"Den Osten Europas entdecken"

Polnische Perspektive auf 30 Jahre Deutsche Einheit
"Den Osten Europas entdecken"

Mehr ostdeutsche Blickwinkel in der gesamtdeutschen Erzählung - das wünscht Rosalia Romaniecs den Deutschen zum 30. Jubiläum der Wiedervereinigung. Außerdem wünscht sich die gebürtige polnische Journalistin, dass mehr Deutsche den Osten Europas entdecken und sich damit auseinandersetzen. Denn: Kulturell seien sich Polen und Deutsche ähnlicher als sie denken.

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Die Journalistin mit polnischen Wurzeln, Rosalia Romaniec.

Die Journalistin mit polnischen Wurzeln, Rosalia Romaniec, leitet das Hauptstadtbüro der Deutschen Welle.

Foto: Screenshot/Bundesregierung

Frau Romaniec, was ist das Erste, was Ihnen einfällt, wenn Sie an Deutschland denken – verbinden Sie eine persönliche Anekdote mit unserem Land? 

Rosalia Romaniec: Offenheit, Toleranz, liberales Denken - das fällt mir heute zu Deutschland sofort ein. Und es ist seit ein paar Jahren ein Land, das auch überraschen kann, zum Beispiel mit einem Satz wie "Wir schaffen das". Damit überraschte Deutschland die ganze Welt. Es zeigte auf einmal ein komplett neues deutsches Gesicht, eben kein strenges, sondern ein sehr menschliches. 

Ich bin auch noch in den 80er-Jahren mit einem Bild von Deutschland aufgewachsen, das sehr vom Zweiten Weltkrieg geprägt war. In meinen Schulbüchern war Deutschland vor allem das "Land der Täter".  

Dann kam ich Anfang der 90er-Jahre nach Deutschland und habe ein sehr multikulturelles und vielfältiges Land kennengelernt. Es war bei weitem nicht so tolerant und offen wie heute. Aber ich war schon damals sehr positiv überrascht. Gerade die Stadt Heidelberg, in der ich als Studentin gelandet bin, war wie ein Schmelztiegel der Nationen und trotzdem ein sehr deutsches Städtchen. Da habe ich beides gefunden. Dort fühlte ich mich sofort zuhause. Das ist heute noch so. Ich lebe in Berlin, aber wenn ich nach Heidelberg komme, ist das meine kleine, deutsche Heimat. 

Wie erleben Sie das geeinte Deutschland nach 30 Jahren Wiedervereinigung? 

Romaniec: Von außen gesehen ist Deutschland heute natürlich ein geeintes, ein liberales, ein offenes Land. Aber von innen betrachtet, spürt man noch eine Spaltung. Manchmal frage ich mich, warum so wenig von dem ostdeutschen Narrativ in der gesamtdeutschen Erzählung zu finden ist. Zum Beispiel, wo sind die Vorstände großer Unternehmen, die Verfassungsrichter, die Chefredakteure, die Hochschulleiter mit ostdeutschen Biografien? Ich staune darüber, dass man nach 30 Jahren noch nicht weitergekommen ist. Ich glaube, die Aufgabe für die nächsten 30 Jahre wäre, das deutlich zu ändern. Dies würde dem Land guttun. 

Welche Wirkung hatte die Wiedervereinigung in Deutschland Ihrer Meinung nach auf Europa? 

Romaniec: Als gebürtige Polin würde ich sagen: In Polen hat die friedliche Revolution in Europa begonnen, in Deutschland ist sie zu einem Ende gekommen. Die Deutsche Einheit war auch ein Geschenk einiger Länder an die Deutschen. Sie stimmten der Einheit zu, obwohl viele Angst vor dem übergroßen, vereinten Deutschland hatten. 

Gleichzeitig war die Deutsche Einheit auch ein Geschenk an Europa. Ohne sie wäre Europa nie so zusammengewachsen. Dank der deutschen Wiedervereinigung sitzen wir jetzt alle in einem Boot. Und Deutschland ist heute mein zweites Heimatland geworden. 

Was bedeutet Deutschland konkret für Ihr Heimatland – kennen Sie die Wünsche an Deutschland für die Zukunft?

