Rede des Bundesministers des Auswärtigen, Sigmar Gabriel,

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Sehr geehrte Damen und Herren,

in der Tat habe ich keine Gegenrede vorbereitet gegen das, was Jean-Claude Juncker und Günther Oettinger gesagt haben. Sie werden schnell sehen, dass ich mit fast allem übereinstimme.

Vielleicht ist es ganz gut, wenn ich versuche, zumindest am Anfang der Rede nicht sofort zu den Finanzen zu kommen, sondern, lieber Günther Oettinger, einen Beitrag dazu zu leisten, wie wir die Menschen – zumindest in meinem Land – überzeugen. Was sind die Argumente, die wir aufrufen können, um Unterstützung zu bekommen? Und auch wenn wir hier in Brüssel sind und sich manches für die hier Anwesenden so selbstverständlich anhört, ist es in der Tat auch notwendig, sich zu erinnern, worüber wir hier eigentlich verhandeln.

Vieles hat sich in den letzten Jahren und vor allem in den letzten zwölf Monaten dramatisch verändert in der Welt. Viel zu oft nicht zum Guten – wenig Sicherheit und wenig Verlässliches scheinen geblieben zu sein. Und auch hier bei uns in Europa ist vieles in Bewegung geraten, und manches als sicher Geglaubtes hat sich als sehr zerbrechlich oder bereits zerbrochen erwiesen. Noch aber ist die Europäische Union trotz großer Herausforderungen und Probleme weltweit ein einzigartiger Raum von Demokratie, Frieden, Freiheit und Stabilität.

Weltweit einzigartig: Nirgendwo auf der Welt findet sich ein vergleichbar erfolgreiches Projekt in der Zusammenarbeit von Völkern und Staaten. Wo wir innerhalb der Europäischen Union selbst gelegentlich zweifeln, sind sich viele Millionen Menschen außerhalb der EU absolut gewiss. Für sie ist Europa das, was im Wechsel vom 18. zum 19. und später zum 20. Jahrhundert mal die Vereinigten Staaten von Amerika waren: ein Ort der Freiheit. Freiheit nicht nur von Unterdrückung und Verfolgung, sondern vor allem auch Freiheit zur Gestaltung des eigenen Lebens. Ein Ort, an dem die eigenen Kinder einst besser leben sollten als die Eltern in ihrer Heimat. Europa ist für viele Menschen auf der Welt zu einem Sehnsuchtsort der Freiheit geworden.

Das bringt auch viele Probleme für uns Europäer mit sich, denn massenhafte Migration von Menschen auf der Flucht vor Krieg und Bürgerkrieg oder einfach nur auf der Suche nach einem besseren Leben ist für uns nur schwer zu bewältigen. Manchmal scheint es unsere Union sogar zu zerreißen.

Und trotzdem ist es knapp 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges doch immer noch etwas Wunderbares. Europa war damals ein furchterregender Ort. Und wir Deutschen waren der Grund für diese Furcht. Dass heute aus einem furchtbaren Ort ein Sehnsuchtsort geworden ist, ist der Kern dieser unglaublichen Geschichte der Europäischen Einigung.

Diese Geschichte begann mit dem Mut von Frauen und Männern, nur wenige Jahre nach den Verwüstungen des Zweiten Weltkrieges ausgerechnet uns Deutsche wieder an den Tisch der zivilisierten Völker in Europa einzuladen, um dieses Europa zu bauen. Ausgerechnet die Nation, die doch gerade erst mit Krieg und Völkermord durch genau diese Länder gezogen war, die uns jetzt ihre ausgestreckte Hand reichten. Diese Frauen und Männer in Frankreich, Belgien, Luxemburg, den Niederlanden oder Italien müssen sehr mutig gewesen sein, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass es bei den eigenen Bevölkerungen sehr populär war, ausgerechnet uns, die Deutschen, an diesen europäischen Tisch einzuladen.

Aber die Gründerinnen und Gründer der Europäischen Union wussten, dass es buchstäblich um das Leben ging. Denn die Rückkehr des Nationalismus, wie es der spätere französische Präsident François Mitterrand einmal sagte, hätte eben wieder Krieg bedeutet. Am Beginn der Europäischen Union ging es also buchstäblich um das Leben.

