Rede von Bundespräsident Horst Köhler

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"Sterben lernen heißt leben lernen"

I.

Vor acht Wochen haben wir des 50. Todestages von Thomas Mann gedacht. Eines der bewegendsten Kapitel in seinen "Buddenbrooks" beschreibt den Tod der alten Konsulin Buddenbrook. Hochbetagt und schwer erkrankt ringt sie tagelang "mit dem Leben um den Tod", wie es bei Thomas Mann heißt. Am Sterbebett hat sich ihre Familie versammelt und harrt bei ihr aus bis zuletzt.

Jahrhundertelang war es die Großfamilie, in der Jung und Alt gemeinsam immer wieder den Kreislauf von Geburt und Tod durchlebten. Der französische Historiker Philippe Ariès spricht vom "gesellschaftlich gezähmten Tod", der als individuelles Ereignis in die Gemeinschaft eingebunden war und vom Beistand der ganzen Familie, der Freunde oder etwa der Mitbrüder im Kloster begleitet wurde. Der Sterbende stand im Mittelpunkt. In manchen Bauernhäusern war noch bis in das vergangene Jahrhundert hinein ein bestimmtes Zimmer als Sterbezimmer vorbereitet: Ein Ort für das Sterben mitten im Leben.

In einem alten Kirchenlied heißt es denn auch: "Mitten im Leben sind wir mit dem Tod umfangen". Das war in früheren Zeiten durchaus wörtlich zu verstehen. Hohe Kinder- und Müttersterblichkeit, ständige Bedrohung durch Hunger, Krankheit, Seuchen und die vielen großen und kleinen Kriege. Der Tod war allgegenwärtig.

II. 

Auch heute ist der Tod für uns allgegenwärtig. Wenn wir die Zeitung aufschlagen, den Fernseher anschalten oder uns im Internet bewegen, dann erleben wir Tod und Sterben oft in aller Deutlichkeit, in schrecklichen Bildern. Grausame Verbrechen werden bis in die Einzelheiten dokumentiert, der Tod von Prominenten akribisch berichtet. Der Tod ist allgegenwärtig, doch es ist ein virtueller, ein abbildhafter Tod, der uns da täglich begegnet. Den tatsächlichen Tod hingegen, die wirkliche Agonie, das Leiden zwischen Leben und Tod – das haben wir weit an den Rand des Sichtbaren gedrängt. Unsere Gesellschaft hat, um mit Walter Benjamin zu sprechen, "den Leuten die Möglichkeit verschafft, sich dem Anblick von Sterbenden zu entziehen". In Deutschland sterben in jedem Jahr etwa 900.000 Menschen – mindestens zwei Drittel in Krankenhäusern und Pflegeheimen, nur wenige zu Hause im Kreise ihrer Nächsten. Wir haben die Begleitung Sterbender, den Umgang mit den Toten an professionelle Spezialisten delegiert, an Mediziner, Pfleger, Pfarrer und Beerdigungsunternehmer.

Diese Verdrängung des Todes geht einher mit Entwicklungen in der Medizin, die das menschliche Sterben tiefgreifend verändert haben. Über lange Zeit können Menschen im Koma am Leben gehalten werden. Wir alle haben die Diskussionen um die Amerikanerin Terri Schiavo verfolgt, die 15 Jahre im Wachkoma lag und im März dieses Jahres nach Einstellung der künstlichen Ernährung gestorben ist. Die Möglichkeiten der modernen Medizin, das Leben zu verlängern, bringen für viele Hoffnung, sie wecken aber auch Ängste. Ängste vor einer Hochleistungsmedizin, die – einmal in Gang gebracht – ein Sterben in Würde unmöglich macht. Unwürdig sterben zu müssen – so hat im Juni dieses Jahres die Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages "Ethik und Recht der modernen Medizin" festgestellt – ist zu einer der großen Ängste in unserer Gesellschaft geworden.

