Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier

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Rassismus in jeder Form ist Feind der Demokratie. Rassismus will keinen Dialog, keine Vielfalt, kein friedliches Miteinander. Er will Hass auf andere und Dominanz über andere. Wenn Rassismus sich zur Anwendung von Gewalt radikalisiert, wenn wie zuletzt bei George Floyd in Minneapolis Gewalt von Organen des Staates ausgeübt wird, deren eigentliche Aufgabe es ist, Bürgerrechte zu verteidigen und Menschenleben zu schützen, dann hinterlässt diese Tat Entsetzen und Wut, Trauer und Ratlosigkeit.

Doch wir wollen nicht wütend oder ratlos zurückbleiben, wir wollen Rassismus, Hass und Gewalt überwinden. Deshalb habe ich heute zu dieser Gesprächsrunde eingeladen. Mit mir diskutieren werden, ich darf Ihnen meine Gäste der Gesprächsrunde kurz vorstellen:

Gerald Asamoah, den ehemaligen Fußballnationalspieler, 2002 fast Weltmeister geworden, muss ich eigentlich gar nicht vorstellen. Was er heute tut, dagegen schon: Er ist Trainer der U23 bei Schalke 04, ist Pate des Netzwerks "Schule ohne Rassismus" und hat die Gerald Asamoah Stiftung für herzkranke Kinder gegründet.

Gloria Boateng ist Lehrerin, Bildungsaktivistin und Gründungsinitiatorin des Bildungsfördervereins SchlauFox e.V. Vor wenigen Monaten habe ich ihr dafür den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland verliehen.

Ich begrüße die Schülerin Vanessa Chabvunga, die ich bei meinem Besuch am Jüdischen Gymnasium in Berlin kennenlernen durfte und deren Geschichte, deren Mut mich beeindruckt hat.

Und Daniel Gyamerah. Er ist Bereichsleiter des Thinktanks "Citizens For Europe" zum Thema "Vielfalt entscheidet – Diversity in Leadership" und war auch schon im Rahmen dieser und anderer Tätigkeiten und Verantwortungen hier bei uns zu Gast.

Ihnen allen Danke fürs Kommen. Ein herzliches Willkommen hier in Bellevue!

Sie merken: Jedem und jeder der Gäste heute bin ich in meiner Vergangenheit begegnet, in Gesprächen über Migration, Integration oder den Zustand und die Bedrohungen unserer Demokratie. Rassismus ist eine solche Bedrohung. Rassismus ist ein Trauma – nicht nur für die betroffenen Menschen, sondern für die Idee der offenen Gesellschaft, für die Idee der Demokratie.

Wie also kommen wir – auch hier in Deutschland – voran im Kampf gegen den Rassismus?

Für mich beginnt das mit einer simplen Einsicht, die aber für jeden von uns von großer Tragweite ist: Neutralität ist keine Antwort auf Rassismus. "Ich bin doch kein Rassist" ist keine Antwort auf Rassismus und darf es nicht sein. Jedenfalls nicht für Demokratinnen und Demokraten!

"Injustice anywhere is a threat to justice everywhere", hat Martin Luther King aus dem Gefängnis geschrieben. Wo immer Ungerechtigkeit herrscht, ist alle Gerechtigkeit bedroht. Wo immer es Rassismus gibt, fügen wir heute hinzu, ist die Demokratie bedroht.

Solange es Rassismus gibt in unserer Gesellschaft, in unserem Umfeld, in unserer Nachbarschaft, vor allem aber in unseren eigenen Einstellungen, Vorurteilen, Denkmustern, können wir uns nicht teilnahmslos verhalten, sondern wir entscheiden uns – jeden Tag, bewusst oder unbewusst, in unserem Handeln wie in unserem Nichthandeln –, wo wir stehen, auf welcher Seite wir stehen.

Unsere Verfassung stellt nicht ohne Grund die unantastbare Würde eines jeden Menschen ganz an den Anfang – unabhängig von Herkunft oder Geschlecht, von Glauben oder Lebensanschauung. Dieses Bekenntnis in Artikel 1 und 3 des Grundgesetzes ist Grundlage und Ausgangspunkt und zugleich Ziel und Versprechen unserer demokratischen Ordnung.

Ob dieser Ausgangspunkt – von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes bewusst gegen die menschenverachtende und rassistische Ideologie des Nationalsozialismus gesetzt – heute noch zeitgemäß formuliert ist, darüber gibt es eine Debatte, die zunächst einmal legitim ist – auch wenn die überzeugende Auflösung erkennbar schwerfällt. Ich wünsche mir allerdings, dass diese Debatte uns vor allem dafür die Augen öffnet, dass das Ziel, das Versprechen von gleicher Würde, von Respekt, Recht und Freiheit, noch lange nicht für alle Menschen in Deutschland Realität ist!

Nein, Deutschland ist nicht immer und überall ein Hort der Toleranz. Auch hier werden Menschen ausgegrenzt, angegriffen und bedroht, weil ein beliebiges Merkmal sie als Angehörige einer Minderheit ausweist: weil sie eine dunkle Hautfarbe haben, eine Kippa tragen, in der Moschee beten oder einfach anders aussehen als die Mehrheit.

Als weißer Mann mit weißen Haaren muss ich solche Erfahrungen nicht machen. Umso wichtiger ist mir dieses Gespräch, um zuzuhören, zu lernen, zu diskutieren. Denn wir finden Rassismus in vielen Lebensbereichen. Vom abschätzigen Blick und der verletzenden Bemerkung über Benachteiligungen im Bildungssystem, bei der Bewerbung um einen Arbeitsplatz oder eine Wohnung bis hin zur tödlichen Bedrohung.

Vor genau 20 Jahren, am 14. Juni, starb Alberto Adriano aus Mosambik, ein Vater von drei kleinen Kindern, nachdem drei Neonazis ihn zu Tode geprügelt hatten. Sein Name ist nur einer von vielen, auch in Deutschland. Auch in Deutschland mordet Rassismus.

Wir kennen auch Fälle von Gewalt gegen Schwarze in deutschen Gefängnissen, von ungeklärten Todesfällen in der Haft.

Ich bin überzeugt: Die Polizei und Sicherheitskräfte in unserem Land sind vertrauenswürdige Vertreter des Staates. Ausnahmen von dieser Regel sind Ausnahmen geblieben. Polizei und Sicherheitskräfte verdienen unseren Respekt, sie verdienen unsere Unterstützung. Auch deshalb ist es richtig, dass die Bundesregierung eine Studie in Auftrag gibt, um genauer hinzusehen, was wir verbessern können und müssen.

Denn so besorgt wir in die Vereinigten Staaten schauen: Wir können nicht den Tod von George Floyd beklagen und Rassismus im eigenen Land verschweigen. "Your silence will not protect you", schrieb die amerikanische Aktivistin und Autorin Audre Lorde. Dein Schweigen wird dich nicht schützen.

Nein, es reicht nicht aus, "kein Rassist" zu sein. Wir müssen Antirassisten sein! Rassismus erfordert Gegenposition, Gegenrede, Handeln, Kritik und – was immer am schwierigsten ist – Selbstkritik, Selbstüberprüfung. Antirassismus muss gelernt, geübt, vor allen Dingen aber gelebt werden.

Und ganz in diesem Sinne freue ich mich auf das Gespräch. Danke Ihnen vieren nochmals für Ihr Kommen.