"Diese Demokratie muss inklusiv sein"

Behindertenbeauftragter "Diese Demokratie muss inklusiv sein"

Jürgen Dusel ist seit 2018 Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Die Corona-Pandemie bedeute für Menschen mit Behinderung nicht nur Gefahren, sondern ermögliche auch viele wichtige Fortschritte. Im Zuge der EU-Ratspräsidentschaft Deutschland engagiert sich Dusel für eine stärkere Vernetzung und Partizipation auf europäischer Ebene.

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Foto zeigt Jürgen Dusel

"Ein Staat verdient nur dann das Prädikat demokratisch, wenn er inklusiv denkt und handelt", sagt Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung.

Foto: picture-alliance

Herr Dusel, am 3. Dezember findet der Internationale Tag der Menschen mit Behinderungen statt. Sie selbst sind seit knapp drei Jahren der Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen . Wie ist Ihre Bilanz?

Jürgen Dusel: Zusammengefasst lässt sich sagen: Wir haben bereits Einiges geschafft. Auf der Haben-Seite steht zum Beispiel das Angehörigenentlastungsgesetz der Bundesregierung. Dieses gilt für Personen, deren Eltern pflegebedürftig werden und für Eltern erwachsener Kinder mit Behinderung. Das war auf jeden Fall ein großer Schritt. Positiv sehe ich auch, dass die pauschalen Wahlrechtsausschlüsse für Menschen, die unter Betreuung stehen vom Gesetzgeber gestrichen wurden. Dafür habe ich lange gekämpft. Hinzu kommt, dass die Pausch-Beträge für Menschen mit Behinderungen im Einkommenssteuerrecht verdoppelt wurden. Das ist die erste Anpassung seit 45 Jahren und war überfällig. Bei dieser Reform haben der Finanzminister und ich sehr gut zusammengearbeitet.

Eine nicht unwesentliche Phase Ihrer Amtszeit wird von der Corona-Pandemie dominiert. Diese Situation trifft Menschen mit Behinderungen besonders schwer. Welche Gefahren bedeutet das für die Inklusion?

Dusel: Die momentane Krise bündelt wie in einem Brennglas bestehende Probleme bei der Inklusion und leider verschärft die Pandemie die Lage auch zunehmend. So steigt die Arbeitslosigkeit unter Menschen mit Behinderungen überdurchschnittlich, auch sind sie länger von Arbeitslosigkeit betroffen. Deshalb müssen wir mehr tun, um Menschen mit Behinderungen besseren Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Ein weiteres Thema ist, dass noch zu wenige Arztpraxen barrierefrei sind, ein gleichberechtigter Zugang zu medizinischer Versorgung für alle Bürgerinnen und Bürger ist leider immer noch eingeschränkt. Besonders hart trifft es auch Menschen, die auf eine Assistenz im Krankenhaus angewiesen sind und diese oft nicht mit ins Krankenhaus nehmen können. Wir brauchen hier dringend eine schnelle Lösung.

Welche Auswirkungen hat die Pandemie noch auf die Belange von Menschen mit Behinderung?

Dusel: Natürlich hat die momentane Lage auch überaus positive, längst überfällige, Effekte für Menschen mit Behinderungen mit sich gebracht. In dieser neuen Situation ist gute Kommunikation das A und O, alle Menschen haben ein Grundrecht auf verständliche Informationen. Bereits seit dem Frühjahr bieten verschiedene Plattformen – und ich freue mich, dass es immer mehr werden – ihre Angebote barrierefrei an. Nachrichten in einfacher Sprache, Unterstützungen für sehbeeinträchtigte Menschen oder auch die Gebärdung von immer mehr Sendungen sind der einzig richtige Weg. Auch das Bundespresseamt hat hier die richtigen Entscheidungen getroffen. Natürlich ist insgesamt noch erheblich Luft nach oben. Inklusion ist kein "Schönwetter-Konzept" und auch nach Corona muss die Kommunikation inklusiv werden und bleiben. Information ist eine wichtige Säule für unsere Demokratie. Und diese Demokratie muss inklusiv sein.

