Rede des Bundesministers des Auswärtigen, Dr. Frank-Walter Steinmeier,

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Lieber Kurt Beck,
sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen Abgeordnete,
Exzellenzen,
liebe Mitglieder des Kuratoriums der Friedrich-Ebert-Stiftung,
liebe Vertrauensdozenten der Friedich-Ebert-Stiftung,
liebe Gäste,
meine Damen und Herren!

„Diplomatie: Chancen, Grenzen, Perspektiven“, das ist das Motto der diesjährigen Tiergartenkonferenz.

Ich will mit Blick auf dieses Motto zu Beginn eine gänzlich ungeschützte Vermutung aufstellen: Wenn Sie, das Fachpublikum der Außen- und Sicherheitspolitik, das jetzt vor mir versammelt sitzt, an die aktuelle Weltlage denken – an Syrien, Libyen, die Ostukraine, den Brexit, die Situation in der Türkei, die Spannungen mit Russland –, dann denken Sie vermutlich, wenn Sie die drei Begriffe „Chancen, Grenzen, Perspektiven“ hören, zuerst einmal an die Grenzen der Diplomatie. Habe ich Recht?

Und die Perspektiven? Nun, nicht gerade rosig derzeit.

Ich will mich von dieser Hypothese selbst nicht ausnehmen. Wer mich kennt – und ich bin ja heute nicht zum ersten Mal auf dieser Konferenz, und ich sehe viele bekannte Gesichter im Publikum – der weiß, dass auch ich grundsätzlich sehr dafür bin, realistisch zu sein, unsere eigenen Möglichkeiten nicht zu überschätzen, und skeptisch zu sein gegenüber denen mit den einfachen und schnellen Lösungen, die am Ende keine Lösungen sind!

Und Sie wissen – vielleicht hat der eine oder die andere hier sich sogar an dem Prozess beteiligt –, dass wir im Auswärtigen Amt unsere eigene Diplomatie einer sehr selbstkritischen Inventur unterzogen haben, in den Jahren 2014 und 2015, im sogenannten Review-Prozess, der unter einer ganz ähnlichen Überschrift stand wie diese Konferenz, nämlich „Ziele, Instrumente, Partner“ aber eben auch „Grenzen unserer Verantwortung“ neu zu verorten in einer Welt, die unübersichtlicher und unsicherer geworden ist.

Dennoch: Heute will ich etwas anderes versuchen, und ich würde mir das auch für unsere Diskussion wünschen, nämlich dass wir die Chancen der Diplomatie in den Vordergrund stellen!

Warum schlage ich das vor?

Erstens, ganz einfach: Die Diplomatie hat Erfolgschancen, nach wie vor, und auch die haben wir trotz aller Krisen in den vergangenen Jahren auch real gesehen. Das Atomabkommen mit dem Iran, das Abkommen von Minsk in der Ukraine-Krise, die schrittweise Bewältigung der Flüchtlingskrise, oder – um ein Beispiel aus einer ganz anderen Weltregion zu nennen – das Friedensabkommen in Kolumbien, mit dem gerade letzte Woche, wenig beachtet von unseren Medien, immerhin der letzte bewaffnete Konflikt der westlichen Hemisphäre zu Ende gegangen ist.

Es ist wichtig, dass wir diese Erfolge nach vorne stellen. Denn wir, die wir auf die Kraft der Diplomatie setzen, sind gewissermaßen ständig im Wettbewerbsnachteil: Die Konflikte, mit denen wir es zu tun haben, erzeugen im Internetzeitalter eine wahre Bilderflut, rasant, täglich, extrem. Die Diplomatie tut das nicht! Sie ist zäh und mühsam. Tage und Nächte in stickigen Konferenzräumen um Kompromisse ringen, das erzeugt keine bunten Bilder. Aber so ist Diplomatie. Sie eilt nicht von Sieg zu Sieg. Eine einzige Zahl bringt das Dilemma auf den Punkt: Zwölf Jahre! Zwölf Jahre hat der Weg von den ersten Verhandlungen bis zum Wiener Abkommen mit dem Iran gedauert. Ich war von den ersten Momenten an dabei – ich weiß schon selber nicht mehr, wie viele Fußballweltmeisterschaften und Europameisterschaften ich mit iranischen Diplomaten in Schweizer Hotels verfolgt habe… Das Tempo der Diplomatie ist langsamer als die Schnelllebigkeit unserer Zeit, als Twitter und Snapchat. Aber wir sollten Sie deshalb nicht verachten. Schritt und Rückschritt und wieder Schritt ergeben eine Vorwärtsbewegung!

