Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel

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Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren!

Wir stehen am Ende eines für Europa turbulenten und sehr schwierigen Jahres, in dem gerade Deutschland in vielen Bereichen enorm gefordert war und ist. Ich erinnere an die Situation in der Ukraine, an Griechenland, an die Euro-Zone, an den Klimaschutz, an den Kampf gegen den internationalen Terrorismus und an die vielen Menschen, die bei uns Zuflucht vor Krieg und Verfolgung suchen.

Wir haben erleben müssen, dass der Zusammenhalt Europas in diesem Jahr vielfach auf die Probe gestellt wurde. Ich bin überzeugt, dass gerade Deutschland, das volkswirtschaftlich stärkste Land Europas, in dieser Zeit eine besondere Verantwortung wahrzunehmen hat und dass es oft ganz besonders auf unser Land ankommt, wenn es darum geht, die Errungenschaften der europäischen Integration zu wahren und zu schützen. Die beiden wichtigsten sind für mich die offenen Binnengrenzen und die gemeinsame Währung. Diese Errungenschaften zu bewahren, liegt zutiefst in unseren eigenen nationalen Interessen. Kein Land in Europa profitiert von diesen Errungenschaften so wie wir und braucht sie allein aufgrund der geografischen Lage so wie wir.

Europa hat in den vergangenen Jahrzehnten vieles erreicht, von dem vorangegangene Generationen kaum zu träumen gewagt hätten. Statt in einem Europa des Krieges und der Unfreiheit leben wir heute in einem Europa des Friedens, der Freiheit, des Wohlstands und der guten Nachbarschaft, und das ist alles andere als selbstverständlich. Es ist das Ergebnis einer europäischen Politik, die immer wieder zähes Ringen, intensive Arbeit, Kompromissbereitschaft, Kompromissfähigkeit und auch gegenseitige Solidarität erfordert. Das ist aus meiner Sicht wichtiger denn je, da wir in Zeiten leben, in denen wir unsere Werte und Interessen in einem äußerst harten globalen Wettbewerb behaupten müssen.

Keinem Land in Europa wird es alleine gelingen, sich dauerhaft erfolgreich im globalen Wettbewerb zu behaupten. Keinem Land wird es alleine gelingen, den internationalen Terrorismus zu besiegen oder etwa den Klimawandel aufzuhalten. Keinem Land wird es alleine gelingen, die Folgen von weltweiter Flucht und Vertreibung zu bewältigen und ihre Ursachen zu beseitigen. Keinem Land wird es alleine gelingen, ein Leben in Wohlstand und Frieden zu sichern.

Deshalb dürfen wir gerade in schwierigen Zeiten nicht der Versuchung erliegen, in nationalstaatliches Handeln zurückzufallen. Abschottung ist im 21. Jahrhundert keine vernünftige Option.

Nur wer versteht, dass unmittelbare nationale Eigeninteressen immer in Verbindung mit unserem gemeinsamen europäischen Interesse zu sehen sind, kann die globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts erfolgreich bewältigen. Deshalb ist es auch selbstverständlich, dass wir nach den schrecklichen Anschlägen von Paris fest an der Seite unserer französischen Nachbarn stehen. Die Terrorangriffe des 13. November haben nicht nur Frankreich getroffen; sie galten uns allen, und sie treffen uns Deutsche umso mehr, als die enge Freundschaft Deutschlands mit Frankreich uns einander so nah fühlen lässt.

Die deutsch-französische Freundschaft ist Teil unserer historischen Verantwortung. Sie ist unverrückbarer Kern der deutschen Außenpolitik, und sie ist elementar für den europäischen Einigungsprozess. Deshalb stehen wir als Mitglied der internationalen Allianz Frankreich im Kampf gegen die Terrormiliz IS aktiv zur Seite. Die unfassbaren Gräueltaten, die sich jeden Tag in den vom IS beherrschten Gebieten im Nordirak und in Syrien ereignen, gehen mit Terrorattacken einher, die sich gegen die gesamte Weltgemeinschaft richten.

