Rede des letzten Ministerpräsidenten der DDR, Lothar de Maizière,

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Sehr geehrter Herr Präsident Jacques Chirac,
Exzellenzen, verehrte Gäste,

zu Beginn hörten wir die Ouvertüre zur Oper "Der Freischütz", die hier in Dresden von Carl Maria von Weber komponiert wurde. Uraufgeführt wurde sie aber im Juni 1821 in Berlin im Schinkelschen Schauspielhaus am Gendarmenmarkt. In dem Hause, in dem ich am 2. Oktober 1990 die Aufgabe hatte, einen Staat – die DDR – aus der Geschichte zu verabschieden und zugleich seine Bürger, die diesen Staat zwar mehrheitlich nicht oder nur wenig geliebt, die sich aber dennoch in ihm eingerichtet hatten, ins geeinte Deutschland zu entlassen.

Mit dem 2. Oktober endete eine der dichtesten Phasen deutscher Geschichte. Sie begann mit der Herbstrevolution 1989 und führte über die Arbeit an den runden Tischen zu den ersten freien Wahlen zur Volkskammer. Zwei deutsch-deutsche Staatsverträge und der "Zwei-plus-Vier-Vertrag" schufen in nur sechs Monaten die Voraussetzungen für die deutsche Einheit. Viele Menschen, viele Namen müssten hier dankbar erwähnt werden. Lassen Sie mich, stellvertretend für alle, die Bürger der Stadt Leipzig nennen, die am 9. Oktober 1989 mit ihren Kerzen die Mächtigen das Fürchten lehrten.

Mit dem 3. Oktober begann dann in den ostdeutschen Bundesländern ein Transformationsprozess, der die Menschen unendlich forderte. Quasi über Nacht mussten sie sich auf ein neues politisches und ökonomisches System, eine neue Rechtsordnung, ein neues Bildungssystem, eine neue Werteordnung einstellen. Das war für viele auch ein schmerzlicher Prozess, der sich neue Wörter schuf. Ich nenne Warteschleife, Freisetzen, Evaluieren und Abwickeln. Von zehn Erwerbstätigen ist heute nur noch einer im gleichen Beruf und am gleichen Arbeitsplatz tätig wie 1989. Das ist eine große zivilisatorische Leistung und eine Prüfung, die von den meisten Menschen bestanden wurde. Zugleich vollzog und vollzieht sich noch ein beispielloser wirtschaftlicher Wiederaufbau. Aus einem wirtschaftlich, ökologisch und moralisch verschlissenen Industriestandort entwickelt sich ein moderner Hightech- und Dienstleistungsstandort. Deshalb, ohne die bestehenden Probleme im geringsten negieren zu wollen, stelle ich fest: Der Weg, die Richtung, sie stimmen. Hier in Dresden wird die Frauenkirche wieder errichtet. Das ist nicht nur eine denkmalpflegerische und städtebauliche Herausforderung, sondern auch ein Akt von Zukunftsbejahung, Optimismus und entschiedener Traditionalität. Überall im Land gibt es ähnliche Aktivitäten. Trotzdem gibt es immer noch eine Distanziertheit, ja manchmal lähmende Diskussion über den 3. Oktober selbst und über die 10 Jahre Deutsche Einheit.

Doch die Volkskammer – und nur sie konnte den Beschluss gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes fassen - hat nichts anderes vollzogen als die Erfüllung des Auftrages, den das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 mit den Worten formuliert hat: "Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden". Der schnelle Weg zur deutschen Einheit war – und wir sehen dies täglich deutlicher – ohne jede Alternative, und kaum jemand will ernsthaft hinter sein Ergebnis zurück. Aber der Weg zur Freiheit bleibt Aufgabe.

Über vier Jahrzehnte hinweg haben sich die Menschen in der Bundesrepublik als den Teil des Volkes gesehen, der in Freiheit lebte. Aber ist das wirkliche Freiheit, wenn ein Teil des eigenen Volkes in Unfreiheit lebt, wenn Familien und Freunde getrennt sind? Zu viele hatten sich auch im Westen mit der Teilung abgefunden. Das hindert sie nun manchmal daran, das Geschenk der Einheit in Freiheit zu würdigen. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass viele unter Freiheit nur das Maß an persönlichen Vorteilen verstehen, die sie dem Gemeinwesen abverlangen können. Aber der Wettlauf um das private Wohl stiftet keinen tragfähigen Gemeinsinn.