Warum sage ich das? Mein Gott, was sind wir doch für eine glückliche Gemeinschaft, dass es uns heute nur noch ums Geld geht und nicht mehr ums Leben! Das ist gar nicht ironisch gemeint. Ich glaube, dass man diese Geschichte vom Erfolg der EU an den Anfang stellen muss, um zu wissen, dass wir jedenfalls über überschaubare Probleme sprechen, wenn wir über die Frage der mittelfristigen Finanzplanung sprechen.

Ich sage das am Anfang ganz bewusst, weil man auch heute Mut zu Europa braucht; bei weitem nicht so viel wie damals, aber etwas schon. Denn es ist oftmals leichter, über die Technokraten und Bürokraten in Europa zu schimpfen – die es tatsächlich zuhauf gibt, wie in unseren Nationalstaaten übrigens auch. Noch leichter ist es, sich zu Hause als der Hüter des eigenen Geldes aufzuspielen, das man besser daheim als in Brüssel ausgeben solle.

Bei allen Diskussionen um Strukturen, Finanzen und administrative Probleme ist es diese unglaubliche Erfolgsgeschichte, einen furchterregenden Ort in einen Sehnsuchtsort verwandelt zu haben, die wir zuallererst über Europa erzählen müssen. Schaffen wir es, die Einmaligkeit dieser europäischen Erfolgsgeschichte auf der Welt wieder im Bewusstsein unserer Bevölkerung zu verankern, dann werden sie auch unsere manchmal schier endlosen Beratungen über die Architektur und Finanzierung unserer Europäischen Union besser verstehen und hoffentlich auch unterstützen.

In einer Zeit der elementaren Umbrüche sollten viele in der Welt – und vor allem auch wir – ein elementares Interesse an einem starken Europa haben. Wir sind manchmal fast schon die letzten, aber zumindest gehören wir zu den wenigen, die Werte und Interessen kraftvoll nach außen vertreten, die wir in der Vergangenheit westliche Werte genannt haben. Das ist ja kein geographischer Begriff, sondern die Idee universeller Werte, Schutz der Freiheit und der Demokratie für die Bürgerinnen und Bürger, auf der Idee von Solidarität begründet, füreinander einzustehen, Verantwortung zu übernehmen.

Seien wir realistisch: Die Europäische Union von heute ist dazu nur eingeschränkt imstande. Ihr innerer Zusammenhalt hat in den letzten Jahren angesichts finanzieller, wirtschaftlicher und politischer Krisen gelitten. Deshalb müssen wir in den nächsten Jahren die innere Spaltung Europas überwinden und die Europäische Union als starken globalen Akteur neu begründen.

Das ist gar nicht so einfach für uns. Denn wir sind in Europa ja nach Innen gegründet worden – nach innen Frieden schaffen, nach innen Wohlstand schaffen. Die EU ist nicht als globaler Akteur gegründet worden. Gerade wir Deutschen haben das im Wesentlichen den Briten und den Franzosen und – wenn es eng wurde – den Amerikanern überlassen. Und wenn es schiefging, dann hatten wir immer jemanden, mit dem wir in Streit gehen konnten.

Das wird in Zukunft nicht mehr funktionieren, wir werden selber in der Welt die Interessen der Europäerinnen und Europäer gemeinsam vertreten müssen. Diese Aufgabe sollten wir mit dem Anspruch angehen, ein neues Kapitel der Europapolitik aufzuschlagen. Und gerade wir Deutschen haben guten Grund, das zu tun und es mit Mut zur Gestaltung und Bereitschaft zur Verantwortung zu tun. Wir brauchen eine solidarische und ehrgeizige Europapolitik der Horizonte, nicht eine Politik der Verzagtheit und der roten Linien, die man angeblich nicht überschreiten dürfe.

Das heißt nicht, dass wir immer und überall mehr Europa brauchen, aber oftmals eben ein anderes Europa. Und zugleich dürfen wir uns selbst nichts vormachen: Europa ist kein Selbstzweck. Nur ein geeintes Europa schafft ein starkes Europa. Ob es um Außenpolitik, Sicherheit, Migration oder Finanzen geht – die Bürgerinnen und Bürger erwarten von Europa Antworten auf die großen Zukunftsfragen. Um die Europäer und Europäerinnen zu überzeugen, muss Europa hier liefern. Europäische Handlungsfähigkeit und europäischer Zusammenhalt sind in diesem Sinn untrennbar miteinander verbunden.

