auf der Herbsttagung des Bundeskriminalamtes am 19. November 2014 in Mainz:
- Bulletin 132-2
- 20. November 2014
Sehr geehrter Herr Ziercke,
sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,
sehr geehrte Damen und Herren,
dies ist eine besondere Herbsttagung. Denn wir verabschieden heute mit Ihnen, Herrn Ziercke, einen Präsidenten, der das Bundeskriminalamt (BKA) in ganz besonderer Weise geprägt hat. Und wir führen mit Herrn Münch Ihren Nachfolger in sein Amt ein. Doch dazu später mehr. Ich möchte Ihren Abschied, Herr Ziercke, zum Anlass nehmen, einmal einen Blick auf die letzten zehn Jahre zu werfen. Zuerst einmal richtet sich mein Blick aber noch etwas weiter zurück, in das Jahr 1974, vor 40 Jahren, in dem es zum ersten Mal eine BKA-Herbsttagung zum Thema „Organisierte Kriminalität“ gab.
Der damalige Innenminister Professor Dr. Maihofer eröffnete die Tagung mit folgender Feststellung. – Ich zitiere:
„Jede Gesellschaft hat ihre Verbrechen. Aber auch jede Zeit hat ihre Verbrechen. Organisierte Kriminalität ist im industriellen Zeitalter nicht mehr Verbrechenshandwerk, sondern Verbrechensindustrie.“
Und heute? Ist Organisierte Kriminalität heute im Zeitalter der Digitalisierung „Verbrechen 4.0?“
Schauen wir auf die Zahlen:
Erstens. Auf den ersten Blick hat sich in den letzten zehn Jahren im Bereich Organisierte Kriminalität nicht viel verändert: Das Lagebild der Organisierten Kriminalität (OK) von 2004 weist 624 Ermittlungsverfahren auf. Heute – also im OK-Lagebild 2013 – haben wir 580 OK-Ermittlungsverfahren, das ist sogar ein leichter Rückgang. Doch wie aussagekräftig sind diese Zahlen? Sie wissen es besser als ich. Die Organisierte Kriminalität ist ein typisches Kontrolldelikt. Oder anders gesagt: Sie sehen durch ein gleich bleibendes Schlüsselloch einen gleich bleibend großen Ausschnitt, aber eben nicht das Dunkelfeld drum herum.
Gleiches gilt für den Schaden. Einzelne Verfahren können jedoch heute zu riesigen Schadenssummen führen. Ein Beispiel für dieses neuartige SchadenspotenziaI ist ein Verfahren, das im Zusammenhang mit Emissionshandel wegen des Verdachts der Geldwäsche (Vortat: bandenmäßiger Umsatzsteuerbetrug im Zusammenhang mit dem Handel von CO2-Zertifikaten) geführt wird. Hier geht es um eine Schadenssumme von rund 1,4 Milliarden Euro und ein gesichertes Vermögen von insgesamt 550 Millionen Euro.
Zweitens. Wenn wir die Entwicklung der Organisierten Kriminalität in den letzten zehn Jahren beobachten, so zeigt sich jedoch ein deutlicher Wandel beim Betätigungsfeld. Heute sind nicht unbedingt die traditionellen Bereiche – Drogen- und Waffenhandel – die lukrativsten. Medikamentenfälschung, Umweltkriminalität, Wirtschaftskriminalität und Massendelikte per Internet können mehr Gewinne abwerfen – bei deutlich niedrigerem Risiko für die Täter.
Drittens. Ein weiterer neuer Trend ist die rasant voranschreitende Globalisierung der Organisierten Kriminalität. Wir sehen das deutlich am OK-Lagebild 2013: Die Tatbegehung erfolgt vorrangig international – mit über 78 Prozent und Bezügen in 128 Staaten. Das Internet wirkt dabei wie ein Brandbeschleuniger: Es hebt die klassische Eingrenzbarkeit von kriminalgeografischen Räumen auf, ermöglicht es Tätern weltweit, von jedem beliebigen Ort aus, massive Schäden anzurichten und kriminelle Gewinne am Ort ihrer Wahl zu erzielen.