Wie groß diese Ängste sind, mag man daran ermessen, dass nach einer Umfrage des Allensbach-Instituts aus dem Jahre 2001 64 Prozent der Westdeutschen und sogar 80 Prozent der Ostdeutschen dem Standpunkt zustimmten: "Ein schwerkranker Patient im Krankenhaus soll das Recht haben, den Tod zu wählen und zu verlangen, dass der Arzt ihm eine todbringende Spritze setzt."

Ich muss gestehen: Mich hat das Ergebnis dieser Umfrage erschreckt. Soll wirklich aktive Sterbehilfe die Antwort sein, wenn Menschen befürchten müssen, am Ende ihres Lebens mit ihren Leiden allein gelassen zu werden oder anderen zur Last zu fallen? Ich bin der festen Überzeugung: Das darf die Antwort nicht sein. Ein Sterben in Würde zu sichern, ist eine Aufgabe für unsere ganze Gesellschaft. Wir müssen wieder lernen: Es gibt viele Möglichkeiten, sterbenskranken Menschen beizustehen, ihre Leiden zu lindern und sie zu trösten. Vor allem gilt: Wir dürfen sie nicht allein lassen. Nicht durch die Hand eines anderen sollen die Menschen sterben, sondern an der Hand eines anderen.

III.

Für diese Einsicht steht die Hospizbewegung. Seit fast 40 Jahren begehrt sie gegen die Verdrängung des Todes aus unserer Wahrnehmung auf. Sie trägt dazu bei, Sterben wieder als eine Phase des Lebens zu verstehen und anzunehmen, statt es als ein peinliches Missgeschick mit tödlichem Ausgang zu behandeln. Die Hospizbewegung lehrt uns einen anderen Umgang mit dem Sterben und dem Tod. Sie zeigt uns, dass es Wege gibt, um den Menschen ihre verständliche Angst vor dem Sterben zu nehmen.

Im vergangenen Juli ist die Gründerin der Hospizbewegung, die englische Ärztin, Krankenschwester und Sozialarbeiterin Cicely Saunders gestorben. 1967 eröffnete sie in einem Londoner Vorort das erste Hospiz, St. Christopher's Hospice. Der Name knüpfte an mittelalterliche Traditionen an. Hospize waren ursprünglich Pilgerherbergen, die Menschen auf dem Weg zu ihrem Pilgerziel Herberge, Rast und Stärkung anboten. Geborgenheit auf dem Pilgerweg zum Tod, Stärkung auf der letzten Wegstrecke des Lebens: Das ist die Idee der Hospizbewegung. Eine Idee, die sich von England aus in viele Länder verbreitete. So viele, dass heute die Mitglieder der Hospizbewegung in aller Welt den Welthospiztag feiern.

Auch in unserem Land gehört die Hospizbewegung mittlerweile zu den besonders Mut machenden Bürgerbewegungen. Waren es 1997 erst 11.000 Menschen, die in der Hospizarbeit tätig waren, so sind es heute viermal so viele, nämlich 45.000. Fast alle leisten diese Arbeit ehrenamtlich, die meisten von ihnen sind Frauen. Hier setzen sich Menschen für ihre Mitmenschen ein. Sie kümmern sich um ihre Nächsten – ein vorbildliches Beispiel für bürgerschaftliches Engagement, das den Zusammenhalt und die Menschlichkeit in unserer Gesellschaft stärkt. Dafür möchte ich Ihnen heute – stellvertretend für alle, die sich in der Hospizbewegung engagieren – meinen Dank und meine Anerkennung aussprechen. Wir können froh sein in Deutschland, dass wir Menschen wie Sie haben!

IV.

Das Sterben der alten Konsulin Buddenbrook war ein langer Kampf, den Thomas Mann bis zum letzten Zucken der Hände und Verröcheln der wassergefüllten Lungen mit unerbittlichem Realismus beschrieben hat. Die alte Dame fleht um ein schmerzstillendes Mittel, aber hartnäckig lehnen die Ärzte ab, weil sie das Leben der Konsulin nicht durch Linderung verkürzen wollen. Es galt unter allen Umständen, so schreibt Mann, dieses Leben den Angehörigen so lange wie nur irgend möglich zu erhalten.