Am Anfang muss stehen – das haben Jean-Claude Juncker und Günther Oettinger schon gesagt –, dass wir uns gegen die falschen Mythen wehren und richtige Erzählungen dagegensetzen.

Die erste falsche Erzählung ist die der Nettozahler. Also eine Erzählung, die jeweils berechnet, wieviel Steuermittel aus einem Mitgliedstaat an die EU gehen und wieviel Fördergelder wieder zurück fließen. In meinem Land eine der beliebtesten falschen Erzählungen über Europa.

Politiker aller Parteien haben sie erzählt und deshalb gibt es nach 30 bis 40 Jahren auch viele Menschen, die diese Erzählung glauben. So, als sei die Finanzierung der Europäischen Union ein Nullsummenspiel, bei dem der eine dem anderen gnädigerweise finanziell unter die Arme greift, ohne selbst etwas davon zu haben.

Hier im Raum weiß jeder, wie falsch diese Geschichte ist. In Wahrheit ist beispielsweise Deutschland kein Nettozahler, sondern wohl der größte Nettogewinner der europäischen Einigung, und zwar buchstäblich wirtschaftlich und finanziell, politisch ohnehin. Wir exportieren unsere Waren und Güter nicht etwa hauptsächlich nach China und in die USA, sondern 60 Prozent nach Europa und 44 Prozent in die EU. Nur wenn es den Ländern um uns herum so gut geht, dass sie sich unsere Waren leisten können, gibt es in meinem Land Arbeit und Einkommen. Niemand hängt vom Wohlergehen der anderen europäischen Mitgliedstaaten so sehr ab wie Deutschland. Und deshalb sind wir eben keine Nettozahler, sondern wirtschaftliche, finanzielle und politische Nettogewinner der EU.

Der zweite Mythos ist der des Souveränitätsverlusts durch die Europäische Union. Die Wahrheit ist, dass wir als Nationalstaaten in der Welt des 21. Jahrhunderts, in der Asien, Afrika und Lateinamerika wachsen, relativ dazu schrumpfen. Tatsache ist, wir in Europa nehmen an Bedeutung, an Bevölkerungszahl, an wirtschaftlichem Gewicht relativ zu allen anderen gesehen ab.

Wir werden in dieser Welt des 21. Jahrhunderts nur dann souverän unser Leben selbst gestalten können, wenn wir über den Umweg der EU Souveränität zurückgewinnen, die wir als Nationalstaaten in der Welt von heute und von morgen alleine schon nicht mehr haben. Selbst das wirtschaftlich starke Deutschland wird international keine Stimme mehr haben. Unsere Kinder und Enkel werden nur die Wahl haben, keine Stimme zu besitzen oder eine gemeinsame europäische Stimme. Es gibt keinen Souveränitätsverlust durch die EU, es gäbe Souveränitätsverlust für die Gestaltung des Lebens in Europa, wenn wir keine EU hätten und wenn die Nationalstaaten alleine die Interessen ihrer Bevölkerungen vertreten müssten. Und ich glaube, dass es wichtig ist, diesen modernen Begriff von Souveränität endlich stärker in unseren Gesellschaften zu verankern.

Eine dritte Geschichte, die weit weniger leicht aufzulösen sein wird, ist die Geschichte vom "Multi-Speed-Europa", das es ja in Wahrheit zum Beispiel im Schengenraum oder mit der Währungsunion bereits gibt.

Es gibt ja bereits das Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Ehrlich gesagt wäre ich froh, wenn das unser Problem wäre. Bei dem Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten gehen alle in die gleiche Richtung, nur manche etwas schneller und andere langsamer.

Unser eigentliches Problem ist aber nicht "Multi-Speed", sondern "Multi-Track". Wir haben doch inzwischen ein ganz unterschiedliches Verständnis von der Entwicklung der EU. Und ich bin mir sicher: Wenn es uns nicht gelingt, gemeinsame Zielsetzungen der EU auch wieder wirksam werden zu lassen, dann jedenfalls wird es sehr schwer sein, in unseren Mitgliedstaaten für Akzeptanz zu werben, dass wir dafür mehr Geld ausgeben wollen.