Die vielen Anschläge – nicht nur in Paris, sondern auch in Tunesien, in der Türkei, im Libanon, im Irak, in Syrien, in den USA oder gegen Russland – zeigen uns sehr deutlich, dass der IS eine globale Bedrohung für Frieden und Sicherheit ist.

Mit Frankreich hat zum ersten Mal ein Mitgliedstaat der Europäischen Union die Beistandsklausel des EU-Vertrags in Anspruch genommen. Das ist ein klarer Appell an die gesamte Europäische Union, sich dieser gemeinsamen Bedrohung geschlossen entgegenzustellen. Wir können dies mit vereinten Kräften leisten – mit unseren Partnern in Europa, in den Vereinigten Staaten von Amerika und in der Region.

Deutschland stellt sich dieser Verantwortung. Dazu gehört unsere im letzten Jahr beschlossene Unterstützung der kurdischen Peschmerga. Dazu gehört der Beschluss des Deutschen Bundestages vom 4. Dezember dieses Jahres, der es uns ermöglicht, mit der Bundeswehr einen wichtigen und auch wirkungsvollen Beitrag in den Bereichen Aufklärung, Schutz und Logistik für unsere Verbündeten im Kampf gegen den IS in Syrien zu leisten.

Untrennbar verbunden ist dieser Beitrag mit all unseren Bemühungen um eine politische Lösung der katastrophalen Lage in Syrien. Das ist das Ziel der Gespräche in Wien, an denen der Bundesaußenminister teilnimmt, auch wenn diese Gespräche manchmal nicht in Wien stattfinden. Es geht darum, den Krieg in Syrien zu beenden, und zwar ohne Assad; denn wir dürfen nie vergessen, dass die große Mehrheit der Syrer vor Assad und seinen Fassbomben flieht. Assad kann niemals Teil einer langfristigen Lösung sein.

Meine Damen und Herren, auch Deutschland steht im Fadenkreuz des internationalen Terrorismus, und zwar nicht erst seit den Anschlägen in Paris. Ich habe großes Vertrauen in die Arbeit unserer Sicherheitsbehörden, unserer Polizistinnen und Polizisten. Sie sind in diesen Zeiten besonders gefordert. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, ihnen hierfür meinen Dank und meine Anerkennung im Namen des ganzen Hauses auszusprechen, und den Innenminister bitten, dies weiterzugeben. Wir brauchen unsere Sicherheitskräfte. Ich bin sehr dankbar, dass ihr Etat im Rahmen der Haushaltsberatungen erhöht wurde. Das ist ganz wichtig.

Wir wissen alle: Absolute Sicherheit gibt es nicht. Absolute Sicherheit ginge nur auf Kosten der Freiheit. Freiheit und Sicherheit müssen immer wieder in eine Balance gebracht werden, eine Balance in dem Bewusstsein, dass es unsere Werte sind, unsere Art, zu leben, zu arbeiten und zu wirtschaften, unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung, die unser Leben in Deutschland so lebenswert machen. Unsere Art, zu leben, unsere Freiheit und unser Rechtsstaat sind sehr viel stärker als jeder Terror.

Beim morgen beginnenden Europäischen Rat werden wir besprechen, was wir auf europäischer Ebene tun können, um den internationalen Terrorismus gemeinsam zu bekämpfen. Dabei wird es insbesondere darum gehen, die Beschlüsse, die wir hierzu im Februar dieses Jahres gefasst haben, konsequent umzusetzen. Dazu gehört, dass wir den Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten weiter verbessern, etwa im Rahmen des Schengener Informationssystems.

Alle unsere Diskussionen werden auch der Unterstützung der Innenminister der Europäischen Union dienen, die auch angesichts des Drucks in einigen wichtigen Fragen ein Stück weitergekommen sind. Dazu gehört, dass wir die Finanzierung terroristischer Organisationen erschweren. Dazu gehört, dass wir bei der Speicherung von Fluggastdaten vorankommen – da ist einiges geschehen –; denn wenn wir die Reisebewegungen potenzieller Gefährder nachvollziehen können, verbessert dies natürlich unsere Möglichkeiten, zukünftige Anschläge zu verhindern. Deshalb bin ich sehr froh, dass der Rat und das Europäische Parlament sich politisch geeinigt haben und die entsprechende Richtlinie noch in diesem Jahr beschlossen werden soll.

