Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier

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Noch vor wenigen Wochen hätten wir uns nicht vorstellen können, in welch bedrückender, belastender Zeit unser heutiges Treffen stattfinden würde. Die Erschütterung, die der brutale, völkerrechtswidrige Krieg von Wladimir Putin gegen die Ukraine ausgelöst hat, wir alle spüren sie. Wir alle sind aufgewühlt von den Bildern des Leids und der Zerstörung, von der Grausamkeit und Brutalität der Angreifer, von der Verzweiflung der Menschen, die fliehen.

Vielleicht geht es Ihnen auch so: Diese Ereignisse haben bei mir das Bedürfnis nach Gesprächen, nach Begegnung noch größer werden lassen. Deshalb freue ich mich sehr, dass Sie alle heute hierhergekommen sind, Sie, Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, Kommunalpolitikerinnen und -politiker aus allen Teilen Deutschlands; unter Ihnen sind viele Mitglieder des „Netzwerks Junge Bürgermeister*innen“, und das freut mich ganz besonders. Und ich freue mich auch, dass Sie – soweit es uns die Pandemie erlaubt – Bürgerinnen und Bürger aus Ihren Kommunen mitgebracht haben, Menschen, die sich engagieren, die nicht lange fragen, was unser Land für sie tut, sondern die etwas tun für unser Land.

Seien Sie also alle ganz herzlich willkommen hier in Schloss Bellevue zu dieser Auftaktveranstaltung zu „Ortszeit Deutschland“!

Es ist eine Zeit einer tiefen Krisenerfahrung – einer dreifachen Krise. Bis vor wenigen Wochen war unser Leben geprägt von fast nur einem Thema: der Pandemie und ihren Folgen. Für Sie, die politisch Verantwortlichen in den Kommunen, gilt das sicher erst recht; wir werden gleich darüber sprechen. Aber über die Pandemie – und sie ist ja mitnichten überwunden, wie wir mit Blick auf die Inzidenzwerte feststellen – legt sich nun die Erfahrung einer dramatischen neuen Krise. Den Angriffskrieg einer großen Atommacht in Europa, diesen Krieg erleben wir alle als Zeitenwende, zumindest aber als eine tiefe Zäsur. Und als wäre das alles nicht genug, kommt dazu das Wissen, dass wir vor großen Umbrüchen und Veränderungen stehen, um die Folgen des Klimawandels einzudämmen und unseren Kindern und Enkeln einen lebenswerten Planeten zu hinterlassen.

Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen hat während der Pandemie einmal diagnostiziert, dass wir an einer „Überdosis Weltgeschehen“ leiden. Ich glaube, viele Menschen empfinden das Weltgeschehen gerade jetzt als tiefen Schock. Viele sind verunsichert, viele haben Angst, viele sind besorgt wegen der ökonomischen und sozialen Folgen, die dieser Krieg auch bei uns haben wird. Das erleben Sie sicher auch am Abendbrottisch in Ihren Familien, im Gespräch mit Freunden, in den Kommunen, in denen Sie Verantwortung tragen.

Und doch sind diese Tage und Wochen nicht nur geprägt von Angst und dem Gefühl der Hilflosigkeit. Wir erleben in diesen Tagen und Wochen auch, wozu wir als Gesellschaft im positiven Sinne fähig sind. In der Pandemie haben wir noch einmal ganz neu erfahren, wie sehr wir aufeinander angewiesen sind als Menschen, wie sehr wir einander brauchen, aber auch, wie sehr wir füreinander da sind – das ist für mich die wichtigste Lehre aus dieser Zeit. Jetzt erleben wir das noch einmal neu und auf andere Weise: Dem Kriegsherrn im Kreml gelingt es nicht, uns zu spalten. Im Gegenteil: Wir, die liberalen Demokratien des Westens, wir, die Europäer, stehen zusammen wie selten in den letzten Jahrzehnten. Wir erleben, dass Demokratien stark sein können. Und ich bin mir sicher: Unsere Demokratie ist stark!

Und warum ist sie stark? Weil uns die Freiheit der Bürger etwas wert ist. Weil wir eine Herrschaft auf Kommando ablehnen. Weil für uns Selbstbestimmung zählt, und das überall in unserer Gesellschaft, an jedem Ort in unserem Land. Unsere Demokratie ist stark, weil sie auch – und ganz besonders – getragen wird von Ihnen, den Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern, den Kommunalpolitikerinnen und -politikern, und von Ihnen, den Bürgerinnen und Bürgern. Deshalb ist es mir so wichtig, dass Sie heute hier sind, jetzt zu Beginn meiner zweiten Amtszeit.