In letzter Zeit entdecke ich in den außenpolitischen Kommentaren unserer Zeitungen eine gewisse Vorliebe für die griechische Mythologie! Vom „Damokles-Schwert“ ist da die Rede, oder von „Steinmeiers Herkules-Aufgabe“. Von all diesen Anleihen ist mir eine Analogie die liebste, die ich ziemlich oft höre: „Sisyphos“. Diplomatie ist Sisyphos-Arbeit. Ich kann mit dieser Analogie leben, nicht weil wir uns Sisyphos bekanntlich „als glücklichen Menschen vorstellen“ müssen, sondern weil eben doch immer wieder einmal ein Stein oben bleibt. Und für die Menschen, die von den Konflikten betroffen sind, bedeuten solche Momente unendlich viel.

Es gibt einen zweiten Grund, warum ich die Chancen heute in den Vordergrund stelle: Wir müssen dem Gefühl von Kontrollverlust etwas entgegensetzen!

Ich mache mir da ehrlich gesagt große Sorgen. In der westlichen Welt, bei unseren Nachbarn in Europa, und bei uns in Deutschland macht eine schleichende Gefahr sich breit. Ein Ungeheuer wacht wieder auf: das Ungeheuer des Nationalismus. Und dieses Ungeheuer nährt sich im Grunde nur aus einem Futter: aus der Angst! Nehmen Sie die AfD in Deutschland, nehmen Sie die Brexit-Kampagne in Großbritannien, nehmen Sie den Herrn Trump in Amerika: Da wird mit den Ängsten von Menschen sehr bewusst gespielt. Da wird aus Angst Politik. Der Soziologe Heinz Bude spricht von einer „Gesellschaft der Angst“, in der wir leben.

Die Menschen, die am Sonntag in Mecklenburg-Vorpommern zur Wahlkabine gefahren sind, wahrscheinlich viele von ihnen vorbei an schönen Seen und friedlichen Wäldern, und die dann ihr Kreuz bei der sogenannten „Alternative für Deutschland“ gemacht haben – ich glaube, die meisten von denen haben von ihrem Kreuz keine wirkliche Alternative, geschweige denn irgendwelche Lösungen erwartet, sondern die treibt die Angst um, und im Kern geht es bei dieser Angst, so glaube ich, um Kontrollverlust. Es macht sich die Sorge breit, dass wir die vielen Krisen und Kriege, mit ihren Notleidenden und Flüchtlingen, oder die Globalisierung mit ihrer Entgrenzung und ihren Zumutungen, mit Ihren Offshore-Firmen und Credit Default Swaps, nicht mehr unter Kontrolle kriegen – nicht in Europa und nicht im Westen.

Die neuen Populisten haben dafür ein ganz einfaches Rezept: Abschotten, Abgrenzen, Einigeln! Das ist der Rückzug ins Nationale, dem gerade wir, gerade die Außenpolitik etwas entgegensetzen muss. Denn jeder einzelne der diplomatischen Erfolge, die ich genannt habe, beweist: Es geht nur gemeinsam, es geht nur mit der Bereitschaft, Partnerschaften einzugehen, auch wenn die Partnerschaften ihre eigenen Schwierigkeiten mit sich bringen – siehe die Flüchtlingspolitik gemeinsam mit der Türkei –, und es geht, vor allem für deutsche Außenpolitik, nur in und durch Europa!

Und dann gibt es einen dritten Grund, und der ist mir heute, hier bei der Friedrich Ebert Stiftung, eigentlich der wichtigste: Wir brauchen eine junge Generation, die bereit ist, internationale Verantwortung zu übernehmen, und die in dem Glauben heranwächst, dass sie einen Unterschied machen kann in dieser Welt!

Ich sehe einige junge Stipendiatinnen und Stipendiaten hier im Publikum. Auch ich war einmal Stipendiat dieser Stiftung, und ich erinnere mich daran, wie wir damals aufgewachsen sind, inspiriert von Willy Brandt und dem großen Bildungsaufbruch, wie wir damals als junge Leute die Hoffnung aufgesogen haben, dass man etwas bewegen kann! Dass eine verkrustete miefige Bundesrepublik sich ändern kann – aber dass man auch international was bewegen kann, wenn ich an den ungeheuren Mut der Entspannungspolitik denke, die Willy Brandt und Egon Bahr ja mitten in den kältesten Tagen des Kalten Krieges gewagt haben.