Die Organisierte Kriminalität ist also – bei aller Kontinuität – heute globaler, flexibler und digitaler.
Wie gehen wir mit diesen Veränderungen um?
Mein Vorgänger Professor Dr. Maihofer – sicher keiner, der die Freiheitsrechte des Grundgesetzes missachtete – hatte eine ziemlich klare Vorstellung von dem richtigen Umgang mit der Organisierten Kriminalität. – Ich zitiere:
„Die Polizei hat gegenüber solcher Kriminalität nur dann eine reale Chance, wenn sie diesen kriminellen Organisationen mit einem Reaktionsapparat entgegentritt, der ihr zumindest Waffengleichheit sichert.“
Auch heute höre ich diese Forderung nach der Waffengleichheit sehr oft. Was heißt aber Waffengleichheit? Ist der Ausdruck „Waffe“ hier eigentlich richtig? Geht es nicht vielmehr um rechtsstaatlich saubere und effektive Ermittlungsinstrumente? Heißt „Waffengleichheit“ nicht genau genommen: „Was die können, müssen wir auch können?“ Gegenfrage: Verfügen wir auch nur ansatzweise über die finanziellen Mittel, um unsere Behörden so aufzurüsten? Oder noch einmal etwas grundsätzlicher gefragt: Wie sinnvoll wäre ein solches Wettrüsten?
Gilt im Bereich der Verbrechensbekämpfung – und hier speziell die Bekämpfung der Organisierten Kriminalität – wirklich der Grundsatz: Viel hilft viel? Hier war übrigens der damalige BKA-Präsident Dr. Herold schon vor 40 Jahren deutlich skeptischer als sein Dienstherr.
Ich zitiere aus demselben Tagungsband von 1974:
„Je mehr die Polizei ihre Abwehr- und Verfolgungsstrategien gegenüber der Kriminalität intensiviert, technisch und intellektuell verfeinert, je mehr sie die elektronische Datenverarbeitung in ihren Dienst stellt und die kriminalistischen Arbeitsweisen verwissenschaftlicht, desto mehr trägt sie tendenziell zur Intellektualisierung und Technisierung des Verbrechens bei.“
Stimmt das? Ich glaube eher nicht. Umgekehrt kann doch klug eingesetztes wissenschaftliches Profiling der Technisierung des Verbrechens Paroli bieten.
Eine viel grundsätzlichere Frage ist wohl auch: Entspricht es unserem Selbstverständnis als Rechtsstaat, dass wir alles, was Kriminelle können, auch können müssen? Sicher nicht. Aber Anderes, Klügeres, Treffsichereres, Wirksameres – das müssen wir schon können und dürfen.
Das sind keine leichten Fragen. Was aber verstehen wir nun heute unter Organisierter Kriminalität?
Gerade am Beispiel Wohnungseinbruchsdiebstahl zeigt sich, dass unser traditionelles Verständnis von Organisierter Kriminalität angesichts der realen Entwicklung an seine Grenzen stößt. Wir reden intensiv darüber, auch das sogenannte Vorfeld der Organisierten Kriminalität stärker in den Blick zu nehmen; oder besser gesagt: Wir reden nicht nur darüber. Wir tun es bereits. Das ist gut und richtig. Aber aus meiner Sicht stellt sich hier eine viel grundsätzlichere Frage. Und das ist die Frage, ob unsere Begrifflichkeiten heute noch zeitgemäß sind. Den Begriff „Organisierte Kriminalität“ gibt es seit knapp 100 Jahren. Erstmals taucht der amerikanische Begriff „organized crime“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts in New York auf. Grund für die neue Begrifflichkeit war die Überzeugung, aufgrund ihrer besonderen Gefährlichkeit sei dringend eine spezielle Gesetzgebung für die Organisierte Kriminalität notwendig.