Sie, die gewählten Verantwortlichen, Sie sind es, die die Probleme in unserem Land lösen und lösen müssen, ganz konkret, vor Ort, Tag für Tag. Sie sind es, die ansprechbar sind und ansprechbar sein müssen. Und Sie sind es, die unmittelbar mit den Folgen der großen Krisen konfrontiert sind: Sie müssen sich etwas einfallen lassen, wenn das örtliche Krankenhaus unter der großen Zahl schwerkranker Coronapatienten zu kollabieren droht, wenn wichtige Betriebe und damit Arbeitsplätze in Gefahr geraten. Oder wenn erneut Menschen in großer Zahl untergebracht und versorgt werden müssen, die zu uns fliehen, so wie in diesen Tagen.

Die Hilfsbereitschaft, die Solidarität in unserem Land für die Menschen in der Ukraine ist überwältigend. Und genauso überwältigend ist auch die Welle der Hilfsbereitschaft für die, die jetzt zu uns kommen.

Ich weiß, dass Sie in Ihren Kommunen auch jetzt wieder das Unmögliche möglich machen und geradezu Übermenschliches leisten. Ich weiß aber auch, dass Sie diese gewaltige Herausforderung nicht meistern können ohne die Unterstützung von Bund und Ländern. Eines ist sicher: Es werden noch gewaltige Aufgaben auf uns zukommen. Was wir erleben, ist wahrscheinlich die größte Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg. Mich beeindrucken Ihr Engagement, Ihre Hilfsbereitschaft, Ihre Menschlichkeit zutiefst. Ihnen allen, den Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern, Kommunalpolitikerinnen und -politikern, die heute hier sind, danke ich aus ganzem Herzen dafür – stellvertretend für alle anderen in unserem Land. Ebenso danke ich auch den Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen der großen Hilfsorganisationen, die nach Pandemie und Flut schon wieder tage- und nächtelang im Einsatz sind.

Und nicht zuletzt beeindruckt mich die unglaubliche Hilfsbereitschaft der ungezählten Freiwilligen. Sie helfen, spontan, ohne Verpflichtung, ohne Auftrag, als Mitmenschen, die Anteil nehmen. Es sind so viele, die spenden, so viele, die an Bahnhöfen verzweifelte, erschöpfte Mütter, Kinder, Großmütter in Empfang nehmen, Essen und Kleidung verteilen, erste Hilfe leisten, beraten und trösten. Ich konnte mir selbst gestern am Berliner Hauptbahnhof ein Bild davon machen, und es hat mich zutiefst bewegt, was die Berlinerinnen und Berliner dort tun, einfach weil sie das tiefe Bedürfnis haben, wenigstens etwas zu tun. Und überall im Land nehmen Menschen Geflüchtete bei sich zu Hause oder in leerstehenden Wohnungen auf. Ihnen allen, den Flüchtlingshelfern, die heute hier sind, und den ungezählten Freiwilligen in ganz Deutschland möchte ich ebenfalls aus tiefstem Herzen danken!

Und ja, lassen Sie mich das hinzufügen: Es ist eine Zeit, in der der Staat gefordert ist. Wir brauchen die Organisation und die Logistik, um die Geflüchteten im ganzen Bundesgebiet zu verteilen. Dieser Lastenausgleich ist ein Gebot der Stunde, damit freiwilliges Engagement nicht an seine Grenzen kommt, sondern diejenigen, die helfen wollen, das dauerhaft tun können. Wir wollen unter Beweis stellen, dass dies nicht nur eine kurzfristig aufflammende Willkommenskultur ist, sondern dass wir uns dauerhaft verantwortlich fühlen für diejenigen, die jetzt hier sind.

Wir spüren und erleben: In der Krise rücken wir zusammen. Wir spüren und erleben: Die Hilfsbereitschaft, die Solidarität, dieses gemeinschaftliche Handeln – bürgerschaftliches Handeln im besten Sinne – hält unser Land zusammen. Es macht unser Land stark. Ich glaube, aus dieser Erfahrung können wir alle auch etwas Mut schöpfen. Mut, den wir so dringend brauchen, um gemeinsam nach der Pandemie den Aufbruch anzupacken, Mut, um gemeinsam unsere Zukunft anzupacken!