Nur wenige Wochen nach den schrecklichen Anschlägen von Paris fand in derselben Stadt die Weltklimakonferenz statt. Schon die Tatsache, dass dieses Welttreffen der Klimaschützer gerade in dieser Stadt stattfand, war ein überragendes Zeichen gegen die Angst, die der Terrorismus erzeugen will. Dass dieses Welttreffen dann auch noch so einvernehmlich und so erfolgreich endete, verstärkt dieses Zeichen zusätzlich.

Das Ergebnis ist ein historischer Wendepunkt. Ich möchte der Bundesumweltministerin und allen Verhandlern, auch dem Entwicklungsminister und dem Landwirtschaftsminister, ganz herzlich danken. Wir haben uns sehr intensiv in die Verhandlungen eingebracht. Frankreich war ein herausragender Gastgeber mit einer klugen Konfigurierung der Konferenz, der eine lange Zeit der Vorbereitung vorausging. Deshalb konnte es zu diesem historischen Wendepunkt kommen.

Zum ersten Mal in der Geschichte hat sich die gesamte Weltgemeinschaft dazu verpflichtet, gemeinsam und entschlossen im Kampf gegen die globale Klimaveränderung zu handeln. Alle Staaten wollen die Erderwärmung deutlich unter zwei Grad halten, und sie wollen sich anstrengen, sie auf 1,5 Grad zu begrenzen. Das ist auch ein ganz wichtiges Signal in Richtung der kleinen Inselstaaten. Und alle Staaten verpflichten sich dazu, ihren Beitrag zu leisten.

Das ist nicht nur ein kraftvolles Zeichen der Hoffnung für den globalen Klimaschutz und eine echte Weichenstellung der Welt in Richtung einer globalen Energiewende. Der Beschluss kann auch dazu beitragen, die Lebensbedingungen von Milliarden Menschen in Zukunft zu sichern. Dieser neue Rahmen muss jetzt natürlich engagiert mit Leben erfüllt werden. Sie werden morgen in einer Aktuellen Stunde noch einmal vertieft über genau dieses Thema diskutieren.

Meine Damen und Herren, der Wert der deutsch-französischen Zusammenarbeit zeigt sich auch mit Blick auf die Ukraine, die uns in diesem Jahr stark beschäftigt hat. Das Minsker Maßnahmenpaket vom Februar, an dem Deutschland und Frankreich maßgeblich beteiligt waren, hat zu einer Beruhigung der Lage beigetragen, auch wenn die Kampfhandlungen immer noch nicht völlig zum Erliegen gekommen sind.

Es bleibt dabei: Eine mögliche Aufhebung der Sanktionen gegen Russland ist mit der vollständigen Umsetzung des Minsker Pakets verknüpft. Das haben wir noch nicht erreicht. Deshalb werden der Bundesaußenminister und ich uns dafür einsetzen, dass nicht nur die Minsker Vereinbarungen, sondern auch die bestehenden Sanktionen verlängert werden. Aber wir werden vor allen Dingen daran arbeiten, dass die Minsker Vereinbarungen vorankommen.

Wir stehen jetzt vor der komplizierten Frage, wie die Lokalwahlen in den Gebieten von Donezk und Luhansk abgehalten werden können. Das ist eine große, schwierige Aufgabe. Das kann sich jeder vorstellen. Wir haben in Minsk vereinbart – darauf will ich noch einmal hinweisen –, dass sie nach den Regeln von ODIHR, also der für Wahlen zuständigen Organisation der OSZE, stattfinden. Auf dieser Grundlage müssen die Arbeiten jetzt in der Kontaktgruppe intensiviert werden. Eine Aufhebung der Sanktionen, die mit Blick auf die völkerrechtswidrige Annexion der Krim beschlossen wurden, steht ohnehin zurzeit natürlich nicht zur Debatte.

