Rede von Bundespräsident Horst Köhler

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Im Osterspaziergang von Faust lässt Goethe einen Bürger feststellen, wie interessant ein Gespräch über den Krieg sei, "wenn hinten, weit, in der Türkei die Völker aufeinander schlagen". Mit dieser behaglichen Distanziertheit ist es heute vorbei. Fernsehen und Internet bringen uns Katastrophen aus allen Teilen der Welt ins Wohnzimmer - nicht nur Naturkatastrophen, sondern auch Kriege und Terror. Wir werden umfassend unterrichtet. Aber wir können auch selbst betroffen sein. Das verheerende Seebeben vom 26. Dezember hat uns furchtbar deutlich gemacht, dass eine Naturkatastrophe globale Auswirkungen haben kann.

Wir müssen uns vor Augen führen: Es gibt keinen Ausstieg aus der Globalisierung. Die Naturkatastrophe am Indischen Ozean, die wechselseitigen Abhängigkeiten in der Wirtschaft und in der Umwelt, aber auch der weltweite Terrorismus verlangen vielmehr einen stärkeren Einstieg in die Gestaltung der Globalisierung.

Heute leben ungefähr sechs Milliarden Menschen auf unserem Planeten Erde. Es ist eng geworden, und es wird noch enger werden; bis 2050 mögen es nach Schätzungen bis zu neun Milliarden sein, die auf dem Planeten Erde leben werden. Wie soll ein friedliches Zusammenleben dieser vielen Menschen möglich sein, wenn schon jetzt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung von weniger als zwei US-Dollar pro Tag leben muss, also in Armut? Die Krise ist nicht nur vorprogrammiert, sie ist bereits da. Und ich glaube nicht, dass die Bewältigung dieser Krise nur darin bestehen kann, die Folgen, vor allem die Folgen im Sicherheitsbereich, einzugrenzen. Ohne weltweite Armutsbekämpfung wird es für uns langfristig keine Sicherheit geben können und auch keine politische Stabilität. Und deshalb ist Entwicklungspolitik die beste Konfliktprävention! Deshalb sollte es uns auch alle nachdenklich machen, dass die weltweiten Militärausgaben mehr als das Zehnfache der Entwicklungsleistungen der OECD-Länder ausmachen!

Zwischen Sicherheit und wirtschaftlicher Entwicklung besteht ein Zusammenhang. Das ist fast schon eine Binsenweisheit. Ohne Sicherheit kann es keine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung geben. Umgekehrt zeigt die Erfahrung auch, dass anhaltende Armut breiter Bevölkerungsschichten die staatliche Stabilität bedrohen kann. Die politische Stabilität eines Landes bleibt auch fragwürdig, wenn die Bevölkerung eines Landes nicht am natürlichen Reichtum oder an der politischen Willensbildung teilhaben kann. Hierfür gibt es zahlreiche Beispiele, vor allem in Afrika, aber auch in Asien oder Lateinamerika.

Die Folgen wirtschaftlicher Nöte oder staatlichen Zerfalls treffen auch uns in Europa. Denken Sie nur an die tagtäglichen Versuche vieler Menschen, vor allem aus Afrika, mit kaum seetüchtigen Booten den Süden Europas zu erreichen. Vor allem die Staaten an der Südflanke Europas stellt das vor enorme Probleme - sozial, wirtschaftlich, aber auch unter Sicherheitsaspekten. Wir können dem langfristig nur begegnen, wenn wir die wirtschaftliche und staatliche Entwicklung in den Herkunftsländern nachhaltig fördern. Auf Dauer wird das billiger sein, als Europa zu einer Festung auszubauen. Wenn es uns dagegen nicht gelingt, die Armut in Afrika wirksam zu bekämpfen, wenn noch mehr Staaten zu failed states werden, dann haben wir es in Zukunft mit noch viel mehr Immigranten und "boat people" zu tun. Das wird uns vor Probleme ganz anderer Größenordnung stellen. Wir können es uns schlicht nicht leisten, noch mehr Zeit zu verlieren!

Tatsächlich kommen wir heute mit dem klassischen Begriff von Sicherheit nicht mehr aus. Wir müssen ihn vielmehr so fassen, dass er auch sozio-ökonomische und kulturelle Faktoren einschließt. Die Vereinten Nationen verwenden hier das Konzept der "human security". Das umfasst den Schutz essentieller Freiheiten genauso wie den Schutz der Menschen vor Bedrohungen.

