Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel

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Sehr geehrte Frau Bundesministerin,
sehr geehrte Soldatinnen und Soldaten,
Rekrutinnen und Rekruten,
sehr geehrte Eltern, Angehörige und Freunde,
sehr geehrte Vertreter des Kabinetts und des Bundesrats,
Exzellenzen,
werte Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten,
meine Damen und Herren,

es gibt Momente, in denen Ungehorsam eine Pflicht sein kann – Momente, in denen man nur dann Anstand und Menschlichkeit wahrt, wenn man sich gegen einen Befehl, gegen den Druck von Vorgesetzten oder auch den Druck der Masse auflehnt und gegenhält. Es gibt Momente, in denen der Einzelne die moralische Pflicht hat, zu widersprechen und sich zu widersetzen. Das erkennt auch unsere Verfassung an. In Artikel 20 unseres Grundgesetzes ist das Recht zum Widerstand festgeschrieben, und zwar "gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen (…), wenn andere Abhilfe nicht möglich ist".

Auf solches Recht konnten sich die Widerstandskämpfer um Claus Schenk Graf von Stauffenberg vor 75 Jahren nicht berufen. Doch sie wagten trotzdem den Versuch, das nationalsozialistische Unrechtsregime zu stürzen – in vollem Bewusstsein möglicher persönlicher Konsequenzen. Als sie sich dafür entschieden, ging es ihnen darum, den Zweiten Weltkrieg möglichst schnell zu beenden. Unnötiges Leiden und Sterben sollte verhindert werden. Es ging ihnen aber auch um die Wiederherstellung des Ansehens Deutschlands in der Welt, indem sie selbst gegen die menschenverachtende Diktatur im Lande ankämpften.

Wir wissen, das Attentat auf Hitler scheiterte. Der Umsturzversuch misslang. Die Frauen und Männer des Widerstands riskierten ihr Leben – und die meisten von ihnen verloren es. Hunderte wurden nach dem 20. Juli 1944 hingerichtet. Ihre Familien wurden in Sippenhaft genommen, schikaniert und in den Ruin getrieben. Die Frauen und Männer des Widerstands handelten aus tiefer moralischer Überzeugung. Ihrem Gewissen folgend erwiesen sie sich als wahre Patrioten.

Und dennoch tat sich Deutschland lange schwer mit dem Gedenken daran. Bis heute gibt es noch Missverständnisse und Unbehagen – auch weil die zentrale Person und Symbolfigur des deutschen Widerstands, Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Offizier der Wehrmacht war. Gedenken und Kritik sind aber kein Widerspruch. Die kritische Auseinandersetzung mit unserer nationalen Vergangenheit bedingt vielmehr jede Beschäftigung mit der Vergangenheit und gehört deshalb auch zur Traditionspflege in der Bundeswehr. Der Traditionserlass besagt ganz deutlich, dass die Wehrmacht kein Vorbild sein kann – Angehörige der Wehrmacht, die Widerstand geleistet haben, jedoch schon.

Seit 20 Jahren legen Rekruten in Berlin am 20. Juli ihr Gelöbnis ab. Sie tun dies, eben weil Widerstandskämpfer Vorbilder waren und sind. Ihre klare Haltung, ihr Mut, ihr Verantwortungsbewusstsein, ihre Handlungsbereitschaft können und sollten uns auch heute leiten.

Das Erinnern an die Widerstandskämpferinnen und -kämpfer ist auch deshalb so wichtig, weil immer weniger Zeitzeugen unter uns leben, die ihre Erfahrungen mit uns teilen können. Wir müssen das Gedenken pflegen und die Erinnerung weitertragen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Lehren aus der Geschichte nicht verblassen. Das ist Teil unserer Verantwortung – einer Verantwortung für die Bewahrung und Verteidigung von Frieden und Freiheit, von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Dieser zeitlosen Verantwortung gerecht zu werden – darin sehe ich für uns Auftrag und Vermächtnis der Frauen und Männer des 20. Juli 1944, ebenso des Kreisauer Kreises oder der Weißen Rose und anderer Mitglieder und Gruppierungen des Widerstands.

Gewiss, Verantwortung für Freiheit wahrzunehmen, sieht heute anders aus als im Widerstand gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft. Auch Sie, liebe Rekrutinnen und Rekruten, werden diese Verantwortung in Ihren Bereichen in besonderer Weise verkörpern. Heute sind deutsche Soldatinnen und Soldaten weltweit im Einsatz, um Freiheit zu verteidigen, um in krisengeschüttelten oder gefährdeten Regionen auf mehr Stabilität, auf Demokratie, auf die Bewahrung von Menschenrechten hinzuwirken. In unserer eng vernetzten Welt dienen sie damit einem guten internationalen Zusammenleben – und somit auch einem Leben in Frieden und Freiheit in Deutschland.

