Zum 50. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges - Staatsakt in Berlin am 8. Mai 1995 - Ansprache des britischen Premierministers

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Der vom Bundespräsidenten aus Anlaß des 50. Jahrestages
des Endes des Zweiten Weltkrieges angeordnete Staatsakt
fand auf Einladung der Bundesregierung am 8. Mai 1995 im
Konzerthaus am Gendarmenmarkt in Berlin statt.

Der Premierminister des Vereinigten Königreichs
Großbritannien und Nordirland, John Major, hielt bei dem
Staatsakt folgende Ansprache:

Herr Bundespräsident,
Herr Bundeskanzler,
meine Damen und Herren,

in dieser Woche richten wir in London, in Paris, in
Moskau und hier in Berlin unsere Gedanken fünfzig Jahre
zurück: wir gedenken derer, die auf allen Seiten während des
letzten Krieges gefallen sind, und wir erinnern uns an den Tag,
an dem der Friede in Europa einzog.

Ich sagte eben "des letzten Krieges", und das habe ich gesagt, weil ich denke, daß
es für unsere Länder, die heute hier versammelt sind, das
letzte Mal war, daß wir gegeneinander gekämpft haben. Viele
haben hierzu beigetragen: Churchill und de Gaulle, Roosevelt,
Truman und Kennedy, Konrad Adenauer, der Deutschland
wieder aufgebaut hat, und Sie, Herr Bundeskanzler, der Sie so
lange seine Geschicke gelenkt und die Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit vollzogen haben.

Vor fünfzig Jahren erlebte Europa das Ende der dreißig Jahre,
die nicht einen, sondern zwei Weltkriege beinhaltet hatten. Das
Gemetzel in den Schützengräben, die Zerstörung der Städte
und die Unterdrückung der Bürger hinterließen ein Europa in
Trümmern, gerade wie es einige Jahrhunderte zuvor der
Dreißigjährige Krieg getan hatte.

Wir gedenken des Endes dieser europäischen Tragödie in unseren Großstädten. Wir
dürfen die Vergangenheit nicht vergessen, aber heute abend
hier in Berlin möchte ich nicht an die Vergangenheit, sondern
an die Zukunft denken.

Im September vorigen Jahres trafen wir
uns in diesem wunderschönen Theater, und zwar um den
Alliierten Streitkräften Lebewohl zu sagen, die Berlin vierzig
Jahre lang bewacht hatten. Ich möchte einen Gedanken
wiederholen, den ich bei diesem Anlaß gesagt habe: "Wenn wir
klug sind, steht Europa heute an der Schwelle eines neuen Zeitalters
der Vernunft. Vor uns liegen jetzt neue Chancen für Frieden, Freiheit und Freundschaft, wie wir sie nie
zuvor gehabt haben."

Das erste Zeitalter der Vernunft, die
Aufklärung, hat Europa neue Zuversicht gegeben. An die Stelle
der Religionskriege traten Vernunft und Toleranz. An die Stelle
des Aberglaubens trat die Wissenschaft. Newton brachte uns
Naturgesetze, Bach schuf die Grundlagen der Musik,
Montesquieu belehrte uns über den Geist des Rechts und
Adam Smith erklärte die Gesetze des Marktes."

In jenen Tagen erwachte Europa aus der Finsternis des Geistes. Heute erhebt
sich Europa aus einem Jahrhundert der Gewalt und der
Ideologie. Traumatisiert von der Brutalität und Zerstörung in
der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts durchlebte Europa die
zweite Hälfte dieses Jahrhunderts in einer Art Trance.

Nach 1989 reiben wir uns sozusagen noch immer die Augen und
fragen, ob es wahr sein kann, aber glücklicherweise ist es
wahr. Was meine ich mit einem neuen Zeitalter der Vernunft?

Erstens meine ich das Ende der Dogmen und Ideologien. Faschismus
und Kommunismus liegen hinter uns. Die zwei großen Feinde
der Vernunft sind geschlagen. Nicht von Armeen, sondern von
stärkeren Ideen: von Freiheit und Demokratie und von der
Vernunft selber. Freiheit bedeutet die Freiheit zu denken, zu
wählen, zu fragen. Die europäische Tradition ist eine des
Pluralismus, der Skepsis und der Diskussion. Das
Autoritätsdenken gehört jetzt der Vergangenheit an, für immer,
hoffe und bete ich.