Bei dem morgen beginnenden Europäischen Rat werden wir selbstverständlich auch über Großbritannien sprechen. Die Bundesregierung beteiligt sich konstruktiv an den Verhandlungen. Großbritannien wird seine Forderungen vorbringen, und wir wissen, dass die Aufgabe, hier eine Lösung zu finden, sehr anspruchsvoll ist.

Wir wollen einerseits zu einer Vereinbarung kommen, mit der die britische Regierung beim geplanten Referendum erfolgreich für einen Verbleib in der Europäischen Union werben kann. Andererseits wollen und werden wir die grundlegenden Errungenschaften der europäischen Integration dabei nicht infrage stellen. Dazu gehören insbesondere das Prinzip der Freizügigkeit und das Prinzip der Nichtdiskriminierung zwischen den europäischen Bürgerinnen und Bürgern. Diese Prinzipien stehen nicht zur Disposition.

Was uns Hoffnung gibt, ist, dass bislang immer gute und einvernehmliche Lösungen gefunden wurden, wenn ein Mitgliedstaat Klärungsbedarf bezüglich seiner Rolle in der Europäischen Union sah. Das war 1992 bei Dänemark der Fall, und das war 2008 bei Irland der Fall. Ich bin deshalb auch zuversichtlich, dass es auch dieses Mal mit Großbritannien gelingen kann.

Die Bundesregierung wird, wo immer es geht, ihren Beitrag dazu leisten. Der Präsident des Europäischen Rates, Donald Tusk, koordiniert die Verhandlungen. Er hat seine bisherigen Einschätzungen in einem Brief an die Staats- und Regierungschefs zusammengefasst, der morgen auch die Grundlage für eine politische Aussprache im Europäischen Rat bilden wird.

Die morgige Debatte ist allerdings nur eine Zwischenstation. Denn am Ende wird es sehr auf die Details und die Ausgestaltung einer möglichen Vereinbarung ankommen. Deutschland jedenfalls wünscht sich, dass Großbritannien dauerhaft ein aktiver Partner in einer starken Europäischen Union bleibt.

Denn es ist eben nicht nur das Vereinigte Königreich selbst, das von seiner Mitgliedschaft profitiert; es ist auch die Europäische Union als Ganzes, die ohne das Vereinigte Königreich deutlich an Gewicht verlieren würde.

Großbritannien, das ist nicht nur der drittgrößte Mitgliedstaat, und das sind nicht nur 15 Prozent der Wirtschaftskraft der Europäischen Union. Großbritannien, das ist auch die Wiege des modernen Parlamentarismus und ein Wegbereiter unserer gemeinsamen europäischen Werte. Ihre Grundsteine wurden bereits im 17. Jahrhundert in England gelegt. Alle demokratischen Grundordnungen im heutigen Europa gehen ganz maßgeblich darauf zurück.

Auch in der Außen- und Sicherheitspolitik ist Großbritannien ein enger und verlässlicher Partner, gerade für uns in Deutschland, aber auch für ganz Europa. Als ständiges Mitglied im Weltsicherheitsrat – und nicht nur dort – trägt Großbritannien ganz erheblich zum Gewicht der Europäischen Union in der Welt bei. Das ist gerade in diesen Zeiten von enormer Bedeutung, in Zeiten, in denen Europa international gefordert ist wie nie zuvor.

Und Großbritannien ist für mich ein Land, das in vielen europäischen Politikbereichen ähnliche Ziele verfolgt wie Deutschland. Es ist in vielen Fragen ein natürlicher Verbündeter. Das gilt vor allem dann, wenn es darum geht, Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung zu fördern und den europäischen Binnenmarkt zu stärken. Dies ist dringend nötig; denn Europa muss auf einem wirtschaftlich soliden Fundament stehen, um auch alle anderen Herausforderungen überhaupt bewältigen zu können.

