen oder relativieren wollen und damit die Opfer der NS-Diktatur verhöhnen, unter Strafe gestellt sind.

Bundestag und Bundesregierung fördern seit vielen Jahren über verschiedene Programme Projekte, die sich gegen Extremismus, Rassismus und Antisemitismus richten und die insbesondere junge Menschen in ihrem Engagement für Freiheit, Demokratie und Toleranz unterstützen sollen. International engagiert sich Deutschland vor allem im Rahmen der OSZE bei der Bekämpfung des Antisemitismus. Wir dürfen und werden in diesen Bemühungen nicht nachlassen.

Der Deutsche Bundestag hat sich immer wieder entschieden sowohl für strafrechtliche als auch für präventive und pädagogische Maßnahmen ausgesprochen, um Bestrebungen, die Ideologie des Nationalsozialismus wiederzubeleben oder gesellschaftsfähig zu machen, gleich im Ansatz zu bekämpfen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die gemeinsame Erklärung des Deutschen Bundestages, mit der wir die wiederholten unerträglichen Äußerungen des iranischen Präsidenten, in denen er fortwährend sowohl das Existenzrecht Israels bestreitet als auch den Holocaust leugnet, einmütig und unmissverständlich verurteilen.

Gegen die skandalöse internationale Konferenz zu Fragen des Holocaust an den europäischen Juden in der iranischen Hauptstadt Teheran, die vor wenigen Wochen stattfand, habe ich in einem Brief an den iranischen Präsidenten unseren Protest ausgedrückt. Dabei habe ich nachdrücklich jeden Versuch verurteilt, unter dem Vorwand wissenschaftlicher Freiheit und Objektivität antisemitischer oder antijüdischer Propaganda ein öffentliches Forum zu bieten.

Während meines offiziellen Besuchs in Israel in den ersten Tagen dieses Jahres stand in allen politischen Gesprächen ein Thema im Vordergrund: die tiefe Besorgnis aller meiner israelischen Gesprächspartner über das iranische Atomprogramm und die unverhüllte Drohung, Israel zu vernichten. Zugleich waren die Begegnungen mit führenden Vertretern des Parlamentes wie der Regierung von einer geradezu bewegenden Herzlichkeit und hohen Erwartungen Deutschland gegenüber gekennzeichnet, die uns beschämen und in besonderer Weise verpflichten.

Ich bekräftige daher einmal mehr – am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus – unsere besondere Verantwortung und Verpflichtung für den Staat Israel und unsere entschiedene Haltung gegenüber allen, die das Existenzrecht Israels bestreiten. Israel muss mit demselben Recht wie seine Nachbarn in international anerkannten Grenzen frei von Angst, Terror und Gewalt leben können. Ein atomar bewaffneter Staat in seiner Nachbarschaft, geführt von einem offen antisemitisch orientierten Regime, ist nicht nur für Israel unerträglich. Die Weltgemeinschaft darf eine solche Bedrohung nicht dulden.

Geschichte vergeht nicht; sie kann auch nicht überwunden werden. Sie ist Voraussetzung der Gegenwart, und der Umgang mit der Geschichte prägt auch die Zukunft jeder Gesellschaft. Deshalb ist die Bewahrung der Erinnerung, das nationale Gedächtnis, eine politische, also gemeinsame Aufgabe.

Schon in den Gedenkstunden der letzten Jahre wurde uns schmerzhaft bewusst, dass es immer weniger Menschen gibt, die als Überlebende noch persönliches Zeugnis vom Holocaust und den nationalsozialistischen Verbrechen ablegen können. Umso entschiedener stellt sich dann die Frage, wie die bezeugten Erinnerungen im Gedenken der zukünftigen Generationen fortbestehen können.

Sie, verehrter Herr Kertész, haben vor vier Jahren den Literaturnobelpreis für ein, wie es in der Begründung heißt, "schriftstellerisches Werk erhalten, das die zerbrechliche Erfahrung des Einzelnen gegenüber der barbarischen Willkür der Geschichte behauptet".