Wie ist es heute? Wo ziehen wir die Grenze zwischen Organisierter Kriminalität (OK), Schwerer Kriminalität und Bandenkriminalität? Wird diese Grenze in den Ländern einheitlich gezogen? Und ist diese Grenzziehung auch richtig? Eine Legaldefinition gibt es nicht. Einen einheitlichen OK-Begriff haben wir auch auf europäischer Ebene nicht. Und doch wird in der polizeilichen Arbeit eine sehr scharfe Trennung zwischen den Phänomenen vollzogen. Ist diese künstliche Trennung wirklich sinnvoll oder noch sinnvoll?
Könnte es sein, dass sich das, was vor 100 Jahren zur Verbesserung der gezielten Verbrechensbekämpfung gedacht war, heute eher als Hemmschuh erweist? Werden wir möglicherweise Opfer unserer eigenen Begrifflichkeiten? Oder anders gefragt: Müssen wir im Kampf gegen einen höchst flexiblen Gegner wie die Organisierte Kriminalität nicht selbst flexibler werden? Diesen Fragen möchte ich mich heute gerne etwas intensiver widmen. Im Kern geht es hier um wesentlich mehr als nur um Definitionen und Begrifflichkeiten. Denn wie wir Kriminalitätsformen benennen und in unsere traditionellen Schemata einstufen, das entscheidet heute maßgeblich über Zuständigkeiten, beziehungsweise über Art und Weise der Strafverfolgung oder Aufklärung durch Länder, Bund, BKA, BPol, BfV bis hin zum BND.
Ein Beispiel für die fließenden Grenzen zwischen Organisierter Kriminalität und Massendelikten ist der Callcenter-Betrug. Dem Bundeskriminalamt wurden bei einer Auswertung dazu mindestens 40 Ermittlungsverfahren bekannt: Die mehr als eine Million Geschädigten und ein Schaden von mehr als 117 Millionen Euro zeigen die Bedeutung solcher „Massenkriminalität“. Hinter einem Verfahren können sich damit bis zu 100.000 Straftaten verbergen. Diese Frage nach der Abgrenzbarkeit einzelner Phänomene stellt sich nicht nur im Bereich der OK-Bekämpfung. Wir beobachten heute in vielen Bereichen das Verwischen alt hergebrachter Begriffe und Strukturen. Ich denke hier an das Versagen unseres Staates bei der Aufklärung der NSU-Morde. Ein Grund für dieses Versagen war sicherlich auch, dass die ermittelnden Behörden in Bund und Ländern sich zu stark in starren Rastern von bisher gemachten Erfahrungen, Definitionen und Zuständigkeiten bewegt haben. Der NSU-Untersuchungsausschuss hat deshalb in seiner vierten Empfehlung eine Überarbeitung der Begrifflichkeiten empfohlen. Im Frühjahr dieses Jahres hat die IMK dementsprechend die Überprüfung des Themenfeldkataloges und des Definitionssystems für die Politisch Motivierte Kriminalität beschlossen. An diesem Prozess beteiligen sich Experten aus Wissenschaft und Gesellschaft. Ein erster Bericht wird im Sommer 2015 erwartet. Und wir werden sehen und müssen uns schnell darüber klar werden, welchem Feld wir das Thema Hooligans zuordnen sollten. Dasselbe gilt auch für den rechtlichen Rahmen, in dem unsere Sicherheitsbehörden ermitteln. Auch hier decken sich die Begrifflichkeiten nach meinem Empfinden in manchen Bereichen nicht mehr mit unserer Lebenswirklichkeit.
