Deutschland und Frankreich – Unser Europa für die nächste Generation gestalten

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Bundeskanzler Olaf Scholz mit Frankreichs Präsident Macron

Bundeskanzler Scholz und Frankreichs Präsident Macron.

Foto: picture alliance/Christian Liewig/ABACAPRESS.COM

Vor 60 Jahren haben Bundeskanzler Konrad Adenauer und Staatspräsident Charles de Gaulle den historischen Élysée-Vertrag unterzeichnet. Wir, Deutsche wie Franzosen, sind Kinder dieses entscheidenden Moments, mit dem Jahrzehnte, wenn nicht gar Jahrhunderte bitterer Rivalitäten und blutiger Kriege zwischen unseren beiden Ländern im Herzen Europas überwunden wurden. Die Unterzeichnung des Vertrags war eine große Geste der Versöhnung. Keine 20 Jahre nach dem Ende der Schrecken des Zweiten Weltkriegs, den Deutschland entfesselt hatte, war dieser Schritt alles andere als selbstverständlich. Es bedurfte großen moralischen Mutes, mit dieser tragischen Vergangenheit abzuschließen. Es bedurfte der klaren Erkenntnis, dass unsere lange Geschichte, in deren Verlauf unsere Länder stets miteinander konkurrierten, in eine Zukunft führen müsse, in der wir Seite an Seite stehen. Denn die jungen Menschen auf beiden Seiten des Rheins hatten ein Recht darauf, in Frieden zu leben und eine bessere Zukunft zu schaffen.

Dieses gemeinsame Schicksal hat sich zu etwas Größerem entwickelt als nur unsere beiden Länder. Der Élysée-Vertrag hatte die Erneuerung der bilateralen Beziehungen Deutschlands und Frankreichs zum Ziel. Doch nicht allein das: Er hat für beide Länder das Ziel formuliert, auf den gemeinsamen Traum von einem geeinten Europa hinzuarbeiten.

Im Zentrum dieser Verheißung einer gemeinsamen Zukunft stand die Ablehnung eines jeden Krieges, jeglicher Barbarei, jedweden Imperialismus. Und der lange Frieden in Europa war Beleg dafür, dass dieser Traum Wirklichkeit werden konnte. 2022 brachte Russland den Krieg zurück nach Europa und damit fürchterliches Leid über das ukrainische Volk.

Von Beginn des Krieges an haben wir schnell und entschlossen gehandelt. Wir unterstützen die Ukraine politisch, finanziell und humanitär, haben Waffen und Munition in zuvor nie dagewesenem Umfang geliefert und ukrainische Soldaten ausgebildet. All unsere Entscheidungen sind mit unseren Partnern sorgfältig abgestimmt und ein klares Zeichen an das ukrainische Volk: Wir stehen an seiner Seite. Russland soll und wird mit seinem völkerrechtswidrigen und gewissenlosen Angriffskrieg auf die Ukraine keinen Erfolg haben.

Dieser Krieg ist uns Mahnung, dass es unserer Generation obliegt, den Traum der Gründerväter vor seinem Untergang zu bewahren. Die Zeitenwende hat zu einer strategischen Neubelebung geführt, die das Ziel einer europäischen Souveränität umfasst. Erneut ist es jetzt unsere Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, dass die kommenden Generationen von Europäerinnen und Europäern auf einem Kontinent des Friedens, des Wohlstands und der Freiheit leben können.

In dieser historischen Zeit müssen wir alle den Mut finden, kühn, geeint und mit unverstelltem Blick nach vorne zu schauen. Bundeskanzler Konrad Adenauer und Staatspräsident Charles de Gaulle haben uns den Weg gewiesen – wir sind entschlossen, ihren Traum zu verwirklichen. Wir fühlen uns verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die Europäische Union eine noch stärkere Führungsmacht der Hoffnung sein wird, wenn unsere Kinder zu Bürgerinnen und Bürgern dieses Kontinents herangewachsen sind. 

