Rede von Bundespräsident Dr. h. c. Joachim Gauck

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25 Jahre sind im Leben eines Menschen eine lange Zeit, in der Geschichte jedoch nur ein Hauch. Und dennoch sind die vergangenen 25 Jahre deutsch-polnischer Nachbarschaft von einer ganz besonderen, von einer historischen Bedeutung: Seit den polnischen Teilungen im 18. Jahrhundert kennen wir keine Zeit, in der Polen und Deutsche so lange friedlich und frei miteinander lebten. Vor allem diese Tatsache wollen wir heute feiern: Den Frieden und die Freundschaft zwischen souveränen Nachbarstaaten, zwei gleichberechtigten Mitgliedern der Europäischen Union und des Nordatlantischen Verteidigungsbündnisses.

Es gibt viele Väter und Mütter dieser wunderbaren Entwicklung. Die berühmte, damals umstrittene Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche, sie warb schon im Herbst 1965 für die Anerkennung der polnischen Westgrenze. Wenige Wochen später sprachen die polnischen Bischöfe in ihrem Hirtenbrief an die deutschen Amtsbrüder jenen mutigen Satz, der zu einem wichtigen Baustein der Aussöhnung wurde: „Wir vergeben und bitten um Vergebung“. Die Kirchen, das musste auch der deutsche Bundeskanzler Willy Brandt einräumen, sie waren den Politikern voraus. Doch mit seiner Ostpolitik folgte Willy Brandt dem Weg der Annäherung. Er setzte auf Dialog statt Konfrontation, auf Offenheit statt ideologische Abgrenzung – und er milderte polnische Ängste vor deutschen Gebietsansprüchen durch die faktische Anerkennung der polnischen Westgrenze.

Und nicht zu vergessen: Im Rückblick sehen wir deutlich, viele Polen haben stärker an das scheinbar Unmögliche geglaubt als ihre deutschen Nachbarn. Wir sind den oppositionellen polnischen Intellektuellen dankbar, dass sie an der Vision einer gemeinsamen europäischen Zukunft festhielten, als andere bereit waren, sich mit europäischen Teilungen abzufinden. Wir sind auch den polnischen Politikern und Bürgern dankbar, die sich 1989, in den entscheidenden Monaten des Umbruchs und Aufbruchs, der Wiedervereinigung Deutschlands nicht in den Weg stellten und damit die Überwindung des alten Ost-West-Gegensatzes ermöglichten.

Ich bin mir sicher: Die deutsch-polnische Annäherung im vergangenen Vierteljahrhundert wird als Zeitenwende in den Geschichtsbüchern vermerkt werden – eingeleitet von der Versöhnungsmesse in Kreisau, nur drei Tage nach dem Fall der Mauer, als der erste nichtkommunistische Premierminister Tadeusz Mazowiecki und Bundeskanzler Helmut Kohl einander umarmten. Mit dem Grenzvertrag vom November 1990 und dem Nachbarschaftsvertrag vom Juni 1991 wurden schließlich Grundlagen für die Annäherung geschaffen. Polen konnte sich nun seiner Grenzen und unserer Partnerschaft sicher sein.

Die eigentliche Arbeit der Annäherung begann allerdings erst, als die Hürden fielen, einander tatsächlich zu begegnen. Da stieß die Erinnerung an die Verbrechen der deutschen Besatzungsmacht nicht selten auf Groll von Vertriebenen, die unter dem Heimatverlust litten. Da kollidierte eine polnische Angst vor einer Bundesrepublik, die von der kommunistischen Propaganda als revanchistisch gemalt worden war, mit mangelnder deutscher Empathie gegenüber Polen, das nach Jahrzehnten kommunistischer Herrschaft als unmodern und rückständig galt.

Das deutsch-polnische Verhältnis, so empfand es 1990 noch Karl Dedecius, der großartige Übersetzer polnischer Literatur, sei „labil und bedroht“, weil es „historisch […] unerträglich vorbelastet“ sei. Es gebe nur eine Möglichkeit der Annäherung: „Näherrücken. Vorurteile durch Urteile ersetzen. [...] Die Argumente beider Seiten anhören und ernst nehmen.“

Und eben darum ging es in den vergangenen 25 Jahren immer wieder: Einander näher rücken. Einander zuhören. Einander ernst nehmen.

So haben sich Klischees langsam in Erkenntnisse und Entfremdung langsam in Annäherung verwandelt. Viele von Ihnen hier im Saal haben diesen Prozess der Entfeindung miterlebt und in der einen oder anderen Form mitgetragen. Dafür sage ich Ihnen allen an diesem Tag meinen tiefempfundenen Dank.