Ich nenne zwei Beispiele:
Erstens. Nehmen wir mal an, ich formuliere auf meinem Smartphone eine E-Mail, während ich unterwegs bin. Dann komme ich nach Hause und bearbeite diese E-Mail an meinem Computer, bevor ich sie dann abschicke. Wie ordnen wir diesen Sachverhalt den Schutzbereichen des Grundgesetzes (GG) zu? Unsere informationstechnischen Systeme haben sich massiv geändert. Was übertragen wird und damit Kommunikation ist und was auf einem Gerät liegt, entscheidet letztlich der Programmierer. Das Netz wird damit zum System.
Die Folge: Die bisherige Zuordnung zu den Schutzbereichen des GG – Artikel zehn oder Recht auf Integrität informationstechnischer Systeme – passen nicht mehr wirklich. Dokumente zum Beispiel an denen ich arbeite, werden zu Kommunikationsdaten, wenn mein System sie in der Cloud speichert, obwohl ich sie als Nutzer nicht bewusst übermittele. Unser Rechtssystem setzt bislang am Zustand der Daten an, nicht an der Qualität. Doch das System entscheidet zunehmend über den Zustand, nicht der User. Zum Tragen kommt dies auch beim Thema Kryptierung. Bei einer vom Richter angeordneten Wohnungsdurchsuchung dürfen wir selbstverständlich verschlossene Türen öffnen, auch mit Hilfe Dritter. Mitunter wurden schon ganze Fundamente ausgebaggert, um nach Beweisen zu suchen. Bei verschlüsselten Systemen sollen wir hinnehmen, dass die Tür verschlossen ist und bleibt, nur weil es heimlich erfolgt.
Zweitens. In wie vielen Fällen scheitert eine Strafverfolgung daran, dass eine Organisationsstruktur im bisher sehr deutsch formulierten Sinne des Paragrafen 129 StGB nicht nachgewiesen werden kann? Sie alle wissen das besser als ich. Unsere rechtlichen Vorstellungen orientieren sich hier noch – ich sage es mal etwas überspitzt – an dem Leitbild der Mafiabanden des 20. Jahrhunderts. Die Realität wird jedoch zunehmend eine andere: Wir haben es heute oft mit Netzwerkstrukturen zu tun, die lose und flexibel agieren und jederzeit in der Lage sind, in neuen Konstellationen tätig zu werden. Beim Terror, bei Hooligans, bei Rockern, beim Einbruch oder im Netz. Wir müssen neu denken und möglicherweise auch noch einmal grundsätzlich über die Folgen zu starrer Begrifflichkeiten auch in der Polizeiarbeit nachdenken. Aber das ist nicht alles.
Eng mit den Begrifflichkeiten verbunden ist auch die Frage nach der Form unserer Zusammenarbeit. Wir haben einen langen Weg der Spezialisierung und auch der Zersplitterung von Zuständigkeiten hinter uns. Ein Beispiel: Wenn Sie sich ein Organigramm meines Hauses zu Beginn der Amtszeit von Herrn Ziercke anschauen, dann gab es eine Abteilung IS – keine Unterabteilung. Heute gibt es eine Abteilung ÖS und drei Unterabteilungen – eine davon IT – habe ich gerade erst selbst geschaffen und Ähnliches gilt auch für das Bundeskriminalamt selbst. Das hat gute Gründe, die Sie alle kennen.
Und dennoch befreit uns das nicht von der Pflicht, zu prüfen, ob solche getrennten Strukturen bei der Zusammenarbeit heute noch zielführend und erfolgsfähig sind. Im Bereich der Terrorismusbekämpfung haben wir unsere Form der Zusammenarbeit nach dem 11.September 2001 grundlegend geändert.
Vor zehn Jahren wurde unter Otto Schily das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) eingerichtet, um dort Fähigkeiten, Erkenntnisse und Know-how behördenübergreifend zusammenzubringen. Mit großem Erfolg. Mit der Schaffung des Gemeinsamen Abwehrzentrums gegen Rechtsextremismus/Rechtsterrorismus in Köln vor zwei Jahren sind wir einen ähnlichen Weg gegangen. Und genauso beim Cyber-Abwehrzentrum.