Wir alle, Sie alle, liebe Gäste, haben in der Zeit der Pandemie erlebt, wie sich eine Gesellschaft unter Dauerstress verändert. Wir haben erlebt, dass das Maß der Gereiztheit Monat für Monat gestiegen ist. Wir haben erlebt, wie unversöhnlich die Meinungen aufeinanderprallen, wie tief manche Gräben in unserer Gesellschaft geworden sind. Aber: Wir wissen, dass die solidarische Mehrheit in unserem Land groß ist. Wir wissen, dass Hass und Gewalt von einer Minderheit geschürt werden. Wir alle wissen aber auch, und Sie haben es erlebt, wie erschreckend es ist, zur Zielscheibe zu werden – und das ist leider durchaus wörtlich zu nehmen. Viele von Ihnen, den Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern, aber auch Polizistinnen, Journalisten werden beschimpft, diffamiert, bedroht, sogar Ihre Häuser werden belagert und angegriffen. Als Bundespräsident sorgt mich das zutiefst. Jeder in unserem Land muss sich darüber im Klaren sein: Das ist inakzeptabel! Das dürfen wir nicht dulden!

Ja, Demokratie ist wahrlich nicht immer nur Konsens. Demokratie braucht Kontroverse. Sie braucht auch Zweifel und kritische Selbstbefragung. Sie lebt davon. Das Gespräch, der Austausch, die Fähigkeit, verschiedene Meinungen auszuhalten, das gehört zur Essenz der Demokratie. Das unterscheidet sie von autokratischen Regimen und erst recht von einer Diktatur. Aber die rote Linie verläuft da, wo Hass und Gewalt um sich greifen, und diese rote Linie müssen wir halten!

Lassen Sie mich deshalb noch ein Thema ansprechen, das mir Sorge bereitet. Wir sind aufgewühlt von dem grausamen, menschenverachtenden Krieg. Aber vergessen wir bitte eines nicht: Das ist der Krieg der politischen Führung in Moskau gegen ein Volk, das eben noch ein Brudervolk war. Es ist nicht der Krieg des russischen Volkes gegen das der Ukraine. Und schon gar nicht ist es der Krieg der vielen Menschen russischer Herkunft, die bei uns leben. Dass sie verunglimpft, bedroht oder gar tätlich angegriffen werden, auch das dürfen wir nicht zulassen! Auch da ist eine rote Linie! Die Verzweiflung, das Entsetzen, die Wut über Putins Krieg – sie dürfen nicht in Hass umschlagen! Sie dürfen sich nicht gegen Menschen richten, von denen viele diesen Krieg genauso ablehnen, wie wir es tun!

Mir als Bundespräsident ist es wichtig, dass wir als Gesellschaft wieder mehr miteinander ins Gespräch kommen: um uns wieder näher zu kommen und manche Wunden aus der Zeit der Pandemie zu heilen. Um uns auseinanderzusetzen über den Umbau unseres Landes und den besten Weg dorthin. Jetzt kommt auch noch der Krieg hinzu. Und deshalb möchte ich zu Beginn meiner zweiten Amtszeit unterwegs sein, um den Puls messen am Zustand unserer Gesellschaft.

Natürlich gibt es für jede Frage Umfragen. Aber ich will mir einen eigenen, einen tieferen Eindruck verschaffen: Wo steht unser Land nach zwei Jahren Pandemie und mitten im Ukrainekrieg? Wie groß ist die Erschöpfung? Wie viel Angst ist da? Was erwarten die Menschen von der Politik? Wo fühlen sie sich unverstanden? Wo gleichen sich die Antworten im Osten und Westen, im Norden und Süden unseres Landes? Wo unterscheiden sie sich?

Und die Fragen werde ich nicht vom Schreibtisch in Berlin stellen, sondern ich werde dorthin gehen und den Menschen dort begegnen, wo sie leben und arbeiten. Dorthin, wo immer noch die meisten Menschen wohnen: nicht in den Metropolen, sondern eher in den kleineren Städten und auch im ländlichen Raum. Ich will auf diese Weise – für mich – unser Land noch einmal neu vermessen.

Ich werde in Orte gehen, die sich neu erfunden haben, und in Orte, die Verluste erleben. Ich will in Orte gehen, in denen Menschen große Sorgen haben, und in solche, in denen sie sich nicht entmutigen lassen und für eine Idee kämpfen oder sie schon umgesetzt haben: für einen Begegnungstreff mit Laden, für ein Theaterprojekt in einer alten Fabrik, für den schonenden Umgang mit unseren Ressourcen, für einen Coworking Space mitten auf dem Land. Ich weiß, es gibt so viele Beispiele, dass solche Projekte gelingen, wenn sich ganz unterschiedliche Menschen zusammentun. Es ist dieses bürgerschaftliche Engagement, das unseren Zusammenhalt stärkt und etwas sehr Kostbares entstehen lässt: dass Menschen sich verwurzelt und zu Hause fühlen in ihrer Region – und das ist ganz und gar nicht rückwärtsgewandt, sondern weist in die Zukunft.