Wörtlich heißt es: "Human security connects different types of freedoms - freedom from want, freedom from fear and freedom to take action on one's own behalf." Ich finde es bemerkenswert, dass in dieser Definition auch Teile von Franklin Delano Roosevelts berühmten vier Freiheiten enthalten sind, die den Eintritt Amerikas in den Zweiten Weltkrieg moralisch-politisch legitimierten.

Die Freiheit von wirtschaftlicher Not verbindet das Konzept der human security mit den Millennium Development Goals der Vereinten Nationen, die im Jahr 2000 von 184 Staats- und Regierungschefs beschlossen worden sind. Zu diesen Entwicklungszielen gehört, vor allem die extreme Armut bis zum Jahr 2015 zu halbieren und allen Kinder auf der Welt die Möglichkeit zu geben, eine ausreichende Schulbildung zu bekommen. Das sind gute und wichtige Ziele.

In diesem Jahr werden die UN überprüfen, wie weit die Millennium Development Goals umgesetzt worden sind. Das heißt, die 189 Regierungschefs müssen überprüfen, wie weit sie gekommen sind. Bei der Armutsbekämpfung gibt es Fortschritte, zum Beispiel in Asien, aber sie reichen bei weitem nicht aus. Wir müssen unsere Anstrengungen verstärken. Dabei müssen arme und reiche Länder besser zusammenarbeiten. Alle tragen die Verantwortung dafür, dass diese Ziele erreicht werden, in erster Linie aber die Entwicklungsländer selbst. Diese Eigenverantwortung kann und darf ihnen nicht abgenommen werden. Sie tragen die Verantwortung für good governance, für eine verantwortliche Regierungsführung, Rechtstaatlichkeit, die Bekämpfung der Korruption und die Erarbeitung von konkreten Plänen zur Armutsminderung.

Bei meinem Besuch in Afrika im Dezember letzten Jahres habe ich feststellen können, dass sich dort viel Positives tut. In dem von Afrikanern selbst formulierten gemeinsamen Entwicklungskonzept NEPAD - dem New Programme for Africa's Development - haben sie sich zu der zentralen Aufgabe bekannt, selbst für good governance zu sorgen, für verantwortliches staatliches Handeln. Und mehr als 20 afrikanische Staaten haben sich inzwischen dem so genannten "African Peer Review Process" unterworfen. Sie sind bereit, ihre Politik gegenseitig kritisch zu überprüfen. Dies ist ein wichtiger Schritt, um eigene Probleme rechtzeitig zu erkennen und auch von afrikanischen Erfolgsgeschichten zu lernen. Viele Afrikaner haben erkannt, dass sie selbst den Schlüssel für eine gute wirtschaftliche und politische Entwicklung in der Hand haben. Jetzt gilt es, dieses Konzept konsequent umzusetzen. Dabei können noch viele Kräfte mobilisiert werden. Vor allem die starke Rolle der Frauen Afrikas und die vielfältigen Formen zivilgesellschaftlichen Engagements machen mir Mut.

Die Forderung an die Entwicklungsländer, der eigenen Verantwortung Rechnung zu tragen, ist übrigens keine neokoloniale Einmischung, sondern eine Verpflichtung, welche sich aus der gemeinsamen Verantwortung für die eine Welt ergibt.

Wenn die Empfängerländer ihre Eigenverantwortung wahrnehmen, kann die notwendige, stärkere Unterstützung von unserer Seite langfristige Wirkung zeigen. Dann müssen wir uns beim Wort nehmen lassen. Um die Millennium Development Goals zu erreichen, braucht es mehr finanzielle Unterstützung. Ich lasse darum nicht locker in meinem Appell an die Industrieländer, auch an Deutschland, 0,7 Prozent ihres Bruttosozialprodukts für Entwicklungshilfe aufzuwenden. Dazu haben sie sich schon vor über 30 Jahren verpflichtet. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft eine Lücke von fast 100 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Diese sind nötig, um die Millennium Development Goals zu verwirklichen. Wir müssen alles uns Mögliche tun, diesem Ziel jedes Jahr Schritt für Schritt näher zu kommen. Mit Blick auf Deutschland dürfen wir diese Verantwortung nicht allein beim Bundesfinanzminister abladen, und Schuldzuweisungen bringen uns nicht weiter. Jedes einzelne Land, jeder einzelne von uns ist gefragt, unserer Verantwortung für die eine Welt gerecht zu werden.