Ein Europa jedenfalls, das sich in grundlegenden Fragen von Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Meinungs- und Pressefreiheit nicht absolut einig ist, wird keine dauerhafte Unterstützung durch seine Bürgerinnen und Bürger erhalten. Deshalb ist übrigens jeder Haushalt, egal wie groß er ist, am Ende ein Solidaritätshaushalt, der gemeinsame Finanzen, gemeinsame Verantwortung für das gleiche Ziel der EU beinhaltet. Das Ziel ist im Kern der Ausbau und der Erhalt von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auf unserem Kontinent.

Und der letzte Mythos, den ich ansprechen will, ist die gerade auch in meinem Land immer wieder geschürte Angst vor der "Schuldenunion" oder der Transferunion.

Eurobonds, Gemeinschaftshaftung, Bankenunion – das sind Stichworte, die vor allem im Norden Europas große Ängste vor der Überforderung ihrer Steuerzahler auslösen. Im Süden erscheinen sie oftmals als Weigerung zur Solidarität. Ich finde, wir müssen aus dieser selbst gestellten Falle herauskommen. In Wahrheit haben wir ja inzwischen längst eine Gemeinschaftsverschuldung in Europa, denn wer haftet denn für die finanziellen Risiken, die die Europäische Zentralbank (EZB) in den letzten Jahren eingegangen ist? Natürlich die Mitgliedstaaten der EU und der EZB. Die EZB hat wegen der Weigerung der Politik, selbst Verantwortung zu übernehmen, die Rolle eines Financiers der Europäischen Wirtschaftsentwicklung angenommen, die sie sich selbst nicht gewünscht hat. Die entstanden ist, weil die Politik nicht bereit war, gegenüber den eigenen Bürgerinnen und Bürgern die Verantwortung zu übernehmen, die die EZB sich jetzt zugemutet hat.

In Wahrheit gibt es also längst heimliche Verschuldung, heimliche Transferunion, heimlich Eurobonds – bloß ohne das an politische Zielsetzungen zu knüpfen, ohne damit Politik zur Gestaltung Europas zu verbinden. Ich finde, das muss ein Ende haben. Wir werden unsere Wirtschafts- und Währungsunion deutlich mutiger zukunftsfest machen müssen. Sonst unterminiert die immer wiederkehrende Debatte über Bankenkrisen, EZB und das Fehlen einer gemeinsamen Wirtschafts- und Finanzpolitik und die nach wie vor viel zu hohe Arbeitslosigkeit das Vertrauen unserer Bevölkerung in die europäische Politik.

Ich mache diesen langen grundsätzlichen Anlauf, weil ich die Sorge habe, dass wir die mittelfristigen Finanzfragen wieder als technischen Prozess zu lösen versuchen und am Ende wieder bei einem "nationalen Kuhhandel" landen, bei dem sich Nettozahler und Nettoempfänger irgendwie auf irgendetwas einigen.

Ich bin sicher: Das reicht nicht länger. Wir müssen zuerst klar machen, worum es geht. Welche Aufgaben uns bevorstehen und wie wir sie gemeinsam angehen wollen. Dann werden wir auch Unterstützung finden bei der Bereitstellung der dafür notwendigen Mittel. Ich finde, Jean-Claude Juncker und Günther Oettinger haben diese Aufgaben gut beschrieben.

Wir können übrigens durchaus auf positiven Erfahrungen aufbauen: Was Europa mit seinem Haushalt in den letzten Jahrzehnten erreicht hat, ist eine Erfolgsgeschichte. Vom wirtschaftlichen Aufholprozess vieler europäischer Länder bis hin zu Spitzenforschung in den Mitgliedstaaten – vieles wäre ohne die Mittel, die wir gemeinsam über Brüssel zur Verfügung gestellt haben, nicht denkbar.

Europa hätte schon längst den Anschluss verpasst. Wir haben alle – Nord und Süd, neue und alte Mitgliedstaaten – aus der europäischen Einigung enormen Nutzen gezogen. Wir sind in der Tat alle Gewinner der europäischen Integration!

Nutzen wir also die Gelegenheit, uns zu fragen, welche Zukunftsaufgaben wir mit dem EU-Haushalt bewältigen wollen. Das ist vor allem eine politische Herausforderung, keine Rechenübung.