Ist ein ähnlicher Weg denkbar für die Bekämpfung einer begrifflich weit gefassten Organisierten Kriminalität? Denkbar ist natürlich alles. Wie Sie alle wissen, arbeitet das Bundeskriminalamt bereits auf meinen Auftrag hin an einer neuen Konzeption der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität und ich möchte diesen Arbeiten in keiner Weise vorgreifen, erwarte hier aber bald Ergebnisse. Es ist interessant, dass wir nicht die Einzigen sind, die über Änderungen bei ihrer OK-Bekämpfung nachdenken: Das Vereinigte Königreich hat sich im Bereich Organisierter Kriminalität ganz neu aufgestellt und die National Crime Agency (NCA) gegründet, um Verbrechensbekämpfung aus einer Hand zu gewährleisten. Die Verwundbarkeit und Anfälligkeit für Organisierte Kriminalität soll dort mit Hilfe von vier „P“s reduziert werden.
Die vier „P“s, das sind: pursue, prevent, protect, prepare. Also etwas frei übersetzt: Strafverfolgung, Prävention, Schutz und Vorsorge – ein umfassender, ja ein ganzheitlicher Ansatz. Anders als bei uns umfasst die NCA auch Finanzermittlungen in der Londoner City, einen neuen Grenzschutz und Fragen des Steuer- und Sozialbetrugs. Da ist vieles nicht vergleichbar oder übertragbar. Und anders als bei uns – das muss ich hier jetzt auch ganz kristallklar sagen – gibt es in Großbritannien natürlich eine zentrale Kompetenz, die es so für den Bund im Bereich der Organisierten Kriminalität (OK) nicht gibt. Im Gegenteil: Bis heute haben wir im Bereich OK kein Evokationsrecht des Generalbundesanwalts. Bereits 2009 hatte ich darauf hingewiesen: Es gibt keinen zentralen Ansprechpartner für OK auf staatsanwaltschaftlicher Seite. Das erschwert noch immer die internationale Zusammenarbeit. Ich rege an zu prüfen, eine Ermittlungszuständigkeit des Generalbundesanwaltes für transnationale OK-Delikte zu schaffen. So könnten wir große Ermittlungsverfahren effizienter koordinieren. Ausländische Justizbehörden erhielten so einen zentralen Ansprechpartner auf Seiten der deutschen Staatsanwaltschaft.
Besonders spannend ist für mich der neue präventive Ansatz, mit dem Großbritannien – ähnlich wie beim Kampf gegen den Terror – verhindern möchte, dass Personen in Organisierte Kriminalität involviert werden beziehungsweise bleiben. Dabei werden auch die Wege in die Organisierte Kriminalität untersucht.
Was können wir daraus lernen?
Interessant ist aus meiner Sicht auch die Beschäftigung der National Crime Agency mit den Überschneidungen zwischen Organisierter Kriminalität und Terrorismus. Auch das müssen wir sicher näher beleuchten, analysieren und auswerten.
Klar ist jedenfalls: Auch wir müssen neue Wege gehen – gerade auch im Kampf gegen den Einbruchsdiebstahl. Und mit „neuen Wegen“ meine ich jetzt nicht nur die Frage, ob wir möglicherweise noch ein Gemeinsames Abwehrzentrum für die Organisierte Kriminalität brauchen. Informationsmanagement, Vernetzung und Flexibilisierung scheinen mir jedenfalls die entscheidenden Schlüssel zum Erfolg zu sein. Denkbar wäre möglicherweise – alternativ zur Schaffung eines neuen Zentrums – eine Konzeption zur Schaffung flexiblerer Instrumente, wie zum Beispiel die Einrichtung projektbezogener Einheiten. Dies wäre wohl auch angesichts der Zunahme hochkomplexer Sachverhalte bei großen Wirtschaftsverfahren, Straftaten wie Umsatzsteuerkarusselle, Subventions- oder Anlagebetrug ein Schritt in die richtige Richtung.