Deshalb ist es wichtig, dass sich der Europäische Rat auch mit dieser Frage beschäftigt. Wir dürfen nie vergessen, dass der europäische Binnenmarkt eine einzigartige Erfolgsgeschichte ist, von der mehr als 500 Millionen Bürgerinnen und Bürger jeden Tag profitieren. Aber er muss in einigen Bereichen wesentlich gestärkt werden. Wir brauchen einen echten digitalen Binnenmarkt, der die Attraktivität des Standorts Europa für global agierende digitale Akteure verbessert. Herzlichen Dank an Thomas de Maizière und alle anderen Regierungsmitglieder, die daran mitgewirkt haben, dass die Datenschutz-Grundverordnung jetzt sozusagen verabschiedungsreif ist – auch wenn es einige Unzufriedenheiten gibt. Es ist ein Schritt in Richtung Binnenmarkt. Aber um der Wahrheit die Ehre zu geben: Es hätte ja kein Trilogergebnis gegeben, wenn nicht auch Herr Albrecht sich bewegt hätte; das ist richtig. Aber ich hoffe, dass es für die erforderliche Wertschöpfung in Europa ausreicht, wenn es dann um die Verarbeitung großer Datenmengen geht. Da werden wir sicherlich im Gespräch bleiben. – Gehen wir lieber zur Energie; das ist einfacher.

Wir brauchen eine Energieunion mit einem funktionierenden Binnenmarkt für Strom und Gas, der europaweit eine sichere, bezahlbare und umweltverträgliche Energieversorgung gewährleistet. Zudem brauchen wir eine Kapitalmarktunion, die vor allem für kleine und mittlere Unternehmen den Zugang zur Finanzierung verbessert und die Investitionen in Infrastruktur erleichtert.

Entscheidend für den künftigen Wohlstand in Europa ist auch der Freihandel. Deshalb muss es unser Ziel sein, die Verhandlungen für das Transatlantische Freihandelsabkommen im Laufe des kommenden Jahres abzuschließen.

Die Wirtschafts- und Währungsunion krisenfester zu machen, wird ebenfalls weiter unsere Aufgabe sein. Vordringlich ist hier vor allem die glaubhafte Umsetzung der bereits beschlossenen Regeln und Maßnahmen. Zudem sollten die Risiken im Finanzsektor weiter abgebaut werden, einschließlich der Risiken aus dem Staatssektor. Eine Vergemeinschaftung der europäischen Einlagensicherung hätte das Gegenteil zur Folge. Deshalb halten wir sie für falsch, und deshalb lehnen wir sie ab. – Fragen Sie mal bei den Sparkassen und bei den Volksbanken nach.

Meine Damen und Herren, die Zahl und die Art der Herausforderungen auf europäischer Ebene sind vielfältig. Zu den dringlichsten Herausforderungen gehört weiterhin auch die, die Europa durch die vielen Flüchtlinge zu bewältigen hat, und diese Herausforderung wird auch beim kommenden Rat wieder einen breiten Raum einnehmen. Wir wissen: Vor uns liegt noch ein steiniger Weg, den wir mit Entschlossenheit und mit langem Atem gehen müssen. Wir haben jetzt auf nationaler Ebene eine Reihe von Entscheidungen getroffen. Andere werden folgen. Denken wir zum Beispiel an den Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Datenaustauschs, den wir in der vergangenen Woche im Kabinett verabschiedet haben. Die darin enthaltenen Maßnahmen werden helfen, die Identifizierung und Registrierung von Asylbewerbern deutlich zu verbessern. Maßnahmen auf nationaler Ebene werden dazu beitragen, die Flüchtlingsbewegung zu ordnen und zu steuern, mit Blick auf die konsequente Rückführung abgelehnter Asylbewerber auch zu reduzieren. Sie müssen aber verbunden sein mit gesamteuropäischen und internationalen Antworten, um die Zahl der Flüchtlinge tatsächlich nachhaltig zu reduzieren.

Das beginnt damit, dass wir darauf bestehen, dass bereits gefasste Beschlüsse konsequent umgesetzt werden. Das gilt insbesondere für die Errichtung der Hotspots in Italien und Griechenland, damit wir an den Außengrenzen der EU zu geordneten Verhältnissen zurückkehren. Das gilt für die beschlossene Umverteilung von 160.000 schutzbedürftigen Flüchtlingen aus Italien und Griechenland, die viel zu langsam vorankommt, weil die Voraussetzung natürlich die Hotspots sind. Nur dann, wenn nicht nur registriert wird, sondern auch rückgeführt und verteilt wird in Europa, ist ein funktionierender Hotspot auch als solcher anzusehen.