Maßstab ist für mich: Machen die EU-Finanzen Europa zukunftsfest? Richten wir die EU-Finanzen an den richtigen Zielen aus? Wird für Bürgerinnen und Bürger sichtbar, was die EU tut? Schaffen wir einen europäischen Mehrwert, der mehr als die Summe unserer nationalen Anstrengungen ist? Und verbinden wir Haushalt und Finanzen einerseits mit gemeinsamen Zielsetzungen und Wertvorstellungen in Europa andererseits? Von den Antworten auf diese Fragen wird abhängen, wie wir den nächsten Finanzrahmen ausstatten, wie viele Mittel die Mitgliedstaaten zur Verfügung stellen werden.

Aktuell ist der Anteil traditioneller Ausgaben (also Agrarsubventionen und Strukturförderung) sehr hoch, er liegt bei fast 75 Prozent aller Ausgaben. Vergleichsweise gering ist dagegen der Anteil der Ausgaben für Forschung und Entwicklung, aber auch Außenpolitik und Sicherheit. Hier stemmen wir noch die meisten Aufgaben aus unseren nationalen Haushalten.

Weil die traditionellen Ausgabenbereiche so einen großen Anteil ausmachen, müssen wir sie uns mit Blick auf ihre Zukunftsfähigkeit und ihren Beitrag zum europäischen Zusammenhalt besonders genau ansehen. "Better spending" ist nicht einfach nur ein Argument gegen "more spending". Im Gegenteil – ich würde sagen, zuerst muss die Debatte kommen zu der Frage, ob wir das aktuell vorhandene Geld für das richtige ausgeben, um dann, wenn das nicht ausreicht, das "more spending" anzuschließen. Es ist kein Gegensatz, über "better spending" zu reden und trotzdem für "more spending" einzustehen.

Wir sollten diese traditionellen Politiken so gestalten, dass wir mit ihnen auch auf neue Herausforderungen reagieren können. In einigen Mitgliedstaaten wird es heißen, man werde nicht akzeptieren, in Zukunft aus diesen Haushaltstiteln weniger zu bekommen als bisher. Von einigen aus Deutschland – Jean-Claude Juncker hat gesagt aus dem deutschsprachigen Raum; Günther Oettinger und ich sind der lebende Beweis dafür, dass es sowohl in Nord- als auch in Süddeutschland anderslautende Stimmen gibt –werden Sie wiederum auch zu hören bekommen, man werde keinesfalls mehr zahlen. Beiden Argumenten ist gemein, dass sie den Status Quo zementieren.

Und ganz offen gesagt, diese Logik, die eine Logik der Nettosalden ist, schadet Europa immens. Es geht nicht um Nettosalden, es geht darum, dass wir gemeinsam für uns alle den europäischen Mehrwert nutzen.

Heute möchte ich fünf Schwerpunkte benennen, die mir zentral erscheinen, um die europäischen Finanzen qualitativ auf eine neue Basis zu stellen. Mit Blick auf die entscheidenden Wochen der Regierungsbildung in Deutschland bitte ich Sie um Verständnis, dass das meine politische Position ist. Dass ich wie jeder Politiker die Hoffnung habe, dass sich das durchsetzt in Deutschland, das mögen Sie auch verstehen, aber die Regierungsbildung in Deutschland ist in vollem Gange. Ich glaube jedenfalls, egal wer in Deutschland die neue Regierung bildet – erstmals wird in Deutschland ein Koalitionsvertrag entstehen, bei dem Europa im Mittelpunkt nationaler Politik steht. Das hat es in meinem Land bisher noch nicht gegeben. Und ich bin mir ganz sicher, egal welche Parteien in Zukunft die Regierung bilden, um diese Frage wird sich niemand in Deutschland drücken.

Erstens: Die Voraussetzungen für Wachstum und Beschäftigung zu schaffen, ist zentrale Erwartung an Politik – national wie europäisch. Wir müssen die Weichen in Europa auf Wachstum und übrigens auch auf soziale Gerechtigkeit stellen. Durch wesentlich mehr Steuerkonvergenz und Steuergerechtigkeit, durch eine gemeinsame Arbeitsmarktpolitik und durch ein kraftvolles europäisches Investitionsprogramm.

Es ist schon ein paar Jahre her, aber ich erinnere mich noch ganz gut, dass es einen Bericht der Europäischen Kommission gab, in dem uns beschrieben wurde, dass die EU durch legale Formen der Steuervermeidung pro Jahr eine Billion Euro Steuerverlust erleidet. Eine Billion!

