Rettungsanker für junge Wohnungslose

Interview mit Gründer der "Off Road Kids" Rettungsanker für junge Wohnungslose

Mit der Plattform sofahopper.de bietet die bundesweit tätige Organisation "Off Road Kids" jungen Menschen ohne Bleibe eine Perspektive. Im Interview berichtet Gründer Markus Seidel von einem Anstieg der Hilferufe angesichts der Corona-Pandemie und von der Digitalisierung der Straßensozialarbeit.

5 Min. Lesedauer

Ein junger Mann mit Kapuzenpullover und Rucksack auf der Straße.

Jungen Wohnungs- oder Obdachlosen eine Perspektive geben - das ist das Ziel der Plattform sofahopper.de. 

Foto: mauritius images / Ian Allenden / Alamy

Markus Seidel ist Gründer und Vorstandssprecher der "Off Road Kids", einer überregional tätigen Hilfsorganisation für Straßenkinder und junge Obdachlose. Neben eigenen Streetwork-Stationen betreibt "Off Road Kids" die Plattform sofahopper.de . Das digitale Beratungsangebot wendet sich an junge Menschen unter 27 Jahren, die ihre Bleibe verlieren oder bereits wohnungs- oder obdachlos sind und wird vom Bundesfamilienministerium gefördert.

Wie wirkt sich die Corona-Pandemie auf die Arbeit von "Off Road Kids" aus?

Markus Seidel: Die Corona-Pandemie hat die Lage für junge Wohnungssuchende vollkommen verändert. In manchen Familien sind Konflikte eskaliert. Außerdem war es vor der Krise so, dass junge Leute, die zuhause rausgeflogen sind, zumindest eine Weile über ihre Social- Media-Kontakte bei Bekannten Unterschlupf gefunden haben. Ein Großteil dieser Schlafplätze ist jetzt weggebrochen, weil viel mehr Menschen seit Beginn der Corona-Krise den Platz in ihrer Wohnung selbst benötigen, beispielsweise weil sie im Homeoffice arbeiten oder die ganze Familie ständig zuhause ist.

So kam es, dass sich im März die Zahl der Notrufe im Vergleich zum Zeitraum des Vorjahres vervierfacht hat. Dieses hohe Aufkommen ist bis heute kaum gesunken. Mit etwa 1.400 Hilferufen haben wir im ersten Halbjahr dieses Jahres schon die Gesamtzahl der Anfragen des vergangenen Jahres übertroffen.  

Und die allermeisten Anfragen gehen bei uns mittlerweile digital ein: Die Anzahl der Straßenkinder und jungen Obdachlosen, die unsere Streetworker in Berlin, Dortmund, Frankfurt, Hamburg und Köln direkt auf der Straße entdecken, ist zwar gleich groß geblieben, macht aber aktuell nur zehn Prozent aller Hilferufe aus. Corona hat unsere Sozialarbeit extrem stark auf das ganze Bundesgebiet ausgedehnt und weitgehend virtualisiert.      

Umso wichtiger ist sicher sofahopper.de. Worum handelt es sich dabei genau?  

Seidel: Sofahopper.de ist im Prinzip die intelligente Digitalisierung der Straßensozialarbeit. Wir verlagern die Sozialarbeit bis ins Vorfeld der Straße, sinnbildlich bis zu dem Sofa, auf dem ein verzweifelter junger Mensch gerade haust - und zwar ganz egal, wo das in Deutschland ist. Unsere Sozialarbeiter können so viel früher helfen. Wir müssen nicht mehr abwarten, bis diese jungen Menschen aus ländlichen Regionen irgendwann als Obdachlose in den Großstädten auftauchen und das Kind gewissermaßen vollständig in den Brunnen gefallen ist.

Sofahopper.de beschleunigt und steigert die Wirkung unseres Hilfeangebots enorm. Unsere Erfahrung zeigt, dass die meisten Straßenkinder und jungen Obdachlosen eine längere Zeit des "Sofa-Hoppens" hinter sich haben. Und umso eher wir eingreifen und helfen können, umso größer ist die Aussicht auf Erfolg.

"Sofa-Hopper", das sind Menschen, die kein eigenes Zuhause haben und bei Freunden oder Bekannten schlafen.

Wer wendet sich denn konkret an Sie, um Hilfe zu bekommen?   