Das gilt natürlich auch für den Schutz der Außengrenzen der Europäischen Union. Die Europäische Kommission hat hierzu wichtige Vorschläge vorgelegt, die nicht nur in die richtige Richtung gehen, sondern in ihrer Reichweite noch vor einem Jahr kaum vorstellbar gewesen wären. Dabei geht es darum, der europäischen Grenzschutzagentur Frontex mehr Befugnisse zu erteilen, damit sie gegebenenfalls im äußersten Notfall auch eigenständig agieren kann. Es geht darum, auf europäischer Ebene Grenzschützer und Material bereitzuhalten, die im Bedarfsfall flexibel in den betroffenen Mitgliedstaaten eingesetzt werden können. Es geht darum, Frontex eine größere Rolle bei den notwendigen Rückführungen einzuräumen bei Flüchtlingen, die keinen Schutzanspruch in der Europäischen Union haben.

Natürlich berührt der Grenzschutz ganz wesentliche Fragen nationalstaatlicher Souveränität. Natürlich werden auch wir sehr genau und sorgfältig abwägen müssen, welche Maßnahmen in Zukunft auf welcher Ebene verantwortet werden sollen. Aber ich finde es ermutigend und richtig, dass sich die Diskussion in diesem Bereich weiterentwickelt hat. Ich werde mich daher beim Europäischen Rat dafür einsetzen, dass die Vorschläge der Europäischen Kommission möglichst rasch beraten und verabschiedet werden können.

Schon heute leistet Deutschland mit 100 zusätzlichen Experten für Frontex einen wesentlichen Beitrag zum Schutz der Außengrenzen. Auch alle anderen müssen ihre Zusagen einhalten und rasch handeln, um die getroffenen Beschlüsse schnell und erfolgreich umzusetzen. Wo immer nötig, sind wir auch zu bilateraler Unterstützung bereit. Selbstverständlich werden wir uns auch weiterhin für eine faire Verteilung der Flüchtlinge auf die Mitgliedstaaten der Europäischen Union einsetzen, für die wir nach unserer Auffassung einen dauerhaften und verbindlichen Mechanismus brauchen; denn auch das ist für uns eine Frage elementarer europäischer Solidarität.

Ich weiß, dass dies ein wahrlich dickes Brett ist, das es zu bohren gilt – mit viel Geduld, langem Atem und auch mit Überzeugungskraft. Sicherlich wird der Europäische Rat morgen noch nicht den Durchbruch erzielen. Aber die Geschichte Europas lehrt, dass sich Geduld und Zähigkeit am Ende eines langen Weges noch immer ausgezahlt haben.

Es ist im Interesse aller, die Zahl der Menschen, die in Europa Zuflucht suchen, zu reduzieren. Das ist im deutschen Interesse, das ist im europäischen Interesse, und das ist auch im Interesse der Flüchtlinge selbst, damit sie sich erst gar nicht auf den lebensgefährlichen Weg quer durch Europa machen müssen. Um das zu schaffen, ist es von zentraler Bedeutung, die Fluchtursachen zu bekämpfen. Deshalb haben wir am 25. Oktober mit den Staaten entlang der Westbalkanroute eine Verbesserung des Informationsaustauschs und der humanitären Versorgung vereinbart. Deshalb haben wir am 11. und 12. November in Valletta eine enge Zusammenarbeit zwischen Europäischer Union und unseren afrikanischen Partnern vereinbart. Deshalb haben wir am 29. November beim EU-Türkei-Gipfel die Grundlage für eine langfristige migrationspolitische Partnerschaft mit der Türkei geschaffen.