Der Behindertenbeauftragte wird vom Bundeskabinett jeweils für die Dauer einer Legislaturperiode bestellt. Der Beauftragte hat die Aufgabe, darauf hinzuwirken, dass die Verantwortung des Bundes, für gleichwertige Lebensbedingungen für Menschen mit und ohne Behinderungen zu sorgen, in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens erfüllt wird. Innerhalb der Bundesregierung nimmt der Beauftragte Einfluss auf politische Entscheidungen und begleitet aktiv die Gesetzgebung. Seit 2018 ist Jürgen Dusel der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, er ist seit seiner Geburt stark sehbehindert.

Corona hat auch der Digitalisierung einen Schub versetzt. Was bedeutet das für Menschen mit Behinderungen?  

Dusel: Die Digitalisierung bietet große Chancen. Wir dürfen nur einen Fehler nicht wiederholen: dass wir erst einmal etwas erschaffen und dann fällt uns auf, dass es nicht barrierefrei ist. Genauso wie es schwierig ist, ein bereits gebautes Gebäude nachträglich barrierefrei zu machen, so ist es auch mühsam, wenn erst eine digitale Infrastruktur aufgebaut wird und dann an die Barrierefreiheit gedacht wird. Auch Menschen mit Behinderungen wollen sich mal schnell online das Kinoprogramm anschauen oder schauen, was in den Sozialen Medien so los ist. Gerade bei den Veränderungen in der Arbeitswelt ist es wichtig, dass die digitalen Systeme barrierefrei sind. Dabei meine ich nicht nur zugänglich für seh- oder hörgeschädigte Menschen, sondern auch für kognitiv eingeschränkte Personen, zum Beispiel über leichte Sprache. Ansonsten werden diese Menschen Probleme haben, Jobs zu finden beziehungsweise sogar ihre Jobs verlieren. 

Deshalb müssen wir bei der Digitalisierungsstrategie der Bundesregierung das Thema Zugänglichkeit von Anfang an mitdenken. Barrierefreiheit ist ein verbrieftes Recht. Es geht letztendlich um die Umsetzung von Grundrechten.

Deutschland hat noch einige Wochen den Ratsvorsitz der Europäischen Union inne. Sie haben das zum Anlass genommen, im November dieses Jahres zum ersten "European Inclusion Summit“ einzuladen. Mit welchen Ergebnissen des virtuellen Treffens sind Sie zufrieden, wo sehen Sie noch Handlungsbedarf?

Dusel: Lassen Sie mich voranstellen, dass ich ein überzeugter Europäer bin. Ich empfinde es als großes Privileg, in einem freien, offenen und demokratischen Europa leben zu dürfen. Das ist überhaupt nicht selbstverständlich und wir müssen alle für Europa eintreten. In der EU leben mehr als 87 Millionen Menschen mit Behinderungen über 16 Jahren. Auch diese Bürgerinnen und Bürger wollen und müssen von Europa profitieren können. Auch ihnen stehen alle Rechte zu, sei es bei der Reisefreiheit, sei es die Digitalisierung oder der Schutz vor Gewalt. Alle Vertreterinnen und Vertreter für die Belange von Menschen mit Behinderungen der EU-Mitgliedsstaaten sind meiner Einladung zum ersten European Inclusion Summit im November gefolgt. Wir haben uns auf eine gemeinsame Erklärung einigen können. Unser Ziel ist die gestärkte Partizipation der Menschen in Europa. Wir setzen uns für eine beauftragte Person für Menschen mit Behinderung auf höchster Ebene in der EU ein. Meine Kollegin aus Portugal, deren Regierung im Jahr 2021 den Ratsvorsitz der EU übernehmen wird, hat mir zugesichert, das Thema mit Nachdruck zu verfolgen.

Blicken wir aber nochmals auf Deutschland, nämlich auf Dresden, warum?

Dusel: Es ist schon zu einer kleinen Tradition geworden, dass wir rund um den Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen in einer deutschen Landeshauptstadt das Motto "Demokratie braucht Inklusion“ prominent als Lichtprojekt an ein bekanntes Wahrzeichen projizieren. Im letzten Jahr haben wir zum Beispiel den Fernsehturm in Hamburg angestrahlt. Heute erleuchtet die Brühlsche Terrasse in Dresden. Damit bauen wir auch wieder eine Verbindung nach Europa, ist doch dieses barocke Meisterwerk der Architektur als "Balkon Europas" weltbekannt. In diesen Tagen werden sie noch bekannter, auch im Zeichen der Inklusion.