Zugleich müssen wir sicherstellen, dass die Gelder für Entwicklung und Armutsbekämpfung auch direkt dort ankommen, wo sie am nötigsten gebraucht werden - das sind wir unseren Steuerzahlern schuldig. Und wir müssen die Errichtung eines fairen Handelsregimes energisch vorantreiben. Faire Handelsbedingungen sind unverändert der wichtigste Beitrag, den die internationale Gemeinschaft zur Bekämpfung der Armut in Afrika leisten kann. Wir haben zugesagt, die Doha-Runde zu einer Entwicklungsrunde zu machen. Auch hier sind wir im Wort! Und dann können und müssen wir dazu beitragen, innerstaatliche Strukturen aufzubauen und vor allem auch die Privatwirtschaft in den Entwicklungsländern zu stärken.

Es liegt im Grundinteresse eines jeden funktionierenden Staates, der Privatwirtschaft breite Entfaltungsmöglichkeiten einzuräumen. Handel ist die beste Hilfe zur Selbsthilfe. Wir dürfen die betroffenen Staaten deshalb nicht faktisch von der Integration in die Weltwirtschaft ausschließen, sei es durch Subventionen, durch protektionistische Maßnahmen oder durch andere Handelshindernisse.

Zugleich müssen wir uns immer wieder fragen, ob unser eigener Einsatz auch wirksam ist. Unser Engagement muss verlässlich, planbar und bestmöglich mit allen beteiligten Partnern abgestimmt sein. Wäre dies der Fall, dann könnten wir bereits heute - selbst mit den nur unzureichend vorhandenen Mitteln - wesentlich mehr bei der Armutsbekämpfung erreichen. Ich wünsche mir zum Beispiel eine bessere Koordinierung und Vernetzung der beteiligten Institutionen oder die Vereinheitlichung von Richtlinien und Vergabekriterien. Die Geber müssen ihre Hilfe langfristig zum Aufbau solider staatlicher Strukturen und öffentlicher Institutionen einsetzen. Ich denke hier an den ländlichen Raum, an Infrastrukturprojekte, an den Aufbau rechtsstaatlicher Institutionen, die Förderung der Privatwirtschaft sowie Bildung und Ausbildung. Gerade letztere sind der wichtigste Beitrag, den wir dazu leisten können, das Bevölkerungswachstum in Afrika in Grenzen zu halten.

Das alles ist nicht neu. Die Programme und Konzepte dafür liegen vor, wir müssen sie nur anwenden.

Die Bekämpfung der Armut weltweit ist nicht nur eine Frage wohlverstandenen Eigeninteresses, sondern eine zutiefst moralische Frage an uns alle. Ich halte es für eine grundlegende ethische Verpflichtung, dass wir in der einen Welt, in der wir leben, jedem die Chance geben, dieses Leben in Würde leben zu können. Das gehört zu den geistigen Grundlagen, die uns in Europa und Amerika verbinden und auf die wir stolz sein können - jedenfalls dann, wenn wir sie auch im täglichen Leben umsetzen. Wir können zwar nur im Rahmen unserer Möglichkeiten handeln, aber die haben wir noch nicht ausgeschöpft!

Das Beispiel Afrika zeigt schließlich auch: Wir müssen uns intensiver mit der Frage auseinandersetzen, wie wir nach dem Ende eines Konfliktes zu einer dauerhaften Stabilisierung beitragen können. So halte ich es zum Beispiel für problematisch, in Sierra Leone bereits jetzt den schrittweisen Abzug der UN-Friedenstruppe in diesem Jahr zu planen. Wir brauchen eine größere Sicherheit, dass die staatlichen Institutionen Sierra Leones dauerhaft in der Lage sind, Recht und Ordnung sicherzustellen. Beispielhaft finde ich daher die britische Zusage für Sierra Leone, den Aufbau einer funktionsfähigen Polizei über zehn Jahre zu unterstützen. Gerade für Länder, die sich im Wiederaufbau nach einem Konflikt befinden, ist eine mittel- bis langfristig konzipierte Unterstützung sehr wichtig.