Wir dürfen jetzt einem Europa des freien
Denkens entgegensehen. Das neue Zeitalter der Vernunft wird
das Zeitalter des Individuums sein. Die Tyranneien, die wir
überwunden haben, wurden im Namen von Rasse, Staat oder
Geschichte errichtet. Mit der ersten Aufklärung kamen die
Ideen von Freiheit und Demokratie. Den Rassen- und
Staatsideologien sind wir jetzt entkommen. Für uns ist das Maß
aller Dinge heutzutage das Individuum. Die Freiheit ist stets die
Freiheit des einzelnen, Verantwortung ist stets die
Verantwortung des einzelnen. Die Freiheit der Wahl, die
Gleichheit vor dem Gesetz, die Aufgeschlossenheit des Geistes
und eine gerechte und offene Gesellschaft: diese Dinge
befinden sich im Herzen unserer europäischen Traditionen,
und sie werden uns helfen, das vor uns liegende Europa zu
bauen.

Das neue Zeitalter der Vernunft bedeutet eine neue
internationale Gesellschaft. Das heutige Europa hat einen
weiten Weg zurückgelegt seit dem ersten Dreißigjährigen
Krieg. Zwar sind die Bedrohungen und Gefahren des
Extremismus und der Gewalt, ob militärisch oder zivil, nicht
völlig überwunden, doch brauchen wir heute, um nationale
Ambitionen im Zaum zu halten, nicht mehr das alte System der
Koalitionen, das alte System des Gleichgewichts der Kräfte.

Inzwischen bringen wir unsere unterschiedlichen historischen
Gegebenheiten und Traditionen ein in das Streben nach
gemeinsamen Zielen. Das ist kein einfacher Prozeß. Es hat
Rückschläge gegeben, und es wird auch in Zukunft
Rückschläge geben. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß wir
jemals wieder zu der alten Art des Denkens und Handelns
zurückkehren werden. Wir können stolz darauf sein, daß wir
aus den Ruinen des Krieges ein System der Zusammenarbeit
geschaffen haben, wie es die Welt in ihrer langen Geschichte
nie zuvor gesehen hat: die Vereinten Nationen, die nach Recht
und Gerechtigkeit streben; die NATO, das einzige dauerhafte
Friedensbündnis; die Europäische Union, diese einzigartige
Verbindung von Integration und Kooperation über die
Staatsgrenzen hinweg. Von zentraler Bedeutung in diesem System ist der Grundsatz,
daß wir unsere Differenzen durch
Diskussion und Kompromiß beilegen - also durch Vernunft,
und nie wieder mit Gewalt.

Meine Damen und Herren, wir
gedenken hier des Endes eines Krieges, den wir für die Freiheit
des einzelnen und gegen die Tyrannei des Staates, für die
Freiheit des Geistes und gegen die Tyrannei der Ideologie
geführt haben. Der Frieden, den wir in den letzten fünfzig
Jahren aufgebaut haben, steht auf dem Fundament einer neuen
internationalen Gesellschaft.

Wenn unsere internationale Gesellschaft auf Vernunft gegründet ist, dann ist sie auch auf
Freundschaft gegründet: Freundschaft zwischen unseren
Völkern, die einmal in Streit und Krieg miteinander lagen, und
persönliche Freundschaft zwischen uns und allen unseren
Bürgern.

Das erste Zeitalter der Vernunft brach an, als die
großen Denker - Hume und Voltaire - uns aus der Finsternis
des Geistes herausführten. In den vergangenen fünfzig Jahren
haben wir eine politische Aufklärung erlebt. Wir sind denen
verpflichtet, die uns aus der politischen Finsternis
herausgeführt haben. Wir alle sind ihre Erben, und wir sind
dafür verantwortlich, dieses Erbe weise zu nutzen.

Unsere Chance heute liegt darin, daß es uns gelingen könnte, Kants
Vision eines ewigen Friedens zur Realität zu machen. Der Preis
dieses Friedens wird in ständiger Wachsamkeit liegen. Freiheit
und Frieden bekommt man nicht geschenkt. Wir werden Mut
und Entschlossenheit brauchen, um zu verteidigen, was wir in
diesen fünfzig Jahren des Friedens aufgebaut haben. Aber ich
meine, unsere Zuversicht, daß wir dies tun können und auch
tun werden, ist berechtigt. Zivilisation ist Partnerschaft
zwischen den Toten, den Lebenden und den noch nicht
Geborenen.

Wir stehen in der Schuld derer, die im Krieg ihr
Leben verloren haben. Und wir stehen in der Schuld derer, die
den Frieden aufgebaut haben. Diese Schuld kann eigentlich nur
gegenüber künftigen Generationen beglichen werden. Für sie
müssen wir eine Welt der Aufgeschlossenheit des Geistes, der
Freiheit und Verantwortung des einzelnen schaffen, und für sie
müssen wir die neue internationale Gesellschaft stärken und
ausbauen.

In meinen Augen, Herr Bundespräsident, werden
dies die Säulen des neuen Zeitalters der Vernunft sein.