Seidel: In der Regel sind dies völlig verzweifelte und ratlose junge Menschen, die ein aktuelles Problem mit ihrer Wohnsituation haben. Entweder, weil sie gerade kurz vor dem Rauswurf zu zuhause stehen und nicht wissen, wohin. Oder es sind junge Leute, die bereits obdach- oder wohnungslos sind. Wir sprechen von sogenannten entkoppelten jungen Menschen. Das Deutsche Jugendinstitut schätzt ihre Zahl auf 40.000 in Deutschland.  

Häufig ist es so, dass sie sich ihrer "verdeckten" Obdachlosigkeit gar nicht bewusst sind. Sie wissen nicht mehr wohin und haben Panik, dass es kein weiteres "Sofa" mehr geben wird und sie dann endgültig auf der Straße sitzen. Viele der jungen Anfragenden sind auch nicht zwangsläufig arbeitslos, einige absolvieren beispielsweise eine Ausbildung, haben aber keine Wohnung. Andere sind aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr in der Lage, ihre Miete zu bezahlen. Oft handelt es sich auch um junge, schwangere Frauen.    

Über sofahopper.de melden sich auch viele Gastgeber bei uns, die selbst ein Interesse daran haben, dass der junge Mensch, den sie beherbergen, "das Sofa" räumt und eine tragfähige Perspektive bekommt.              

Porträt von Markus Seidel, Gründer der Stiftung Off Road Kids.

Markus Seidel ist Gründer der "Off Road Kids"-Stiftung. Sein Ziel: Straßenkindern und jungen Obdachlosen eine Perspektive geben.

Foto: Ben Kaiser

Was sind die Auslöser für Wohnungslosigkeit?  

Seidel: Armut kann sicherlich der Katalysator für Wohnungs- und Obdachlosigkeit sein. Aber nach unseren Erkenntnissen ist dies nicht der hauptsächliche Grund. Der liegt eher in zerrütteten Familienverhältnissen begründet. Und diese gibt es quer durch alle Schichten. Der Umkehrschluss wäre ja, dass arme Leute ihre Kinder schlechter behandeln als wohlhabende. Dafür haben wir kein Indiz. 

Aber wir merken gerade in der Corona-Krise, dass die Situation bei Familien, in denen es schon im Vorfeld heftig gebrodelt hat, durch die coronabedingte Wohnenge sehr leicht eskalieren kann. Da reicht ein Funken, damit es zur Explosion kommt. Und die kann sich durch häusliche Gewalt oder durch den Rauswurf eines Familienmitglieds äußern.

Wie können Sie die jungen Leute denn unterstützen?

Seidel: Die geeigneten Hilfsmöglichkeiten sind immer sehr individuell. Das Wichtigste ist zunächst, die Situation zu stabilisieren. Ist beispielsweise schon jemand obdachlos, gilt es, schnellstmöglich für ihn eine Unterkunft zu organisieren. Ist die Lage nicht ganz so dramatisch, kann es darum gehen, bei Behördengängen zu helfen und den jungen Menschen an Hilfsangebote von freien Trägern zu vermitteln. Oft müssen wir aber auch die jungen Leute über ihre Ansprüche aufklären, die sie beispielsweise in einem Mietverhältnis haben. Hierbei arbeiten wir mit einem Influencer zusammen, mit dem unsere erfahrenen Streetworker sehr allgemeinverständliche Videos für sofahopper.de erstellt haben.       

Wenden sich Minderjährige an uns, helfen wir bei der Kommunikation mit den Eltern und dem Jugendamt am Wohnort der Jugendlichen. Häufig bilden wir die Brücke zwischen den mitunter räumlich weit voneinander entfernten Sofa-Hoppern, Familien und Behörden, denn der Aufenthaltsort der jungen Leute ist zumeist nicht ihr Herkunftsort. Dank der digitalen Plattform sofahopper.de spielt es keine Rolle, aus welcher Stadt oder welchem Landkreis sich jemand bei uns meldet. Durch unser großes Netzwerk verfügen wir über vielfältige Kontakte, die wir hilfreich einsetzen können. Im Ergebnis sollte es immer um eine dauerhafte und zukunftsweisende Perspektive gehen.

Das Bundesfamilienministerium unterstützt das Projekt sofahopper.de bis Ende 2021 mit insgesamt 900.000 Euro. Auch weitere Hilfsangebote fördert das Ministerium: Die Bundeskonferenz für Erziehungsberatung bietet unter anderem eine umfassende Online-Jugend- und Elternberatung an. Darüber hinaus steht Kindern und Jugendlichen die "Nummer gegen Kummer" zur Verfügung (Rufnummer 116 111). Hier können sich auch Eltern in Krisensituationen beraten lassen (Rufnummer 0800 111 0550).