Aus zahlreichen Gesprächen wissen wir, dass unsere Partner und Freunde in Europa diese Überzeugung teilen. Gemeinsam mit ihnen wollen wir diese Überzeugung zur Wirklichkeit werden lassen. Um unser Europa für die nächste Generation zu gestalten, wollen wir auf sieben strategische Ziele hinarbeiten. 

Die erste große Herausforderung ist für uns, zu gewährleisten, dass Europa noch souveräner wird und über die geopolitischen Kapazitäten verfügt, die internationale Ordnung zu gestalten. Für ein starkes Europa von morgen müssen wir jetzt stärker in unsere Streitkräfte und in die Grundlagen unserer Rüstungsindustrie in Europa investieren. Dies verbessert unsere Verteidigungsfähigkeiten und fördert damit auch die transatlantischen Beziehungen. Verbesserte europäische Fähigkeiten und ein stärkerer europäischer Pfeiler in der NATO machen uns auch für die Vereinigten Staaten zu einem stärkeren Partner auf der anderen Seite des Atlantiks – besser ausgerüstet, effizienter und schlagkräftiger, wenn es darum geht, den großen internationalen Herausforderungen zu begegnen.

Zweitens hängt geopolitische Stärke nicht nur von militärischen Mitteln ab, sondern auch von Resilienz und unserer Fähigkeit, in strategischen Bereichen zukunftsorientiert zu handeln. Wir werden die Diversifizierung auf dem Gebiet der strategischen Versorgungsgüter verbessern sowie unsere Fähigkeiten in kritischen Bereichen stärken und uns aufmachen, der erste klimaneutrale Kontinent der Welt zu werden. Wir werden dabei nationale Entscheidungen beim Energiemix akzeptieren. Allen voran setzen wir auf die Erneuerbaren Energien und kohlenstoffarme Energieträger, auf Maßnahmen zur Energieeffizienz, starke Verbundnetze und die Nutzung von Wasserstoff, den wir sowohl erzeugen als auch importieren werden. Wir werden an einem besseren Funktionieren des Strommarktes arbeiten und uns an gemeinsamem Gaseinkauf auf europäischer Ebene beteiligen. Wir möchten unsere strategischen Partnerschaften mit all jenen stärken, die sich für die Wahrung der internationalen Ordnung einsetzen, wie sie in der Charta der Vereinten Nationen verankert ist. Wir wollen freien und fairen Handel als Eckpfeiler unseres Wohlstands fördern. Um unsere Handelsbeziehungen auf eine breitere Grundlage zu stellen, unterstützen wir eine ehrgeizige Agenda im Handelsbereich mit der WTO im Zentrum sowie moderne Handelsabkommen mit Partnern auf der ganzen Welt. 

Drittens ist es uns ein Anliegen, dass die Europäische Union auf dem Weg hin zu einem weltweit führenden Ort für Produktion und Innovation vorangeht. Wir werden sicherstellen, dass wir zur Erreichung dieses Ziels den richtigen Rahmen und die geeigneten Mittel bereitstellen, und werden das, was im Zentrum unserer globalen Wirtschaftskraft liegt, vorantreiben: den größten demokratischen Binnenmarkt der Welt, dessen 30. Geburtstag wir dieser Tage feiern. Wir werden uns nachdrücklich für eine ehrgeizige Strategie zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie und für ein europäisches Umfeld einsetzen, das zu Wettbewerb und Innovationen anregt, die ein wertvolles gemeinschaftliches Gut der EU darstellen.

Viertens muss durch die Stärkung unseres einzigartigen europäischen Modells dafür gesorgt werden, dass wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt mit einem ökologischen Wandel einhergehen. Für uns bedeutet das vor allem, im Kampf gegen den Klimawandel und den Verlust der biologischen Vielfalt weiterhin Vorreiter zu sein und unsere Bürgerinnen und Bürger zu unterstützen und zu befähigen, die Herausforderungen des ökologischen Wandels zu meistern und von ihm zu profitieren, wobei niemand zurückgelassen werden darf. Wir möchten Europas gemeinschaftliche Sozial- und Besteuerungsstandards weiterentwickeln und so den Weg hin zu mehr sozialer Konvergenz und Gleichberechtigung ebnen, was unsere gemeinschaftliche Fähigkeit stärkt, europäischen Arbeitskräften hochwertigere, qualifiziertere und besser bezahlte Arbeitsplätze anzubieten. 