Flexibilität auch bei der Mitarbeit von Partnern und mehr Handlungsfreiheit in der operativen Arbeit ist jedoch nur möglich, wenn es auch in unserer Bevölkerung einen Rückhalt dafür gibt. Oder anders gesagt: Wenn es in unserer Gesellschaft ein großes Maß an Vertrauen in die Arbeit der Sicherheitsbehörden gibt. Und damit komme ich zu meinem letzten Gedanken.
Das Vertrauen unserer Bürger in unsere Sicherheitsbehörden als Repräsentanten unseres Rechtsstaates scheint seit einiger Zeit gestört zu sein. Die Vorgänge um NSU und NSA haben diesen Befund noch verstärkt. Auch wenn sich in Umfragen zeigt, dass dieses Vertrauen grundsätzlich immer noch recht hoch ist und das zu Recht. Es kann uns nicht gleichgültig sein, wenn unsere Sicherheitsbehörden von einem großen Teil unserer Bevölkerung nicht mehr als die Freiheit schützender Teil unseres Rechtsstaates wahrgenommen werden.
Beim Bundeskongress der Gewerkschaft der Polizei in der letzten Woche sprach Professor di Fabio über die Erosion des Gewaltmonopols des Staates. Seine These: Die Polizei ist eine unverzichtbare Stütze unseres demokratischen Rechtsstaates. Es sei deswegen äußerst beunruhigend, wenn der Bürger in dem Polizisten, der ihm gegenübertritt, nicht mehr den Vertreter des Rechtsstaates sieht. Ich füge hinzu: Gleiches gilt für alle Sicherheitsbehörden – mit oder ohne Uniform.
Aber ich möchte erst mal bei den Polizisten bleiben – auch wieder mit oder ohne Uniform.
Ich möchte in diesem Zusammenhang mal ein paar Fragen stellen:
Werden Sie als Polizisten heute im Einsatz noch als Respektspersonen wahrgenommen?
Gibt es regionale Unterschiede – zum Beispiel zwischen Bayern und Berlin?
Tragen sie ihre Uniform gerne in der Öffentlichkeit – in jedem Stadtviertel?
Polizisten ohne Uniform: Erzählen Sie gerne Dritten wo Sie arbeiten?
Erleben Sie bei Hausdurchsuchungen Offenheit?
Würden Sie Ihren eigenen Kindern empfehlen, Polizist zu werden?
Ich weiß nicht, wer von Ihnen jetzt fünfmal im Geiste mit Ja geantwortet hat.
Hinzu kommt die Gewalt: Wir alle erinnern uns an die schrecklichen Bilder von Hamburg und Köln. Die Zahlen sind erschreckend: Im Jahr 2013 sind rund 59.000 Polizisten Opfer von versuchten oder vollendeten Straftaten geworden, rund 3.400 Opfer von vollendeten oder versuchten gefährlichen und schweren Körperverletzungen. Kann es sein, dass Polizisten in Uniform nicht mehr Respekt, sondern Aggressivität hervorrufen? Ich sage: Nein, das darf nicht sein.
Polizisten seien heute „Gladiatoren des Rechtsstaates“, so hat es mal ein Journalist formuliert. Polizisten seien – ich zitiere – „das Freiwild einer aggressiven Spaßgesellschaft“, so legt es eine Veröffentlichung der Hochschule der Polizei Hamburg nahe. Auch wenn beide Überschriften plakativ und übertrieben sind: Die Rolle des Polizisten in unserer Gesellschaft scheint heute zumindest nicht mehr so eindeutig definiert zu sein. Auf der einen Seite stehen die positive Fremdwahrnehmung und das große Vertrauen, dass die überragende große Mehrheit der Bevölkerung Polizisten nach wie vor entgegenbringt. Nach dem Global Trust Report 2013 der Gesellschaft für Konsum, Markt- und Absatzforschung genießt die Polizei das höchste Vertrauen in Deutschland. Sie erreicht 81 Prozent und führt damit das Ranking klar an.