Leider gibt es in Krisenfällen keine objektiven Kriterien für eine internationale Intervention oder für die Voraussetzungen zu ihrer Beendigung. Es handelt sich naturgemäß um politische Entscheidungen, mit allen positiven und negativen Begleiterscheinungen, die politische Entscheidungen haben können. Hier haben wir den richtigen Weg meines Erachtens noch nicht gefunden. Die Fragen der Konfliktprävention und des Krisenmanagements müssen deshalb bei der Reform der Vereinten Nationen auch im Mittelpunkt stehen.

Es ist meine Überzeugung, dass wirtschaftliche Entwicklung eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für ein Mehr an globaler Sicherheit darstellt. Ganz besonders wichtig ist, dass wir auch den Kampf um die Herzen und Köpfe der Menschen führen. Dazu müssen wir nicht zuletzt die kulturelle Identität der Anderen achten und respektieren.

Das heißt: Wir müssen uns aktiv der geistigen Auseinandersetzung mit anderen Kulturkreisen stellen - im Dialog. Dabei können wir Gemeinsamkeiten suchen, wir müssen aber auch Verschiedenartigkeit akzeptieren und respektieren. Und wir dürfen Gleichgültigkeit oder Indifferenz nicht mit Toleranz verwechseln. In dieser Auseinandersetzung müssen wir selbst Stellung beziehen - aktiv, nachdrücklich und vor allem glaubwürdig mit einem eigenen Standpunkt. Sie alle kennen das Wort vom Dialog der Kulturen, welches fast zu einem Modebegriff geworden ist. Dieser Dialog wird ja schon praktiziert - zwangsläufig aber nur mit denen, die dialogbereit sind. Wie aber erreichen wir die Fundamentalisten, die Fanatiker, diejenigen, von denen eine Gefährdung ausgehen kann?

Armut und kulturelle Überfremdung werden häufig als Gründe für den internationalen Terrorismus mit islamistischem Hintergrund genannt. Wir alle wissen aber, dass beispielsweise die Täter des 11. September 2001 nicht aus armen oder ungebildeten Kreisen kamen. Wahr ist aber auch, dass das Umfeld für Terroristen häufig unter dem Eindruck der Chancenlosigkeit und einer unabwendbar erscheinenden Marginalisierung steht. Und hier müssen wir ansetzen.

Wir erleben doch tagtäglich, welche Konflikte sich ergeben, wenn unterschiedliche Kulturen aufeinanderprallen. Jugendliche in Karachi, Kairo, Lagos oder Djakarta werden unablässig mit einem zunächst faszinierenden way of life konfrontiert, der die Ideale der Freiheit verspricht. Dieser Lebensstil steht aber in vielerlei Hinsicht im Gegensatz zu eigenen kulturellen Normen und Vorstellungen. Daraus resultiert eine Gleichzeitigkeit von Faszination, Frustration und Ablehnung, die nicht selten in Hass und Gewaltbereitschaft umschlägt.

Ich fürchte, der Kampf um die Köpfe und Herzen der Menschen wird lange dauern und nicht immer einfach sein. Sicher ist aber, dass wir diesen Kampf führen müssen, sonst greifen auch die Anstrengungen um Sicherheit und wirtschaftlichen Fortschritt zu kurz.

Vor drei Wochen hatte ich Gelegenheit, zu den Vertretern des Nato-Rates zu sprechen. Die Nato, deren Mitglieder den Werten von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten verpflichtet sind, begann als Verteidigungsbündnis. Heute stellt sie sich neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen, die mit dem Bedrohungsszenario des kalten Krieges nichts mehr zu tun haben. Ich glaube, dass die Nato als Wertegemeinschaft nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt hat, im Gegenteil.

Ich bin auch überzeugt, dass die Menschen heute immer mehr verstehen, dass Sicherheit immer auch heißt, den Menschen in den ärmsten Staaten der Welt eine positive Lebensperspektive zu geben. Eine Perspektive für ein Leben in Würde, für ein Leben frei von Angst ums Überleben, für ein Leben in eigener kultureller Identität. Wir brauchen letztlich ein Politikkonzept für eine Welt.