In seinem großen "Roman eines Schicksallosen" erzählt Imre Kertész die autobiografisch geprägte Geschichte eines Budapester Jungen, der 1944 als Fünfzehnjähriger aus einem Bus geholt und nach Auschwitz verschleppt wird. Imre Kertész hat beim Nobel-Bankett in Stockholm seine kurze Dankansprache in Anwesenheit des schwedischen Königs und des ungarischen Ministerpräsidenten auf Deutsch gehalten. Dabei hat er hervorgehoben, für ihn sei der Holocaust, dem er nur wie durch ein Wunder entkam, "ein Thema nicht nur der deutschen, sondern der europäischen Zivilisation". Er habe das wahre Antlitz des Jahrhunderts gesehen und könne heute davon berichten, auch wenn er sich nie ganz habe befreien können. Das sei wohl eine "besonders grausame Form der Gnade".

Diese "besonders grausame Form der Gnade" wird auch in dem Text deutlich, aus dem Imre Kertész heute vortragen wird, dem Trauergebet für ein nicht geborenes Kind.

In seinem berühmten Aufsatz "Die exilierte Sprache" schreibt Imre Kertész:

"Meiner Ansicht nach wird die Tragödie des Judentums nicht beschädigt und auch nicht geschmälert, wenn wir den Holocaust heute, mehr als fünf Jahrzehnte danach, als Welterfahrung, als europäisches Trauma betrachten. Schließlich hat sich Auschwitz nicht im luftleeren Raum vollzogen, sondern im Rahmen der westlichen Kultur, der westlichen Zivilisation, und diese Zivilisation ist ebenso Auschwitz-Überlebender wie einige zehn- oder hunderttausend über die ganze Welt verstreute Männer und Frauen, die noch die Flammen des Krematoriums gesehen und den Geruch des verbrannten Menschenfleischs eingeatmet haben. In diesen Flammen wurde alles zerstört, was wir bis dahin als europäische Werte schätzten, und an diesem ethischen Nullpunkt, in dieser moralischen und geistigen Finsternis, erweist sich als einziger Ausgangspunkt gerade das, was diese Finsternis erzeugt hat: der Holocaust."

Er fährt wenig später mit dem atemberaubenden Gedanken fort, den kein Historiker, erst recht kein deutscher, schreiben könnte, "dass der Holocaust in geistig-moralischem, also kulturellem Sinn ein Wert ist, weil er durch unermessliches Leid zu unermesslichem Wissen geführt hat und damit eine unermessliche moralische Reserve in sich birgt."

Wenn wir diese moralische Reserve, von der Imre Kertész spricht, als das europäische Vermächtnis der Tragödie des Holocaust verstehen dürfen, dann ist sie der Ausgangspunkt dafür, dass heute europäische Geschichte mit ihren Brüchen auch wieder als eine gemeinsame Geschichte der Herausbildung von freiheitlicher Zivilisation, Demokratie und Menschenrechten, als gemeinsame Bemühung um Toleranz, Gerechtigkeit und Solidarität begriffen werden kann.

Der heutige Gedenktag liegt keine acht Wochen vor den Feiern zum 50. Jubiläum der Römischen Verträge, die am 25. März in Berlin begangen werden: ein Gedenktag als Feiertag. Ohne das Überleben, ohne die Lebendigkeit ebendieser Werte wäre die Erfolgsgeschichte Europas – von den sechs Gründerstaaten der Wirtschaftsgemeinschaft bis zu den heute 27 Mitgliedern der Europäischen Union – nicht möglich gewesen und gewiss kein Anlass zum Feiern.

Dass ein Mann mit der Biografie von Imre Kertész heute in Berlin lebt und arbeitet und diesem Land und seiner Kultur verbunden bleibt, empfinde ich als eine besonders generöse Form der Zuwendung zu unserem Land und zugleich als Beleg für die Hoffnung, dass Europa eine Seele hat, die nicht verloren gegangen ist. Auch für diese wundersame Fügung findet sich eine mögliche Erklärung in Imre Kertész’ "Roman eines Schicksallosen":

"Ich kann sagen, mit der Zeit gewöhnt man sich auch an Wunder."

An Wunder dürfen wir uns nicht gewöhnen. Aber wir haben Anlass zur Dankbarkeit, dass es solche Wunder gibt.

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