Für mein Land wurde damals ein Betrag von 150 Milliarden Euro berechnet. Ich bin weit davon entfernt zu glauben, dass die ambitionierteste Form der Steuerpolitik auch nur in die Nähe dieser Beträge kommen würde. Aber man stelle sich vor, wir würden durch Veränderung unseres seltsamen Steuer-Dumping-Wettbewerbs wenigstens 10 bis 20 Prozent dieses unglaublichen Betrags für die EU mobilisieren. Das wäre sozusagen bereits der Haushalt, den wir derzeit für die EU bereitstellen. Und ich muss Ihnen offen sagen, ich kann – jedenfalls in meinem Land – keinem Bäckermeister erklären, dass er nominell höhere Steuersätze zu zahlen hat als Konzerne wie Google, Starbucks, Amazon. Und ich halte mich nicht für einen Politiker, der sprachlich unterentwickelt ist. Ich glaube einfach, dass das ein wirkliches Gerechtigkeits- und Fairnessthema ist. Ich kann Mittelständler verstehen, die sich eben nicht diesem Steuer-Dumping-Wettbewerb anschließen können und dies als wettbewerbsfeindlich und als Nachteil auf dem europäischen Binnenmarkt empfinden.

Deshalb glaube ich, dass wir eine faire Steuerpolitik miteinander vereinbaren müssen, die übrigens nicht bedeuten muss, dass man Steuersysteme vereinheitlichen muss. Aber dass diese Ungleichbehandlung zwischen Mittelständlern und großen Konzernen beendet werden muss, scheint mir vernünftig zu sein.

Im Rahmen des Europäischen Semesters fordert die Kommission alljährlich die Mitgliedstaaten zu Strukturreformen auf, damit diese wettbewerbsfähig bleiben. Wir müssen den Zusammenhang dieser Empfehlungen mit den Kohäsionsmitteln, die aus dem EU-Haushalt bereitgestellt werden, stärken. Denn gerade die Kohäsionsmittel sollen ja ebenfalls Wachstum und Beschäftigung fördern. Das kann übrigens manchmal heißen, dass dort, wo Strukturreformen noch nicht weit genug gediehen sind, mehr Geld hinfließen muss. Die Debatte muss nicht immer sein: Wer bestimmte Strukturreformen nicht erfüllt, bekommt weniger Geld, sondern manchmal ist das Gegenteil notwendig.

Ich habe nie verstanden, warum in Deutschland das Drei-Prozent-Kriterium im Zusammenhang mit der Verschuldung immer so streng diskutiert wurde. Mein Land hat Folgendes gemacht: Es hat seine sozialen Reformen im Jahre 2003 begonnen bei einer gleichzeitigen Vergrößerung seiner Inlandsverschuldung. Weil wir wussten, dass wir Strukturreformen bei einem gleichzeitigen rapiden Abbau unserer Verschuldung nie im Leben durchbekommen würden. Am Ende haben wir unsere Strukturreform durchbekommen und haben heute Überschüsse im Haushalt. Manchmal kann es also notwendig sein, einem Land auf dem Weg zur Strukturreform mehr zu helfen, als es bisher der Fall ist. Und nicht immer darf es darum gehen, dass dem, bei dem die Reformen noch nicht weit genug gediehen sind, Mittel entzogen werden.

Zweitens: Die Wirtschafts- und Währungsunion muss vervollständigt werden für ein Europa der sozialen und wirtschaftlichen Konvergenz. Die Vollendung der Bankenunion ist dabei zentral. Ob nur für die Euro-Zone oder für die EU-27 – wir sollten im Mehrjährigen Finanzrahmen einen Teil des Haushalts dafür vorsehen, für künftige Krisen besser gewappnet zu sein. Und wir dürfen hierbei einen ganz wichtigen Aspekt nicht aus den Augen verlieren: Der Euro darf nicht Arm und Reich, Nord und Süd, Ost und West weiter auseinanderdriften lassen. Daher scheint es mir sehr richtig, dass die Kommission Anfang Dezember auch vorgeschlagen hat, ein Budget zu schaffen, das im Abschwung hilft gegenzusteuern – gerade damit sich die Erfahrungen der Krise mit enorm steigender Arbeitslosigkeit nicht wiederholen.