Romaniec: Deutschland und Polen verbindet vor allem eine sehr schwierige Geschichte. Auch viele Jahrzehnte danach prägt sie das Verhältnis – sowohl der Länder, als auch der Menschen. Für viele polnische Familien bleibt Deutschland auch im Jahr 2020 ein Land, das Unheil über ihr Land und Europa brachte. 

Gleichzeitig ist Deutschland Polens wichtigster Partner in Europa – wirtschaftlich und politisch. Und kulturell sind sich Polen und Deutsche ähnlicher als sie denken. Sie empfinden es nur nicht so, da der Zweite Weltkrieg diese Fremde schuf, die sehr lange hält.  

Interessant finde ich, dass Polen sich vor 30 Jahren viel näher den Westdeutschen fühlte. Ostdeutschland lag vor der Tür, war aber fremd. Heute ist es anders. Die Zusammenarbeit an der Grenze hat vieles zum Positiven geändert. 

Welche Wünsche Polen an Deutschland hat? Dass Deutschland wirtschaftlich stark bleibt – vom deutschen Wohlstand hängt vieles ab. Aus persönlicher Perspektive kann ich sagen: Wenn ich mit meiner Mutter, die in Polen lebt und kein Wort deutsch spricht, über Deutschland rede, sagt sie: "Ich hoffe, dass Deutschland so ein menschenfreundliches Land bleibt". Für sie war die "Willkommenskultur" ein Schlüsselmoment in ihrer Wahrnehmung der Deutschen. Seither sieht sie das Land vor allem als sehr liberal und menschenfreundlich. Und sie wünscht sich, dass es so bleibt. Ich auch. 

Was ist Ihrer Meinung die größte Schwäche und die größte Stärke der Deutschen?  

Romaniec: Die größte Schwäche ist der Hang zur Überregulierung: für alles eine Regel. Es gibt Situationen, in denen der menschliche Verstand viel besser wäre und schneller zum Ziel führen würde.  

Deutsche Stärken sind die Wirtschaft, die Vielfalt, der Pragmatismus. Diese Mischung erzeugt eine Bewegung nach vorne. Ich mag die deutsche Leidenschaft für Technik und Präzision - das ist hier wirklich besonders ausgeprägt. Auch bei der deutschen Sprache! Ich spreche mehrere Sprachen - aber so etwas wie ein "Lebens-Abschnitts-Gefährte" und ähnliche Konstruktionen sind in ihrer Exaktheit nicht zu toppen. Faszinierend! Nur ein Wort beschreibt eine halbe Lebensgeschichte. Ansonsten funktioniert in Deutschland einfach Vieles. Man soll es in Zukunft besser nutzen, zum Beispiel für die Umwelt. 

Was wünschen Sie den Deutschen abschließend für die nächsten 30 Jahre Einheit?  

Romaniec: Ich wünsche Deutschland, dass es seine starke Zivilgesellschaft behält. Das ist unser Fundament. Dieses Land entwickelt sich auch deshalb so gut, weil sich so viele Menschen engagieren und für etwas einstehen. 

Ich wünsche, dass der Westen des Landes begreift, dass der Osten seine eigene Identität mitgebracht hat und sie eine Bereicherung für alle ist. Nur so wächst zusammen, was zusammengehört. 

Ich wünsche, dass die Deutschen von ihren Nachbarn lernen: zum Beispiel, dass "la dolce vita" nicht an der italienischen Grenzen aufhört, dass man für ein gutes Steak mehr ausgeben muss, dass mehr Leichtigkeit des Seins nicht schadet. 

Ansonsten wünsche ich mir noch, dass mehr Deutsche den Osten Europas entdecken und sich damit auseinandersetzen. Es hat viel mehr mit ihnen zu tun, als sie denken. Und es liegt vor der Tür! Für manche sind aber die Seychellen immer noch näher als Warschau.

Rosalia Romaniec leitet seit Februar 2020 das Hauptstadtbüro der Deutschen Welle. Dort war sie bereits vorher für die Bereiche Politik und Östliches Mitteleuropa verantwortlich. Zuvor arbeitete sie 20 Jahre als freie Autorin für verschiedene deutsche und polnische Medien, unter anderem für das polnische Programm der Deutschen Welle, mehrere ARD-Rundfunkanstalten und die Zeitung Gazeta Wyborcza. Von 2006 bis 2008 war sie Vorsitzende des Vereins der Ausländischen Presse in Deutschland.