Auf der anderen Seite stehen eine oft eher bescheidene Berufszufriedenheit und eine teilweise erschreckend ungehemmte Gewalt, mit der Polizisten konfrontiert werden, zwar von Wenigen, aber dafür immer ungehemmter. Polizisten treffen in Ihrem Alltag auf Menschen in Ausnahmesituationen, deren Reaktionen nur schwer einschätzbar sind. Sie geraten in Situationen, die fernab der Lebenswirklichkeit des Alltags der meisten Bürger unseres Landes sind. Sie müssen innerhalb von Sekunden die Entscheidung treffen, ob Sie Waffengewalt anwenden. Sie bewegen sich alltäglich in Grenzsituationen. Sie müssen Grenzen aufzeigen und Grenzen durchsetzen. Sie handeln in schwierigen Situationen als Vertreter unseres Staates. Bei einer Demonstration genauso wie bei einer Abschiebung, einer verdeckten Ermittlung oder einer Hausdurchsuchung: Sie müssen die von der demokratischen Mehrheit getroffenen Entscheidungen durchsetzen, egal wie Sie selbst dazu stehen. Auch für die Art und Weise, wie Sie Ihren Beruf ausüben, hat es Konsequenzen, dass Sie als Vertreter des Staates handeln: Von Ihnen wird mehr erwartet als von anderen. Sie müssen mutiger sein als andere. Sie dürfen nicht wegschauen, wenn andere wegschauen. Sie müssen skeptischer und misstrauischer sein als andere, ohne in Sorge oder Misstrauen zu versinken. An Ihr Handeln werden strenge Maßstäbe angelegt. Sie dürfen sich nicht provozieren lassen. Sie dürfen nicht überreagieren, müssen immer besonnen und defensiv agieren. Über all Ihre Handlungen müssen Sie später Rechenschaft ablegen können – notfalls auch vor Gericht.
Wir verlangen viel. Polizisten mit und ohne Uniform – so habe ich es bei der Gewerkschaft der Polizei gesagt und so sage ich es heute beim Bundeskriminalamt – können dann aber zumindest Respekt und Anerkennung verlangen für ihre Arbeit, die sie nicht aus Eigennutz tun. Gleiches gilt für unsere anderen Sicherheitsbehörden.
Von ihnen erwarten wir, dass sie Tag und Nacht für unsere Sicherheit sorgen, Anschläge verhindern, die Aus- und Einreise von Terroristen verhindern, Kriminalität – gleich welcher Art – bekämpfen. Gleichzeitig herrscht aber manchmal ein seltsames Desinteresse daran oder eine falsche Vorstellung davon, wie denn diese Sicherheit gewährleistet wird.
Kein Polizist kommt morgens ins Büro und freut sich darauf, viel vom Privatleben eines Betroffenen zu erfahren, wenn er dessen Telefon abhört. Kein Mitarbeiter des Bundeskriminalamtes ist scharf darauf, die Grundrechte anderer Leute einzuschränken. Das glauben aber anscheinend viele. Eine echte Auseinandersetzung mit der Arbeit der Sicherheitsbehörden scheitert nach meiner Erfahrung zu oft an falschen Vorstellungen oder einer Skandalisierung, die dann eine ernsthafte Auseinandersetzung im Keim erstickt – Vorratsdatenspeicherung.
Vielleicht tragen wir alle aber eine Mitverantwortung daran?