Die Bundeswehr leistet Friedensarbeit – und das stets gemeinsam mit unseren Verbündeten, niemals allein. Auch das ist eine Lehre aus unserer Geschichte. Die Bundeswehr ist eingebettet in eine multilaterale Ordnung, die dem Frieden und den Menschenrechten verpflichtet ist. Deutsche Soldatinnen und Soldaten nehmen an UN- und EU-geführten Einsätzen teil, wie etwa in Mali – von der hohen Einsatzbereitschaft dort konnte ich mich in diesem Jahr auch wieder persönlich überzeugen –, am Horn von Afrika oder vor dem Libanon. Sie sind auf dem Balkan stationiert. Sie arbeiten im Auftrag der Nato in Afghanistan und in Litauen. Selbst außerhalb der Einsätze arbeiten unsere Streitkräfte eng zusammen – zum Beispiel in der Deutsch-Französischen Brigade. Dies haben wir am letzten Sonntag eindrucksvoll in Paris gesehen.

Die Landes- und Bündnisverteidigung hat wieder an Bedeutung gewonnen. Das zeigt etwa unser Einsatz in Litauen. Dort habe ich mir im September ein Bild von der Lage vor Ort gemacht. Sehr beeindruckend waren auch die Demonstrationen in Munster bei der Nato-Speerspitze unter deutscher Führung im Mai. Ich bin der festen Überzeugung: Wir müssen stets unter Beweis stellen, dass wir bereit und fähig sind, unsere Streitkräfte zum Einsatz zu bringen und uns zu verteidigen. So sichern wir uns nicht zuletzt auch Möglichkeiten zu Verhandlungen und politischen Lösungen.

Aber so wenig selbstverständlich ein Leben in Frieden ist, so wenig selbstverständlich ist auch die Bereitschaft von Soldatinnen und Soldaten, sich in eben diesen Dienst für uns alle zu stellen. Ob in Deutschland oder im Ausland – Ihr Dienst in den Streitkräften wird immer wieder mit persönlichen Härten und Entbehrungen verbunden sein. Sie haben sich für eine fordernde Aufgabe entschieden, die auch für Ihre Familien oft eine Belastung bedeutet – nicht nur, wenn Sie in den Einsatz gehen, sondern etwa auch, wenn wieder einmal ein berufsbedingter Wohnsitzwechsel ansteht. Das wird nicht immer einfach sein. Das verlangt Einsatz- und Verantwortungsbereitschaft. Ja, der soldatische Dienst ist aus vielen Gründen ein besonderer, ein anspruchsvoller Beruf. Den Frauen und Männern, die ihn ergreifen, zolle ich Hochachtung und Respekt.

Aber wohlmeinende Worte allein reichen natürlich nicht. Unsere Soldatinnen und Soldaten müssen die zur Erfüllung ihrer Aufgabe notwendige Unterstützung, Ausrüstung und Ausbildung erhalten. Deshalb haben wir bereits unsere Verteidigungsausgaben gesteigert und werden dies noch weiter tun. Das schulden wir unseren Soldatinnen und Soldaten. Das schulden wir auch unseren Partnern in den Vereinten Nationen, der Nato und der Europäischen Union. Und das muss uns der Einsatz für Frieden und Sicherheit auch wert sein.

Die Entschlossenheit der Widerstandskämpfer, gegen das nationalsozialistische Terrorregime vorzugehen, und das Opfer, das sie gebracht haben, sind und bleiben uns eine Mahnung. Sie mahnen uns, wachsam zu sein. Sie mahnen uns, Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus in all ihren Erscheinungsformen entschieden entgegenzutreten. Auch das ist – im besten Sinn des Wortes – Dienst für unser Land.

Liebe Rekrutinnen und Rekruten, wenn Sie gleich Ihre feierliche Verpflichtung als Soldatin oder Soldat sprechen, dann tun Sie dies im Bewusstsein, wem Sie dienen: Sie dienen der Bundesrepublik Deutschland mit ihren Menschen, ihrer Freiheit und ihrer Würde. Sie dienen der Demokratie als unserer Staatsordnung. Sie dienen dem Recht eines jeden Einzelnen von uns. Sie stehen hier für ein menschliches Deutschland.

Der Deutsche Bundestag, die Bundesregierung und die deutsche Bevölkerung stehen hinter Ihnen. Wir stehen hinter unserer Parlamentsarmee – der Bundeswehr. Deutschland ist dankbar für Ihr Verantwortungsbewusstsein und Ihre Bereitschaft, unserem Land, "der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen".

Ich wünsche Ihnen – auch im Namen der gesamten Bundesregierung – alles Gute, vor allem Gesundheit und Gottes Segen.

Herzlichen Dank.