Für die Ärzte in den Buddenbrooks galt der Tod als Niederlage, war es doch ihre vornehmste Pflicht, Leben zu erhalten. Dieser Wille zum Kampf um jedes Leben ist die Triebfeder der Medizin. Er entspringt dem Eid des Hippokrates. Dem Tod immer wieder ein wenig Terrain abzutrotzen, ihm den frühen Sieg zu nehmen, darum ging es früher und darum geht es heute. In diesem Kampf ist viel erreicht worden. Seit 1900 ist die Lebenserwartung in Deutschland um 30 Jahre gestiegen. Zahlreiche Krankheiten, die früher einem Todesurteil gleichkamen, sind besiegt. Wir alle sind dankbar für diesen Fortschritt und haben gern daran teil.

Es wächst aber auch die Sorge, dass dem Ziel, dem Tod – koste es, was es wolle – Zeit abzutrotzen, das Wohl des Patienten untergeordnet wird. Lebenserhaltung soll das Leben nicht zur Qual werden lassen. Deshalb ist es gut, dass die Medizin zunehmend das Sterben als Akt des Lebens begreift und sich um eine Verbesserung der Lebensqualität gerade in dieser letzten Phase bemüht. Wie ein "schützender Mantel" – im Lateinischen "Pallium" – legt sich die Palliativmedizin um einen Patienten und lindert seine Beschwerden, wenn Heilung nicht mehr möglich ist. Zu diesem schützenden Mantel gehört vor allem eine gute Schmerztherapie. Sie ist oft die wirksamste medizinische Hilfe für schwerstkranke Menschen, denn sie befreit sie von Schmerzen, die ihnen das Dasein zur Hölle machen.

V.

Die medizinische und pflegerische Versorgung sterbenskranker Menschen hat in Deutschland in den letzten Jahren deutliche Fortschritte gemacht. Seit 2003 ist Palliativmedizin als Prüfungsthema in der Approbationsordnung aufgeführt, an den Universitäten Bonn und Aachen wurden Lehrstühle für Palliativmedizin eingerichtet, weitere sind geplant. Während es 1993 bundesweit rund 30 Palliativstationen und stationäre Hospize gab, sind es heute schon über 200. Das ist eine ermutigende Entwicklung.

Doch sie muss weiter gehen. Denn von einer ausreichenden palliativmedizinischen Versorgung sind wir in Deutschland immer noch weit entfernt. Darauf hat die Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages "Ethik und Recht der modernen Medizin" hingewiesen. Sie hat auch deutlich gemacht, dass angesichts der demographischen Entwicklung der Bedarf an medizinischer und pflegerischer Betreuung schwerstkranker Menschen zunehmen wird. Wir tun gut daran, uns darauf einzustellen. Hospizarbeit und Palliativmedizin müssen in Deutschland in allen Bereichen weiter gestärkt werden – in der Aus- und Weiterbildung, bei der materiellen Ausstattung sowie in Forschung und Entwicklung.

Eines erscheint mir noch besonders wichtig. Anders als in anderen europäischen Staaten haben sich in Deutschland Hospizbewegung und Palliativmedizin weitgehend unabhängig voneinander entwickelt. Die Gründe hierfür kennen Sie besser als ich. Mich hat gefreut zu hören, dass dieses eher distanzierte Verhältnis sich in den letzten Jahren entspannt hat. Denn den Patienten ist am besten durch ein partnerschaftliches Miteinander von Hospizbewegung und Palliativmedizin gedient. Es müssen – wie der Titel Ihrer Fachtagung ganz richtig sagt – Netzwerke gebildet werden.

VI.