Vielleicht haben wir zu wenig in der Öffentlichkeit über das Berufsbild des Polizisten geredet? Und wenn wir in die Öffentlichkeit gegangen sind: Welches Bild haben wir hier vermittelt? Vielleicht haben wir zu oft vom Polizisten nur als „Freund und Helfer“ geredet? Oder von „Die Kriminalpolizei rät“ anstatt „Die Kriminalpolizei handelt“? Wie ernsthaft haben wir alle versucht, Befugnisse der Sicherheitsbehörden und deren Notwendigkeit zu erklären? Auch dann, wenn es um die harten Dinge des Lebens geht? Und hier komme ich wieder zum Thema Organisierte Kriminalität zurück: Wenn wir heute über „Waffengleichheit mit dem Verbrechen“ – oder unseren Umgang mit einem Verbrechen 4.0 – diskutieren, so wird das in dieser Begrifflichkeit wenig Erfolg haben.
Eine der wesentlichsten Eigenschaften der Organisierten Kriminalität ist die Missachtung des staatlichen Gewaltmonopols. Respekt und Vertrauen der Bürger in das Funktionieren des Rechtsstaates und des staatlichen Gewaltmonopols sind hingegen die beste Prävention gegen Organisierte Kriminalität. Wir müssen uns das Vertrauen der Bürger in manchen Bereichen vielleicht neu erwerben.
Wir müssen uns aber mutig und selbstbewusst für das einsetzen, was wir fachlich für richtig und notwendig halten. Wenn es Ablehnung gegenüber manchen Mitteln der Polizeiarbeit gibt, so müssen wir darauf inhaltlich begründet reagieren.
Herr Ziercke, Sie haben in der letzten Woche am Beispiel der Vorratsdatenspeicherung auf dieses Problem hingewiesen. In dieser Debatte sind Sachargumente in den Hintergrund gerückt. Es gibt nur schwarz oder weiß, alte Argumentationsmuster. So einfach ist unsere Welt aber nicht. Es wird heute so viel, zu viel, an Inhalten über uns gespeichert, aus reinem Geschäftsinteresse. Da will der Staat gar nicht ran. Die Verbindungsdaten sind viel weniger. Aber da ist die Aufregung unverhältnismäßig groß. Obwohl es um die Dauer der Speicherung bei dem Privaten geht, der diese Daten ohnehin hat. Und eine nachträgliche Abfrage der Sicherheitsbehörden im Einzelfall bei schweren Verbrechen.
Ich sage es mal so: Wenn es in unserer Bevölkerung einen Konsens gäbe, dass wir in manchen Kriminalitätsbereichen eine Nicht-Aufklärungsquote von 70 Prozent hinzunehmen bereit sind, dann wäre ich auch bereit, die Vorratsdatenspeicherung zu beerdigen. Diesen Konsens gibt es aber nicht.
Im Gegenteil: Beim Thema Sicherheit ist die Erwartungshaltung unserer Bürger ziemlich klar: Sie wollen frei und sicher leben können. Zu Recht. Wir sollten uns deshalb offen und selbstbewusst dieser Diskussion über Mittel und Befugnisse unserer Sicherheitsbehörden stellen. Und dies ist nicht nur Job des Bundeskriminalamtes.
Herr Ziercke, Sie hatten einmal in einem Interview gesagt: „Es wird immer so dargestellt, als fordere nur das Bundeskriminalamt die Vorratsdatenspeicherung.“
Sie haben Recht. Diese Diskussionen zu führen, das ist eine gemeinsame, eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wir müssen gemeinsam diskutieren: nüchtern, präzise und ohne Vokabular, das die Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden persönlich diskreditiert.
Vieles ist anders geworden seit der BKA-Herbsttagung vor 40 Jahren, auch seit Ihrem Amtsantritt, Herr Ziercke, vor zehn Jahren. Vieles aber ist auch gleich geblieben, nämlich dass wir die Bürger schützen wollen, damit sie in Freiheit leben können. Die Maßnahmen verändern sich. Das Ziel bleibt. Und das Bundeskriminalamt ist dabei das Herzstück, ein Anker und Maßstab für Qualität. Auch dabei muss und wird es bleiben.