Die Krise, die letztlich zum Untergang der DDR geführt hat, begann mit dem demonstrationsstörenden Zitat von Rosa Luxemburg: „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden”. Was aber für die Menschen untereinander gilt, gilt natürlich auch für die Völker. Es ist deshalb mein Wunsch, dass das wiedervereinigte Deutschland genauso entschieden für die Freiheit anderer Völker eintritt wie für die eigene Freiheit. Es gibt nämlich keine Freiheit ohne den gemeinsamen Glauben und das gemeinsame Eintreten für das, was uns miteinander und mit unseren Nachbarn verbindet. Dass wir im Osten Deutschlands mit den Polen, den Tschechen, den Ungarn und anderen das Schicksal der vier Jahrzehnte Kommunismus gemeinsam haben, das ist auch eine Chance. Und deshalb ist es wichtig, dass wir nun auch gemeinsam nach Europa gehen und damit die Unteilbarkeit dieses Kontinents unterstreichen.

Nachdem die Freiheit von der Diktatur errungen wurde, stellt sich die Frage, wofür wir unsere Freiheit gebrauchen wollen, um so dringlicher. Das Grundgesetz beantwortet diese Frage im Artikel eins mit dem Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Menschenwürde. Besorgt müssen wir uns nach den Ereignissen von Dessau und Düsseldorf fragen, ob wir dieses Bekenntnis, das zugleich auch Mahnung ist, immer ernst genug genommen haben. Der Wert unserer Bekenntnisse lässt sich nämlich nur an der Ernsthaftigkeit und an der Größe der Opfer ermessen, die wir bereit sind, für sie zu erbringen.

Deshalb sollten die großen erfolgreichen Einrichtungen der Sozialversicherungen, der Rentenversicherungen, aber auch des Solidarpaktes im Kern nicht in Frage gestellt werden. Denn sie lassen für alle sichtbar werden, dass es Wohlstand dauerhaft nur in einer auch generationsübergreifenden Verantwortungsgemeinschaft geben kann. Wohlstand ist nämlich nicht das, was sich der Einzelne vor anderen sichert, woran dann sein Ansehen gemessen werden soll, sondern Wohlstand ist zunächst ein Teil verwirklichter Gerechtigkeit.

Mit großer Dankbarkeit stelle ich fest, dass die enormen materiellen Lasten der Vereinigung von den Westdeutschen getragen wurden und werden. Wir wurden nicht im Stich gelassen, aber innerdeutsche Solidarität ist auch keine Einbahnstraße. Die Lasten der deutschen Teilung wurden vom Osten Deutschlands getragen, der auch die enormen emotionalen Herausforderungen des Einigungsprozesses zu bewältigen hatte. Darum sollten wir die deutsche Einheit als gemeinsames Werk betrachten, an dessen Gelingen uns alle kommenden Generationen und wir selbst uns auch messen werden. Das setzt selbstverständlich voraus, dass die ostdeutschen Länder selbstbewusst nach ihrer eigenen Identität suchen und diese auch kraftvoll gestalten und nicht in einer Haltung verharren, deren Hauptwort immer nur "Angleichung" heißt.

Hier von Dresden aus ist im Dezember 1989 von dem Platz vor der nun wiedererstehenden Frauenkirche durch den Beifall der Dresdner zur Rede von Helmut Kohl das entscheidende Signal für einen radikalen Wechsel in den politischen Zielen gegeben worden. Aus dem Ruf: "Wir sind das Volk!" wurde der Ruf: "Wir sind ein Volk!" Hier von Dresden aus soll nun das Zeichen ausgehen, dass innere Einheit immer nur dann zustande kommt, wenn das Gemeinwohl allen Verpflichtung ist und bleibt. Natürlich muss es den politischen Wettstreit um die Lösung konkreter Fragen geben. Die innere Einheit aber ist nicht ein Thema für die eine oder andere Partei, sondern sie ist das gemeinsame nationale Thema auch noch für das vor uns liegende Jahrzehnt.

Wir sind also noch lange nicht am Ende, und wenn es stimmt, was Christa Wolf in dem wohl wichtigsten Buch über die deutsche Teilung schon 1963 geschrieben hat, nämlich, dass sich der Himmel immer zuerst teilt, dann werden wir nun auch mit der Tatsache geduldig leben müssen, dass dieser Himmel es auch ist, der sich erst als Letztes wieder schließt.