Rede des Bundesministers des Auswärtigen, Dr. Frank-Walter Steinmeier,

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Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!

In den frühen Morgenstunden des 22. Juni 1941, heute vor 75 Jahren, brach die Hölle los. Millionen deutsche Soldaten, Hunderttausende Fahrzeuge und Pferde, Tausende Panzer, Flugzeuge und Geschütze wurden auf Befehl Hitlers mit aller Kraft gen Osten geworfen. Über 25 Millionen Menschen in der Sowjetunion, Weißrussen, Ukrainer, Russen und andere, sollten in diesem Angriffskrieg ihr Leben verlieren. Das Ausmaß des Leidens ist nicht in Worte zu fassen.

Mir persönlich ist kaum ein Moment der letzten Jahre so tief in Erinnerung, kaum ein Moment inmitten der vielen aktuellen Turbulenzen hat mich so bewegt wie der Besuch in der Kriegswüste von Stalingrad vor einem Jahr. Am 70. Jahrestag des Kriegsendes stand ich mit meinem russischen Kollegen Lawrow auf den öden Flächen vor den Toren der Stadt. Bis zum grauen Horizont reichen die Kreuze der Kriegsgräber, russische und deutsche darunter; stumm stehen die Kreuze dort, wo unter furchtbaren Qualen Abertausende Menschen ihr Leben verloren.

Und Stalingrad – das wissen wir – ist nur ein Ort des Grauens. Was Deutsche in der Sowjetunion angerichtet haben, dürfen wir niemals vergessen, und genau deshalb sind wir hier, meine Damen und Herren.

Wir sind hier, um zu erinnern, und wir sind hier, um uns im Erinnern der Verantwortung zu vergewissern, die wir Deutsche für den Frieden auf diesem Kontinent tragen. Denn unserem Land, von dem so viel Unheil ausgegangen ist, ist es über die Jahrzehnte nach dem Krieg vergönnt gewesen, Schritt um Schritt wieder hineinzuwachsen ins Herz der internationalen Gemeinschaft: zunächst als Bundesrepublik in das Bündnis der westlichen Demokratien, auch der NATO, dann in das großartige Friedensprojekt der europäischen Einigung, in die Europäische Union, die morgen bei unseren britischen Freunden vor einer historischen Bewährungsprobe steht, und schließlich als wiedervereintes Land in eine gemeinsame europäische Sicherheitsarchitektur, die Ost und West umfasst und deren Prinzipien über die Schlussakte von Helsinki in der OSZE verankert sind, deren Vorsitz wir Deutsche in diesem Jahr innehaben.

Viel Gutes also ist uns in Deutschland und Europa seit jenen Schreckenszeiten widerfahren, vieles, was es zu bewahren gilt, vieles, für das wir Deutsche bis heute dankbar sind: für den Fall der Berliner Mauer, für die deutsche Einheit als Ergebnis der friedlichen Revolution in der DDR, ermöglicht von den ehemaligen Siegermächten, und für den friedlichen Abzug Hunderttausender russischer Soldaten aus Deutschland.

Und dennoch: Von einem Zeitalter des Friedens sind wir heute weit entfernt, weiter, leider, als wir jemals seit dem Ende des Kalten Krieges waren. Blutige Konflikte toben in Europas Nachbarschaft. Doch auch mitten durch Europa geht ein tiefer Riss. Mit der Annexion der Krim und der Destabilisierung der Ostukraine hat sich erstmals seit dem Ende des Kalten Krieges ein Unterzeichnerstaat der Schlussakte von Helsinki offen gegen eines der leitenden Prinzipien der europäischen Friedensordnung gestellt, die Unverletzlichkeit der Grenzen und die Souveränität eines anderen Staates.

Gerade weil wir unsere historische Verantwortung für die europäische Friedensordnung ernst nehmen, war es diese deutsche Bundesregierung, die auf diesen Prinzipienbruch klar und unmissverständlich reagiert hat und die unsere Partner in diese Reaktion eingebunden hat.

Das Gefühl der Bedrohung, das insbesondere im Baltikum, aber auch in anderen Teilen Ost- und Mitteleuropas entstanden ist, nehmen wir ernst. Ich bin vermutlich in keiner anderen Region in dieser Amtsperiode so häufig gewesen wie bei den östlichen Partnern in Europa und dort wiederum in den baltischen Staaten. Dort unterstützen wir nicht nur den Aufbau eines russischsprachigen Programms im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, von Anfang an waren wir auch bei den Rückversicherungsmaßnahmen der NATO dabei. Wir haben die Wales-Beschlüsse mit vorbereitet und getragen, wir haben Verantwortung in der Umsetzung der Beschlüsse übernommen und tragen sie jetzt bei der Vorbereitung des Gipfels in Warschau.

Worauf es ankommt, ist, dass wir bei all dem nicht aus den Augen verlieren, dass wir uns im Bündnis spätestens seit dem Harmel-Bericht von 1967 von zwei gleichrangigen Prinzipien haben leiten lassen: Deterrence and Détente. Oder in Deutsch: Abschreckung und Entspannung durch Dialog – Grundsätze, die uns später zur NATO-Russland-Akte geführt haben und die wir gerade jetzt nicht zur Disposition stellen sollten, wie manche es fordern.

Denn zur Verantwortung für den Frieden auf diesem Kontinent gehört auch, die richtigen Lehren aus dem blutigen 20. Jahrhundert zu ziehen. Zu diesen Lehren gehört, sich nicht in einer endlosen Spirale der Eskalation zu verlieren. Zu diesen Lehren gehört die Bereitschaft, und zwar auf allen Seiten, immer wieder Auswege aus der Konfrontation zu suchen, und zu diesen Lehren gehört: so viel Verteidigungsbereitschaft wie nötig, so viel Dialog und Zusammenarbeit wie möglich. Beide Säulen müssen stark sein.