Wir brauchen diese Hoffnung auch heute! Diese Hoffnung zu entdecken und zu fördern, das ist Ihre vornehme Aufgabe als Auswahlbeauftragte und als Vertrauensdozenten der Stipendiatinnen und Stipendiaten in der Friedrich Ebert Stiftung. Ich will Ihnen heute einerseits danken für ihre hoch engagierte und ehrenamtliche Arbeit bei der Auswahl und Betreuung junger Nachwuchstalente. Und zugleich will ich Ihnen sagen, wie wichtig ihre Arbeit ist, wie sehr es auf gute, politisch denkende und engagierte Nachwuchskräfte ankommt – gerade jetzt!

Ich bitte Sie: Diskutieren Sie mit Ihren Stipendiaten, wo wir und wie wir in dieser Welt einen Unterschied machen können. Machen Sie miteinander vor, wie man unterschiedliche Partner zusammen an einen Tisch bringen kann – auch bei schwierigen Themen –, denn gerade diese „Convening Power“ sollten wir als Deutschland auch in der Zukunft nutzen. Und leben Sie in der Stiftung die internationale Verständigung vor, die immer überlebenswichtiger wird für diese Generation. Ja, diese Welt ist schwieriger geworden als wir uns wünschen. Aber das sollte einen FES-„Stipi“ nicht abschrecken! Und uns auch nicht.

Die Chancen der Diplomatie. Lassen Sie mich konkret sein und über den Konflikt sprechen, der wohl der erbittertste und leidvollste der aktuellen Krisenherde ist: der Bürgerkrieg in Syrien. Im sechsten Jahr tobt der Bürgerkrieg, hunderttausende Todesopfer hat er gefordert, Millionen, die Haus und Hof verloren haben; viele von ihnen haben in Deutschland Zuflucht gefunden.

Wenn wir an die „Chancen“ der Diplomatie glauben, dann gehört zur ehrlichen Analyse und zum Lernen für die Zukunft auch, dass wir zugeben, wo wir Chancen nicht genutzt haben. Und ich fürchte, gerade dieser schreckliche Krieg in Syrien ist in vielerlei Hinsicht eine „Chronik der verpassten Chancen“.

Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen, aus meinen ersten Tagen als Außenminister. Im Westen wurde damals heiß diskutiert, wie mit dem noch relativ jungen syrischen Präsidenten Baschar al-Assad umzugehen sei. Die damalige US-Außenpolitik unter George W. Bush sah die Welt nur nach einem Schema: Achse des Bösen, Achse des Guten – und die Amerikaner waren sich sicher, auf welche Seite Syrien gehöre. Ich hingegen warb dafür, zumindest Angebote zu formulieren, um Syrien in Verantwortung einzubinden, etwa für die Sicherheit im Nahen Osten, statt das Land unmittelbar an die Seite und damit unter den Einfluss des Iran zu stellen. Baschar al-Assad war zum Zeitpunkt des Irak-Krieges erst zwei Jahre im Amt. Das Verhältnis zwischen ihm und seinem Vater galt als distanziert. Seinen Beruf als Augenarzt in London gab er nur widerwillig auf, und über seine Frau, eine in Großbritannien geborene und aufgewachsene Sunnitin, hieß es, die Umstellung vom Shopping in Londoner Boutiquen auf den Suq von Damaskus sei ihr äußerst schwer gefallen.