Für dieses Vermessen unseres Landes möchte ich mir etwas nehmen, das ein bisschen aus der Mode gekommen ist: Zeit – deshalb „Ortszeit“. Ich habe mir vorgenommen, an jedem dieser Orte mehrere Tage zu verbringen und meine Amtsgeschäfte von dort aus zu führen, von einem Hotel oder einem Gasthof aus. Ich werde dort manche Schreibtischarbeit erledigen und politische Gespräche führen. Aber das Wichtigste ist mir, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Ich möchte mir Zeit nehmen für Begegnungen, in der Kneipe und in einem Theater, in einem Unternehmen und mit Schülern, beim Pfarrer und mit Flüchtlingshelfern.

Wichtig ist mir dabei eines: Nähe und Vertrauen zu schaffen. Vertrauen in uns selbst und in unsere Demokratie – das brauchen wir, um die Umbrüche, vor denen wir stehen, nicht nur zu erleiden, sondern zu gestalten.

Das heißt nicht, Kontroversen zu vermeiden! Ich will auf diesen Reisen Menschen unterschiedlicher Meinung zusammenbringen, auch wieder an Kaffeetafeln. „Kaffeetafel kontrovers“ wird das Format heißen, das wir bei jeder „Ortszeit“ mitnehmen. Ich möchte reden über die Folgen der Pandemie und die Veränderungen, die der ökologische Umbau unserer Gesellschaft mit sich bringt. Ich möchte reden über Verlustängste und soziale Härten. Ich möchte werben für unsere Demokratie und für demokratische Politik – und ich möchte helfen, Brücken zu bauen zwischen den Bürgern und ihrer Demokratie, gerade da, wo Zweifel und Risse gewachsen sind.

Gleich heute Nachmittag soll es losgehen mit der „Ortszeit Deutschland“, und zwar mit der ersten Station in Altenburg in Thüringen. Ich freue mich sehr darauf, lieber André Neumann, und danke Ihnen, dass Sie mich als Bürgermeister begleiten. Und ich freue mich sehr auf die weiteren Stationen in ganz Deutschland!

Dieser Tag heute, dieser 18. März, ist nicht nur der Übergang zu meiner zweiten Amtszeit. Dieser 18. März ist ein ganz besonderer Tag, ein stolzes Datum, das auf gleich drei Ereignisse in drei verschiedenen Jahrhunderten verweist, ohne die unser schwieriger und wechselvoller Weg hin zu einer freiheitlichen Demokratie auch nicht denkbar ist. Der 18. März: Das war die Ausrufung der Mainzer Republik im Jahr 1793, das war die demokratische Revolution in Berlin 1848, und das waren die ersten freien Wahlen zur Volkskammer im Jahr 1990.

Ich glaube, dieser 18. März ist ein unterschätzter Tag in unserer Geschichte – und wenn ich das sage, geht es mir nicht um Geschichtsbetrachtung um ihrer selbst willen. Nein, die Erinnerung an unsere freiheitliche Tradition lehrt uns, wie wichtig es ist, für die Demokratie einzutreten – und dass wir sie immer wieder aufs Neue verteidigen müssen, nach innen und nach außen. Sie lehrt uns, dass unsere Demokratie nicht vom Himmel gefallen ist, dass sie eine lange Geschichte hat – und eine lange Zukunft, da bin ich sicher! Eine Zukunft, für die es vor allem zweierlei braucht: Vertrauen und Zusammenhalt – erst recht in einer Krisenzeit, wie wir sie jetzt erleben.

Vertrauen und Zusammenhalt, genau darum soll es gehen bei „Ortszeit Deutschland“: Es geht um Sie, die sich tagtäglich dafür einsetzen. Und deshalb haben Sie jetzt das Wort. Ich möchte Sie ganz herzlich bitten: Melden Sie sich zu Wort, beteiligen Sie sich, teilen Sie Ihre Erfahrungen, Ihre Nöte und Sorgen, Ihre Ideen, Ihre Wünsche und Hoffnungen mit uns! Lassen Sie uns ins Gespräch kommen miteinander!