Deshalb sage ich heute ebenso wie in den letzten Jahren: Wenn sich die Sicherheitslage verändert – und das hat sie –, dann müssen wir unsere militärischen Fähigkeiten anpassen, aber wir dürfen nicht gleichzeitig der Illusion anheimfallen, dass militärische Stärke allein schon zur Sicherheit führt.

Es ist vielmehr zugleich unsere Pflicht, die Gesprächsfäden nicht zu kappen, nicht etwa, weil alles fröhlich so weitergehen soll, als wäre nichts geschehen, sondern allein schon, um das Risiko von militärischen Missverständnissen zu minimieren, aber noch mehr, um den Prozess der Vertrauensbildung und hoffentlich langfristig auch Wiederannäherung möglich zu machen.

Ich gebe zu: All das sind keine neuen Einsichten, sondern diese Prinzipien erwachsen tief aus unserer gemeinsamen Geschichte. Dauerhafte Sicherheit in Europa kann es nur mit und nicht gegen Russland geben. Seien Sie gewiss, ich sage in Russland genauso: Es kann dauerhafte Sicherheit für Russland nur mit und nicht gegen Europa geben.

Die Geschichte unserer Völker, Deutsche und Russen, war in den vergangenen Jahrhunderten allzu oft eine Geschichte der Extreme. Wo sich zwischen uns Entfremdung und Feindschaft breitgemacht haben, da waren die Folgen verheerend – für uns selbst, aber auch für andere in Europa. Gerade deshalb müssen wir verhindern, dass aus den aktuellen politischen Differenzen und Konflikten, die wir mit der russischen Regierung haben, eine Entfremdung zwischen unseren Völkern wird.

Wir dürfen nicht zulassen, dass Vorurteile und Reflexe aus längst vergangenen Zeiten so auferstehen, als wären sie nie weg gewesen. Auch dazu brauchen wir den Dialog – nicht um Störendes zu übertünchen oder Widersprüche unter den Teppich zu kehren. Ich glaube, nur wenn wir vielmehr die Gräben, die uns trennen, auch im Dialog klar benennen, haben wir die Möglichkeit, sie in der Zukunft irgendwann zu überwinden. Wir brauchen den doppelten Dialog: Wir brauchen den Dialog über Trennendes, und hoffentlich haben wir auch die Möglichkeit des Dialogs über Gemeinsames.

Auf politischer Ebene nutzen wir gerade in diesem Jahr die Foren, die Instrumente der OSZE. Aber auch ganz jenseits von OSZE gilt: Wir brauchen Formen der Zusammenarbeit mit Russland, um Lösungen für die vielen anderen Konflikte jenseits von Europa zu finden, die in unserer Nachbarschaft toben, sei es in Syrien, sei es in Libyen, sei es im Irak. Dass die Zusammenarbeit mit Russland funktionieren kann, dass sie jedenfalls nicht aussichtslos ist, das hat uns das Abkommen mit dem Iran im vergangenen Jahr gezeigt.

Aber neben der politischen Ebene kommt es in diesen spannungsgeladenen Zeiten, in denen wir sind, aus meiner Sicht umso mehr auf den Draht zwischen den Menschen an, und den müssen wir verstärken. Deshalb habe ich vor wenigen Tagen mit dem russischen Amtskollegen das Deutsch-Russische Jahr des Jugendaustausches eingeläutet. Ja, gerade jetzt wollen wir junge Menschen zueinanderbringen, sozusagen kontrafaktisch zur drohenden Sprachlosigkeit in der Politik.

Noch eins ist mir gerade am heutigen Tage wichtig: Gemeinsam mit der russischen Regierung haben wir eine neue Initiative beschlossen, in der wir die Archivmaterialien über sowjetische und deutsche Kriegsgefangene des Zweiten Weltkrieges lokalisieren, systematisch erfassen und digital zugänglich machen. Wir rufen die deutschen und russischen Fachbehörden, alle Archive, Forscher und Experten zur Mitarbeit auf. Wir wollen den Nachfahren ein würdiges Andenken ermöglichen. Wir wollen, kurz gesagt, den vielen Gefangenen und Verstorbenen schlicht und einfach ihren Namen zurückgeben.

Vor einem Jahr, am Abend nach dem Besuch auf den Schlachtfeldern von Stalingrad, kamen der Kollege Lawrow und ich in die Stadt, die heute Wolgograd heißt. Auf dem Paradeplatz gaben russische und deutsche Musiker gemeinsam ein Friedenskonzert. Als wir eintrafen, begrüßten uns Tausende Bürgerinnen und Bürger von Wolgograd, viele von ihnen Veteranen, alte, stolze Menschen in Uniform, die, die die Hölle von Stalingrad überlebt haben.

Was mich berührt hat: Sie begrüßten den deutschen Außenminister, den Vertreter des Volkes, das ihnen so viel Leid über die Stadt und über die Familien gebracht hat, nicht mit Ablehnung, sondern mit Herzlichkeit, mit Beifall und mit tränenreichen Umarmungen. Da war kein Vorwurf, sondern das Signal der Menschen an uns beide war: Gut, dass ihr zusammen hier seid. Nehmt eure Verantwortung ernst, gerade in dieser Zeit.

Unsere Verantwortung für den Frieden in Europa ist untrennbar verbunden mit der Verantwortung für die deutsch-russischen Beziehungen. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass einer Geschichte der Extreme nicht eine Zukunft der Extreme folgt.

Dies zu verhindern, das ist vor allem Verantwortung derjenigen, die die europäische Friedensordnung durch Verletzung der Souveränität der Ukraine beschädigt haben, aber es ist auch unsere Verantwortung.