Die Türkei ist und bleibt für die Europäische Union ein Schlüsselpartner. Sie ist zurzeit das wichtigste Transitland nach Europa, und sie beherbergt mehr als zwei Millionen Flüchtlinge im eigenen Land. Wir haben zugesagt, drei Milliarden Euro bereitzustellen. Ich bin dem Finanzminister sehr dankbar, dass er die Verhandlungen darüber, wie dies geschehen kann, in Gang gesetzt hat. Ich hoffe, dass wir dabei Erfolg haben werden. Wir wollen diese drei Milliarden Euro einsetzen, um die Lebenssituation der Flüchtlinge in der Türkei zu verbessern und damit Fluchtursachen zu bekämpfen; denn je besser die Lebenssituation der Flüchtlinge innerhalb der Türkei ist, desto geringer wird die Not, den gefährlichen Weg nach Europa zu wagen.

Im Gegenzug erwarten wir von der Türkei einen besseren Schutz ihrer Grenze zur EU, eine konsequentere Seenotrettung in der Ägäis und eine effektivere Bekämpfung der Schleuserkriminalität. Auch darüber werde ich morgen vor Beginn des Europäischen Rates mit dem türkischen Ministerpräsidenten Davutoglu und weiteren Staats- und Regierungschefs sprechen.

Durch die Zusammenarbeit mit der Türkei wird es möglich sein, legale Zuwanderungsmöglichkeiten zu schaffen, beispielsweise durch legale Kontingente, mit denen wir der illegalen Migration entgegentreten. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass die illegale Migration bis dahin zurückgegangen ist. Die Europäische Kommission hat dazu gestern wiederum einen Vorschlag vorgelegt. Ich bin der Kommission sehr dankbar, dass sie in all diesen Fragen sehr zügig ihre Vorschläge vorlegt und damit die Arbeit voranbringt.

Wenn uns all das gelingt, werden wir sehr viel erreicht haben, und zwar wirklich im wahrsten Sinne des Wortes zum Wohle aller und ganz besonders zum Wohle der betroffenen Menschen. Ich will hier noch hinzufügen – das spielt morgen keine Rolle –, dass wir natürlich nicht nur unsere Leistungen für UNHCR und Welternährungsprogramm erbracht haben, dass wir nicht nur andere ermutigt haben – ich erinnere an die Konferenz des Bundesaußenministers in New York –, sondern dass am 4. Februar 2016 der britische Premierminister, meine norwegische Kollegin, der Emir von Kuwait und ich eine Konferenz durchführen werden, auf der wir versuchen werden, möglichst viel des Geldes zusammenzubekommen, das für UNHCR und Welternährungsprogramm für 2016 notwendig ist, damit nicht wieder von Monat zu Monat die Frage im Raum steht: Haben wir genug Geld, oder haben wir nicht genug Geld? Das ist ein Zustand, der wirklich nicht zumutbar ist. Zur Stunde sind wieder nur etwas mehr als jeweils 50 Prozent der Finanzzusagen für die Organisationen da.

Wir wissen: Es gibt für all diese Probleme nicht die eine Lösung, die alle Probleme auf einen Schlag beheben könnte. Wir müssen an vielen Stellen gleichzeitig ansetzen. Ich will hier auch noch an die Verhandlungen erinnern, die zur Stunde zu Libyen stattfinden. Der Bundesaußenminister war vor wenigen Tagen in Rom und ein deutscher Diplomat, Herr Kobler, ist dabei, intensiv mit anderen daran zu arbeiten, eine Einheitsregierung in Libyen zustande zu bringen – eine Einheitsregierung, die auch trägt und die uns dann in die Lage versetzt, mit der libyschen Regierung über die Frage, wie illegale Migration über die betroffenen Küstengebiete in Libyen eingedämmt werden kann, in Verhandlungen zu treten.

Wir müssen bei all dem, was wir tun, an den Zusammenhalt der Europäischen Union und an unsere gemeinsame Verantwortung für Europa und für unsere Werte denken. Ich werde bei all meinen Gesprächen beim morgigen Europäischen Rat zu unterschiedlichen Themen, wie sie dort beraten werden können, immer den Grundgedanken haben, unser gemeinsames Europa zu stärken. Deutschland wird dafür seinen Beitrag leisten.