Die Geschichte aus dieser Zeit ist auch deshalb interessant, weil ich in meiner gesamten Laufbahn nur ein einziges Mal – buchstäblich schon in der Luft, unterwegs im Flugzeug – eine Reise abgebrochen habe. Das war im August 2006. Die geplante Reiseroute war: Israel, Jordanien, Syrien, Saudi-Arabien. Ich wollte mir selbst einen Eindruck in Syrien machen, und hatte Gespräche in Damaskus vereinbart. Im Hotel in Jerusalem erreichte mich ein Anruf aus dem Elysée-Palast, mit der eindringlichen Warnung vor einer Reise nach Syrien. Ich setze die Reise fort. Auf der nächsten Station, Jordanien, klingelt wieder mein Telefon, die amerikanische Außenministerin Condoleezza Rice ruft durchs Telefon – ich werde die Tonlage nicht vergessen: „Frank, I urge you not to go!“ Ich setze meine Termine fort. Schließlich, während der Audienz beim jordanischen König, dem letzten Termin vor Abflug nach Damaskus, erreichten uns dann Agenturmeldungen von einer Rede, die Assad in Damaskus hielt. Heftige verbale Angriffe auf Israel, so hörten wir, seien in der Rede enthalten. Aber erst im Flieger erhalte ich von meinen Leuten vor Ort in Damaskus eine hastige Übersetzung aus dem Arabischen – und lese darin Tiraden über den „Feind Israel“, und lautstarke Unterstützung für Hisbollah, und mir ist klar: Unter diesen Umständen ist ein Gespräch mit Assad das falsche Zeichen. Über Amman kreisend habe ich dann dem Piloten gesagt, er solle jetzt einen Tag früher als geplant nach Jidda abdrehen, und habe dann den mitreisenden Journalisten meine Entscheidung erklärt.

An solche Momente muss ich heute denken, zehn Jahre später, wo die internationale Gemeinschaft vor der syrischen Katastrophe steht. Vermutlich haben wir Lösungen verpasst oder zumindest ausgelassen, lange bevor der Krieg begann. Jahre später, nachdem das Assad-Regime die Proteste des Jahres 2011 blutig niedergeschlagen hatte, baten die Vereinten Nationen den wohl erfahrensten und klügsten Vermittler auf, den die Welt zu bieten hat: Kofi Annan. Er verhandelte intensiv mit Regierung und Opposition, erarbeitete Vorschläge für einen politischen Prozess, für die wir in der heutigen Lage wahrscheinlich dankbar wären. Doch der Sicherheitsrat entzog seine Unterstützung, die Vetomächte schoben sich gegenseitig Schuld zu. Frustriert trat Annan als Syrien-Sondervermittler im Sommer 2012 zurück. Auch später, zurück im Amt des Außenministers, habe ich internationale Syrien-Konferenzen erlebt, bei denen die versammelte Weltgemeinschaft am Reißbrett Szenarien für eine Zeit nach Assad entwarf. Das Problem dabei war: Assad war noch da, und er ist es bis heute. Nach fünf Jahren Bürgerkrieg sind aber Lösungsszenarien, die früher möglich waren, heute nicht mehr denkbar, nachdem dieser Diktator zum Massenmörder am eigenen Volk geworden ist. Der Syrien-Konflikt hat sich unterdessen zu einem erbitterten Stellvertreterkonflikt ausgewachsen, mit hunderten kämpfenden Gruppierungen; mit einer grenzüberschreitenden Terrororganisation, die mordend ein islamistisches Kalifat errichten will; Regionalmächten, allen voran Saudi-Arabien und Iran, die auf fremdem Boden um Vorherrschaft ringen; externen Akteuren mit eigenen Interessen und Historien, nicht zuletzt die USA, Russland und wir Europäer… Keine Vereinfachung, keine Schablone, und keine Realitäts-Ausblendung werden helfen, um Schneisen eines möglichen Lösungsweges in dieses Dickicht zu schlagen.

Aber, auch das ist die Lehre der verpassten Chancen: Wir müssen jetzt, wo die Lage schlimmer, verfahrener geworden ist, mit aller Kraft überhaupt die Möglichkeit zu neuen Chancen offenhalten. Durch die Einigung im Atomstreit mit dem Iran hat sich im Sommer 2015 zumindest ein Türspalt geöffnet. Schon mit dem Tag der Vereinbarung begann eine neue Phase unserer Bemühungen. Denn uns war klar: es braucht die Verantwortung dieser Verhandlungsparteien auch für einen Lösungsweg für Syrien. Das umfasst die sogenannten E3+3, also die USA, Russland und China sowie Frankreich, Großbritannien und Deutschland, aber vor allem auch die Staaten in der Region. Fortan haben wir uns bemüht, die beiden Kontrahenten Iran und Saudi-Arabien miteinander an den Tisch zu bekommen. Mehrfach bin ich zwischen Riad und Teheran gependelt. Es ist uns schließlich gelungen, sie alle, die regionalen und überregionalen Parteien, in ein Syrien-Format einzubinden, das in Wien, New York und München getagt hat. Dieser politische Prozess bleibt mühsam, aber er ist heute der einzig gangbare, der die Realität abbildet, so verfahren und widersprüchlich sie ist.