Wenn wir, fünftens, über die nächste Generation sprechen, bedeutet dies auch über unsere Investitionsfähigkeit zu sprechen, die unseren Zielen und Werten in nichts nachstehen darf. Daher fordern wir ehrgeizigere Schritte hin zu einer Kapitalmarktunion sowie die Vollendung der Bankenunion. Die Mitgliedstaaten werden weiterhin die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen gewährleisten, auch durch Verbesserung der Qualität der öffentlichen Haushalte sowie durch Schwerpunktsetzung auf Investitionen und Reformen, die für den ökologischen und digitalen Wandel sowie für die zentralen Elemente der europäischen Souveränität notwendig sind. Dies sollte durch einen effizienten EU-Haushalt gestützt werden, mit dem in europäische öffentliche Güter investiert wird und der mit echten Eigenmitteln ausgestattet ist.

So wichtig wirtschaftliche Angelegenheiten auch sind, was wir unseren Kindern hinterlassen wollen, ist das, wofür Europa wirklich steht: individuelle Freiheitsrechte, Rechtsstaatlichkeit und demokratische Teilhabe – und den Schutz seiner Bürgerinnen und Bürger. Diese Werte und Prinzipien bilden das Herzstück der Europäischen Union. Daher sollte die Europäische Union die europäischen Bürgerinnen und Bürger sowie ihre Freiheiten weiterhin zuverlässig schützen. Wir müssen unsere Bemühungen um Rechtsstaatlichkeit und die Freiheit des Einzelnen fortsetzen und Normen auf internationaler Ebene, etwa im digitalen Sektor, festlegen. Einfuhren in die Europäische Union müssen mit unseren Sicherheits-, Menschenrechts-, Umwelt- und Sozialstandards im Einklang stehen. Wir wollen die Freizügigkeit sicherstellen, insbesondere für Lernende, und gleichzeitig für wirksamere Kontrollen an den Außengrenzen sorgen.

Und schließlich sind diese Ideale nicht nur ein wichtiger Grund für die Anziehungskraft, die die Europäische Union in nah und fern entfaltet. Sie sind auch der Grund, warum die Europäische Union ein Anker der Stabilität auf dem europäischen Kontinent ist, nicht zuletzt für die Länder des westlichen Balkans. Wir streben schnelle und konkrete Fortschritte im EU-Erweiterungsprozess an. Gleichzeitig müssen wir sicherstellen, dass eine erweiterte Europäische Union handlungsfähig bleibt, mit effizienteren Institutionen und schnelleren Entscheidungsprozessen, insbesondere durch die Ausweitung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen im Rat.

60 Jahre nach Unterzeichnung des Élysée-Vertrags stimmen Deutschland und Frankreich überein, wenn sie auf die grundlegenden Fragen zur Zukunft Europas blicken. Wir verfolgen dieselben Ziele hinsichtlich einer resilienten, starken und souveränen Europäischen Union. Auch in den Bereichen, in denen wir uns nicht einig sind, arbeiten wir entschlossen daran, gemeinsame Antworten zu finden – Antworten, die wir gemeinsam mit unseren europäischen Partnern diskutieren möchten. In der Geschichte unseres Kontinents sind wir an einem entscheidenden Punkt angelangt. Unsere Generation hat die Aufgabe, mit ihren Träumen die Zukunft der nächsten Generation zu gestalten. Europa zu vervollständigen, zu verbessern und zu stärken, erfordert Anstrengungen gigantischen Ausmaßes; doch haben uns die vergangenen sechzig Jahre gelehrt, dass nichts unmöglich ist, wenn wir Seite an Seite stehen.