Drittens: Der Umgang mit Sicherheit und Solidarität. Europa ist zum Ziel und Sehnsuchtsort für Flüchtlinge und Migranten auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen geworden. 2015 waren wir auf diesen Ansturm nicht vorbereitet. Seither haben wir einiges erreicht. Wir dürfen uns aber nichts vormachen: Wir müssen nach außen unsere Grenzen gemeinsam effektiver sichern. Wir müssen die Ursachen ungeordneter Migration energischer bekämpfen, und zwar durch Zusammenarbeit insbesondere mit Afrika. Und wir sollten gerade diesen Nachbarkontinent nicht vollständig China überlassen, sondern selbst sehen, dass es dort offensichtlich auch Vorteile gibt, dass Afrika etwas zu bieten hat. China jedenfalls investiert in Afrika nicht, weil sie Angst vor Flüchtlingen haben. Die Debatte in Europa ist zu sehr getrieben von der Flüchtlingsfrage und zu wenig bestimmt von den Chancen, die eine Kooperation mit Afrika beinhaltet.

Viertens: Unsere gemeinsame Außenpolitik. Die Welt ist unsicherer geworden. Die Zahl der fragilen Staaten in unserer Nachbarschaft hat sich erhöht, darauf ist hingewiesen worden.

Wir müssen also parallel zu dem, was wir nach innen tun, auch unsere Sicherheit nach außen stärken und unsere Verteidigungs- und Sicherheitspolitik stärker miteinander verzahnen. Übrigens kann das auch helfen, Geld zu sparen. Wir haben in der Nato dieses berühmte Zwei-Prozent-Ziel, das wir diskutieren. Die Wahrheit ist ja, wir geben in Europa ungefähr die Hälfte dessen für Verteidigung aus, was die USA ausgeben, aber nur mit 15 Prozent der Effizienz. Ich würde vorschlagen, dass wir durch eine bessere Zusammenarbeit in Europa die Effizienz verdoppeln und nicht einfach nur die Ausgaben für Verteidigung. Wenn man übrigens über das von Günther Oettinger zu recht vorgeschlagene Ziel von 1,1 Prozent plus x redet, dann kann man relativ schnell auch in den nationalen Debatten zeigen, was das eigentlich heißt. Bei uns in Deutschland hieße 1,2 Prozent eine Nettobelastung von zehn Milliarden Euro pro Jahr – viel Geld. Gleichzeitig will der amerikanische Präsident aber von meinem Land, dass wir die Ausgaben für Rüstung um 30 bis 40 Milliarden pro Jahr steigern. Als ehrlich gesagt, glaube ich, zehn Milliarden in das Oettinger-Ziel Europas zu investieren, sichert im Zweifel den Frieden mindestens so sehr wie eine höhere Investition in die Verteidigungsfähigkeit der Nato. Und wir sehen, dass die Balance und die Gewichtung gar nicht so schwer zu erreichen sind, wenn wir uns ansehen, was wir ansonsten noch zu stemmen haben.

Fünftens: Innovation und Forschung. Europa ist – noch – innovativ und forschungsstark. Der Abstand zu den USA bei Technologien und Dienstleistungen der digitalen Welt ist groß und droht, noch weiter zu wachsen. Wir müssen aufschließen. Energiesparende Fahrzeuge, Medizintechnik, computergesteuerte Maschinen, Roboter, Hightech für Raumfahrt, See- und Schienenverkehr dürfen wir nicht weiter den Nationalstaaten alleine überlassen, sondern müssen unsere Kräfte bündeln.

Zusammengefasst: Wir müssen die EU-Finanzen neu ausrichten. Ein reines Umetikettieren reicht nicht aus. Nur so werden wir unserer Verantwortung gerecht und den Kritikern aus allen Lagern begegnen können.

Und damit komme ich auf die Frage der Ausstattung des EU-Haushalts zurück. Ich werde meinen Teil dazu beitragen, dass Deutschland ein konstruktiver Partner ist auf dem Weg, den Günther Oettinger beschrieben hat. Ich glaube, dass wenn Deutschland vorangeht in einer solchen Debatte, wir einen wirklichen Unterschied machen können.

Ich appelliere deshalb an die Kommission, einen ambitionierten Vorschlag für den nächsten Finanzrahmen vorzulegen. Der nächste Finanzrahmen ist eine enorme Chance und die kommt nur alle sieben Jahre. Schauen wir nicht mit dem Tunnelblick auf die Nettosalden, sondern machen wir uns klar: Europa ist unsere beste Chance auf eine gute Zukunft in einer unsicheren Welt.