Aber wenn wir über „Chancen“ sprechen, dann müssen wir die Chancen und die Verantwortung der Außenpolitik nicht immer nur in der ganz großen Lösung sehen, sondern zugleich auch, wo es irgend geht, in der kleinen Linderung. Es geht darum, einen Blick zu entwickeln für die kleinen Schritte die möglich sind, und nicht nur für die große Wand, die man nicht mit einem großen Stoß durchbrechen kann. Wir haben unsere Außenpolitik daraufhin in den letzten Jahren überprüft und erneuert, und wir nehmen zunehmend den gesamten Zyklus eines Konfliktes in den Blick: von der humanitären Hilfe, von der Krisenprävention bis hin zur Stabilisierung und bis hin zum Ausbau unserer Mediationsfähigkeiten, die dringend gebraucht werden.

Wir sind zum Beispiel bei der humanitären Hilfe zum drittgrößten Geber weltweit geworden. Die Syrienkrise ist natürlich der Schwerpunkt. Dank deutscher Hilfe konnten zum Beispiel 110.000 Menschen in Deir al-Sor im Osten Syriens aus der Luft versorgt werden.

Oder denken Sie beim Thema Stabilisierung an unsere Aufbauarbeit in Städten wie Ramadi oder Tikrit, wo wir – nachdem die Befreiung vom IS geglückt ist – eben ganz schnell dafür gesorgt haben, wieder ein Minimum an Lebensbedingungen zu schaffen, die es den Menschen ermöglichen, zurückzukehren. In diese Städte sind 90 Prozent der Menschen mittlerweile zurückgekehrt und mussten sich eben nicht weiter zwischen den gefährlichen Fronten im Irak hindurch auf den Weg Richtung Türkei und Europa begeben.

Oder denken Sie an die kleinen, aber wichtigen Schritte beim Thema Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik. Mit dem Technischen Hilfswerk bilden wir junge Syrerinnen und Syrer ganz praktisch aus, damit Sie eine Tages Ihre Heimat wieder aufrichten können. Die Deutsche Akademische Flüchtlingsinitiative Albert Einstein (DAFI) fördert Flüchtlinge in Drittländern zur Aufnahme eines Studiums vor Ort. Ein anderes Beispiel ist die Philipp-Schwartz-Initiative der Humboldt Stiftung. Einer ihrer Stipendiaten heißt Hussein Almohamad. Er war Professor in Aleppo, bevor er mit seiner Familie floh. Über das Schwartz-Stipendium forscht er nun an der Universität Gießen – meiner Alma Mater übrigens – und ist zentraler Ansprechpartner für ein Netzwerk syrischer Geografen, die sich mit Wiederaufbauplänen für ein Nachkriegs-Syrien befassen. Auch solche Maßnahmen sind Chancen der Krisendiplomatie!

Ich will noch ein zweites konkretes Beispiel nennen. Wenn wir über die Chancen der Diplomatie sprechen, dann müssen wir auch über die Sicherheit in Europa sprechen. Ein neuer, tiefer Graben klafft zwischen Russland und dem Westen. Alte, totglaubte Feindbilder wabern wieder durch Europa – und werden geschürt, leider auf beiden Seiten. Mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim ist die Frage von Krieg und Frieden auf die Tagesordnung zurückgekehrt.

Ich will jetzt nicht lange den Ukraine-Konflikt referieren, wo wir bei Minsk stehen, et cetera, wir können das vielleicht noch auf dem Panel tun. Ich will auch nicht nochmal die intensiven Debatten in der NATO über den Umgang mit Russland durchgehen. Unterm Strich haben wir nach der Annexion der Krim, im Konfliktverlauf und auch jetzt in Warschau vernünftige, maßvolle Beschlüsse gefasst, in dem Verständnis: Ja, natürlich, wir müssen uns schützen, und wir müssen die schützen, in Osteuropa und im Baltikum, die sich Sorgen machen vor Drohgebärden aus Moskau!

Aber – und darüber will ich zwei Sätze sagen – das ist eben nur eine Seite. Die andere Seite ist ein Grundsatz, den wir schon aus der Entspannungspolitik des Kalten Krieges kennen und der auch heute richtig ist: Sicherheit in Europa kann man auf Dauer nicht gegeneinander, sondern nur miteinander organisieren!