Wenn wir die Hospizarbeit stärken und die palliativmedizinische Versorgung verbessern, dann werden wir – dessen bin ich gewiss – die Ängste vieler Menschen vor dem Sterben abbauen können. Freilich treibt viele auch die Frage um: Was passiert mit mir, wenn ich auf Grund meiner Krankheit nicht mehr in der Lage bin zu sagen, was ich will? Wenn ich bewusstlos bin, künstlich beatmet und ernährt werde? Es bleibt die Angst, am Ende des Lebens gegen den eigenen Willen behandelt und am Leben erhalten zu werden.

Jeder Mensch hat das Recht, in jeder Phase seines Lebens selbst zu entscheiden, ob und welchen lebensverlängernden medizinischen Maßnahmen er sich unterzieht. Niemand darf gegen seinen Willen ärztlich behandelt werden. Solange ein Kranker noch selbst entscheiden kann, ob er in eine Behandlung einwilligt oder nicht, ist die Beachtung seines Willens selbstverständlich. Wie kann aber dieser Wille ermittelt werden, wenn sich der Patient nicht mehr äußern kann? Viele Menschen haben für diesen Fall eine Patientenverfügung verfasst. Darin legen sie fest, ob und welche Maßnahmen sie bei konkret beschriebenen Krankheitszuständen wünschen oder ablehnen. Sie wollen Gewissheit haben, dass ihr Wille auch beachtet wird.

Diese Gewissheit besteht jedoch heute noch nicht im erforderlichen Umfang. Das Gesetz erwähnt Patientenverfügungen bislang nicht ausdrücklich. Auch die Rechtsprechung hat viele Fragen offen gelassen. Ich finde es daher gut und richtig, wenn hier durch eine gesetzliche Regelung Klarheit geschaffen wird. Hierzu liegen verschiedene Vorschläge auf dem Tisch, die sich zum Teil deutlich voneinander unterscheiden. Angesichts des vielschichtigen und sensiblen Themas halte ich eine sorgfältige Abwägung dieser Vorschläge für besonders wichtig. Wir brauchen in diesem Bereich möglichst klare und eindeutige Regelungen, und die sollten auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens beruhen.

VII.

Eines sollte uns aber auch klar sein: Noch so gute Hospizarbeit, qualifizierte Palliativmedizin und rechtssichere Patientenverfügungen allein sind keine Garantie für ein würdevolles Sterben. Hierzu muss jeder von uns selbst seinen Beitrag leisten. "Herr lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden", heißt es im 90. Psalm. Manchmal glaube ich, wir sind noch nicht klug genug. In einer Karikatur steht der Tod in Gestalt des Sensenmannes wie ein Vertreter vor der Wohnungstür, durch deren Spalt ihn die Hausfrau mit den Worten abwimmelt: "Danke, wir sterben nicht!" Diese Karikatur bringt satirisch auf den Punkt, was schon Sigmund Freud feststellte: "Im Grunde glaubt niemand an den eigenen Tod."

Umso wichtiger ist es, den Tod ganz bewusst als natürlichen Teil des Lebens anzuerkennen und anzunehmen. Das bedeutet etwa, dass wir uns in Gedanken für uns selbst und in Gesprächen mit anderen mit dem Tod vertraut machen. Dass wir nicht ausweichen, wenn unsere Kinder über den Tod sprechen wollen. Dass wir für unsere Angehörigen, Freunde oder Nachbarn in ihren letzten Tagen da sind und uns nicht von ihnen zurückziehen. Und dass wir erkennen, dass wir dem Tod auch einen Teil des Sinns unseres Daseins verdanken. Denn wenn es diese Grenze nicht gäbe, könnte uns das Leben in der Tat gleichgültig sein. Es ist gerade der Tod als Grenze des Lebens, der das Leben kostbar macht und uns dazu mahnt, auf erfüllte Weise zu leben. Die Hospizbewegung hat sich diese Erkenntnis zu Eigen gemacht. Sie folgt einem Motto, das mich tief bewegt und das wir alle beherzigen sollten: "Sterben lernen heißt leben lernen."