Sie alle wissen: Es gab große Erfolge in kurzer Zeit zu bestaunen. Die Wirtschaftsbeziehungen erlebten einen gewaltigen Aufschwung. Der kulturelle und wissenschaftliche Austausch wurde zur Selbstverständlichkeit. Die vom Deutsch-Polnischen Jugendwerk organisierten Begegnungen führten mittlerweile 2,7 Millionen Menschen zusammen. Viele Freundschaften wurden geknüpft, viele Ehen wurden geschlossen. In den Grenzregionen, bei der Bekämpfung der Kriminalität oder in der Sicherheitspolitik entstanden enge, grenzüberschreitende Kontakte. Deutschland wurde nicht nur zum entschiedenen Fürsprecher eines Beitritts der Polen zur Europäischen Union und zur NATO – heute ist auch Deutschland, die einstige Besatzungsmacht, im Bündnis mit anderen zusammen Garant der polnischen Sicherheit.

Mögen die Deutschen auch nach 25 Jahren immer noch weniger über Polen wissen als die Polen über Deutschland: Wir sind uns zweifellos näher gekommen – durch gemeinsame Interessen, gemeinsame Projekte, gemeinsame Ziele – als Partner in eben jener Werte- und Interessengemeinschaft, wie sie sich der erste Außenminister des freien Polen, Krzysztof Skubiszewski, wünschte und wie sie der unermüdliche Aussöhner Władysław Bartoszewski als Außenminister und als Bürger bis zu seinem Tod vor gut einem Jahr vorstellte und vorantrieb. Und schwierige Themen blieben dabei keineswegs außen vor.

Denn ja: Deutsche und Polen sind sich nicht nur näher gekommen durch Erfolge, sondern manchmal auch durch die Bewältigung von Konflikten. Wir erinnern uns alle an teilweise heftige und emotionale Debatten. Was zunächst so aussah, als könnte es uns voneinander entfremden, erwies sich auf den zweiten Blick als ein Weg zueinander: Weil unterschiedliche Erfahrungen, Haltungen und Meinungen offen ausgetragen wurden, lernten wir uns differenzierter kennen und lernten uns so besser verstehen. Weil die Bereitschaft bestand, auf das Argument des Anderen zu hören und sich in seine Erfahrungen einzufühlen, eröffnete sich die Möglichkeit zur Korrektur von Sichtweisen. Heute ist es für Polen beispielsweise selbstverständlich geworden, die einst verschmähte deutsche Kultur und Geschichte der ehemaligen deutschen Ostgebiete zu integrieren in polnische Geschichte und Gegenwart. Und Deutschen dient das Schicksal der Vertriebenen schon lange nicht mehr zur Relativierung deutscher Schuld, vielmehr ist die Leidenserfahrung der Deutschen erkennbar geworden und angenommen worden als Ergebnis deutscher Schuld.

Dialog, auch kontroverse Debatten, bleiben für mich unverzichtbar. Noch immer fällt es manchem im Westen Europas schwer, die Bedingungen ausreichend zu berücksichtigen, die die Gesellschaften Ostmitteleuropas nach Jahrzehnten kommunistischer Herrschaft prägen. Noch allzu oft wird angenommen, dass die Menschen in Ostmitteleuropa dieselben kulturellen Normen und Standards für richtig halten wie jene im Westen des Kontinents oder sie von dort wie selbstverständlich übernehmen. Doch so sehr die einzelnen Gesellschaften die Gemeinschaft der Europäer brauchen und suchen, so sehr brauchen Gesellschaften autonome Räume, um ihren je eigenen Weg im sich einigenden Europa zu finden – in Übereinstimmung mit nationalen Erfahrungen und Traditionen und zugleich mit den Prinzipien, auf die wir uns in Europa gemeinsam verständigt haben.

Wir leben in einer Zeit, in der bekannte Lösungspfade nicht mehr ungeteilte Zustimmung finden, und neue Vorstellungen und Ideen nicht allein unsere beiden Länder betreffen, sondern die Zukunft der ganzen Europäischen Union. Lassen Sie uns also den deutsch-polnischen Dialog gerade heute pflegen. Lassen Sie uns jene Grundsätze mit neuem Leben füllen, die unser gemeinsam beschlossenes Selbstverständnis prägen. Eine gemeinsame Verantwortung, wie sie auch im Nachbarschaftsvertrag betont wird, „für den Aufbau eines neuen, durch Menschenrecht, Demokratie und Rechtstaatlichkeit vereinten und freien Europas“.

Wir stehen heute wieder vor großen Herausforderungen, als Polen, als Deutsche, als Europäer. Und auch heute bleibt gültig, was Karl Dedecius einst empfahl: Einander näher rücken. Einander zuhören. Einander ernst nehmen.

Das bleibt der Weg in die Zukunft in unserer Interessen-, Debatten- und Verantwortungsgemeinschaft.