Seit dem Harmel-Bericht von 1967 setzt die NATO im Umgang mit Russland auf die Doppelstrategie von Deterrence und Detente. Auf Abschreckung und Dialog. Und diese Strategie war erfolgreich, sie hat geholfen, den Graben des kalten Krieges zu überwinden.

Aber diese Strategie hat ein inhärentes Problem: Abschreckung ist immer konkret und für alle sichtbar. Nur: Das Angebot zum Dialog muss auch konkret sein! Und ich finde, da müssen wir liefern, und genau deswegen habe ich vorgeschlagen, dass wir wieder über Rüstungskontrolle und Abrüstung in Europa sprechen sollten, mit dem Westen und mit Russland! Denn wenn wir die Dinge einfach laufen lassen, dann droht uns ein neues, gefährliches Wettrüsten – mit neuen militärischen Strategien und mit neuen Waffentechnologien, mit Drohnen, Cyber-Angriffen, auch mit der Aufrüstung im Weltraumbereich. Ich glaube: Bei so einem Wettrüsten gewinnt niemand, sondern da verlieren am Ende beide Seiten.

Wo stehen wir in dieser Frage? Ich hatte letzte Woche die Außenminister der OSZE in Potsdam zu Gast. Ich habe dort zu unserer Initiative viele positive Rückmeldungen erhalten. NATO-Generalsekretär Stoltenberg sagte mir am Freitag in Berlin, dass er meinen Vorschlag unterstützt, um Eskalationen und Unberechenbarkeit in Zukunft zu vermeiden. Natürlich ist dieses Thema sensibel und ich höre auch Sorgen und Bedenken zu einzelnen Aspekten. Aber ganz ehrlich: Ich würde mir Sorgen machen, wenn es anders wäre. Denn es ist ein offenes Gesprächsangebot zu einem sensiblen Thema. Ich habe in meinem ersten Vorschlag fünf Felder genannt, in denen wir über Transparenz und Kontrolle und Vertrauensbildung sprechen können, aber das sind natürlich keine festen Verhandlungspositionen, bevor wir überhaupt Gespräche begonnen haben, sondern das sind Felder, die wichtig sind, die Chancen bieten für beide Seiten, aber es sind Felder, die auch beiden Seiten etwas abverlangen.

Wir wollen die ersten Schritte in den nächsten Tagen gehen, und mit gleichgesinnten Partnern in einer Freundesgruppe beraten, wie wir den konkreten und größeren Prozess anstoßen. So eine Kerngruppe ist ein erster Nukleus, offen für alle Interessierte, und ich hoffe, dass wir so in Richtung eines breiten und strukturierten Dialogs über die Zukunft der Rüstungskontrolle gehen werden.

Ich bin also wieder beim Stichwort Chancen: So ein Dialog ist immerhin eine Chance, davon bin ich überzeugt! Ob wir am Ende zu einem neuen Regime der Rüstungskontrolle gelangen, ist – das gebe ich zu – völlig ungewiss. Aber es schon deshalb nicht zu versuchen, wäre unverantwortlich!

Willy Brandt hat einmal gesagt: „Von deutschem Boden darf kein Krieg mehr ausgehen!“ Dieser Satz hat eine ganze Generation geprägt – mich persönlich und viele von Ihnen hier im Saal. Der Satz bleibt richtig – aber ich fürchte, er darf uns heute nicht genug sein. Ja, von deutschem Boden darf kein Krieg ausgehen. Aber in diesen unfriedlichen Zeiten muss von deutschem Boden eben auch die schwierige, mühsame Arbeit für den Frieden ausgehen. Von Deutschland müssen Impulse ausgehen, wie eine aus den Fugen geratene Welt zu Elementen von neuer Ordnung finden kann. Und von Deutschland sollte das Signal und die Hoffnung ausgehen, dass Leben in der Globalisierung eben nicht eine stete Rückwärtsverteidigung ist, sondern dass man diese Welt gestalten kann, und sogar: dass man mit Geduld und der Bereitschaft, auf andere zuzugehen, diese Welt ein Stückchen friedlicher und ein Stückchen gerechter machen kann.

Das ist meine Aufgabe als Außenminister und unsere gemeinsame Aufgabe in der Außenpolitik. Aber das wird noch viel, viel mehr die Aufgabe einer neuen, internationalen Generation sein – die brauchen wir und auf die zähle ich, auch hier bei „Eberts“.