bei der Veranstaltung der B’nai B’rith International zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust am 24. Januar 2022 als Videokonferenz:
- Bulletin 08-1
- 25. Januar 2022
Vor drei Jahren hielt der Historiker Saul Friedländer im Deutschen Bundestag eine Rede zum Holocaust-Gedenktag. Seine Worte gehen mir bis heute nach.
In der Rede erzählte er, wie seine Familie vor den Nazis durch ganz Europa floh. Schließlich kamen seine Eltern zu der Ansicht, dass die Reise für ihren Sohn, der dann gerade einmal neun Jahre alt war, zu gefährlich wurde. Sie entschlossen sich, ihn in einem Internat zu verstecken – allein.
Friedländer beschrieb den Moment der Trennung – und dachte zurück an seine Mutter und seinen Vater: „Was ging wohl in ihnen vor, als sie sahen, wie ihr kleiner Junge, der sich mit Händen und Füßen wehrte, weil er bei ihnen bleiben wollte, aus ihrem Zimmer entfernt wurde?“
In diesem Moment hatten viele im Bundestag, darunter auch ich, Tränen in den Augen. Ich dachte an meine eigenen Töchter, sechs und zehn Jahre alt. Wie hätte ich mich gefühlt, wenn ich sie als Mutter so hätte zurücklassen müssen?
Die Wahrheit ist: Für jemanden wie mich, der 1980 geboren ist und im heutigen Deutschland lebt, sprengt eine solche Frage jede Vorstellungskraft. Ich kann nicht für mich beanspruchen, den Horror und das Leid zu erfassen, die Friedländers Eltern, er selbst oder jedes andere Opfer des Holocaust erlebt haben.
Friedländers Rede machte mir daher eins deutlich: Wenn wir die Erinnerung an die Shoah in Zukunft wachhalten wollen, müssen wir uns an eine neue Zeit anpassen –eine Zeit, in der den meisten Menschen die Erfahrung oder die Verbindung zur Vergangenheit fehlt, die es erlaubt, sich ein Leben unter dem Naziregime, im Zweiten Weltkrieg und den Holocaust vorzustellen.
Doch diese Aufgabe ist von äußerster Wichtigkeit. Wir müssen sicherstellen, dass wir niemals vergessen. Das schulden wir sechs Millionen jüdischen Männern, Frauen und Kindern, die im Holocaust ermordet wurden – und allen anderen, die von den Nazis verfolgt wurden. Wir haben eine moralische Verpflichtung, uns an sie und ihre Leben zu erinnern.
Aber wir dürfen auch deshalb nicht vergessen, weil wir die Zukunft der europäischen Demokratie und unseres europäischen Friedensprojekts sichern wollen. Nach 1945 wurden unsere liberalen Demokratien und der europäische Einigungsprozess als Reaktion auf den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust aufgebaut. Ihre Existenz ist eng verknüpft mit dem Bewusstsein für unsere dunkle Vergangenheit. „Wenn wir uns in kommenden Jahren erinnern möchten, warum es so wichtig war, ein bestimmtes Europa aus den Krematorien von Auschwitz zu bauen, kann uns nur die Geschichte helfen.“ Das schrieb der Historiker Tony Judt.
Und das gilt ganz besonders für Deutschland. „Nie wieder“ ist der Grundsatz, auf dem wir unser Land in den Jahrzehnten nach dem Krieg wiederaufgebaut haben. Und dieser Grundsatz steht auch heute noch im Mittelpunkt unserer nationalen Identität.
Aus diesen Gründen bekennt sich die neue deutsche Regierung dazu, die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten – heute und für die Zukunft. Wir werden unserer Verantwortung gerecht werden – und wir werden weiterhin unserer Vergangenheit ins Auge blicken.
Daher setzen wir unsere Holocaust-Erinnerungsarbeit fort: Wir unterstützen neue Holocaust-Museen, etwa in Amsterdam und Thessaloniki. Wir bringen junge Menschen aus verschiedenen Ländern an Holocaust-Gedenkstätten zusammen. Und wir unterstützen ein Projekt mit der Türkischen Gemeinde in Deutschland, das türkische Opfer der Shoah erforscht.
Außerdem verstärken wir den Kampf gegen Antisemitismus und die Verfälschung des Holocaust – in unserem Land ebenso wie im Ausland. Heute leben wieder 200.000 Jüdinnen und Juden in Deutschland – und die jüdische Gemeinschaft ist ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft. Aber die Dinge sind bei Weitem nicht perfekt: Die Publizistin Marina Weisband hat das jüdische Leben in Deutschland als ambivalent, voller Gemeinschaft und Solidarität, voller Angst und Frustration beschrieben.
Als deutsche Außenministerin bin ich beschämt angesichts der Zunahme des Antisemitismus in meinem Land: terroristische Angriffe auf Synagogen, Hassrede, Juden, die eine Kippa tragen und deshalb auf offener Straße in Berlin angegriffen werden, und Menschen, die gelbe Sterne mit der Aufschrift „ungeimpft“ bei Demonstrationen tragen, – all das ist unerträglich. Wir reagieren auf solche Taten mit der ganzen Härte unserer Gesetze. Und in den kommenden Jahren werden wir eine Milliarde Euro für die Bekämpfung von Antisemitismus und gruppenbezogenem Hass ausgeben – und damit Projekte finanzieren, die von Polizeischulungen bis hin zu Kampagnen in den sozialen Medien reichen.
Diese Maßnahmen gehen Hand in Hand mit unseren internationalen Bemühungen: In der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken werden wir unsere Arbeit im Rahmen der Globalen Taskforce gegen Holocaustverfälschung fortsetzen. Und in den Vereinten Nationen haben Israel und Deutschland eine Resolution über die Leugnung und Verfälschung des Holocaust eingebracht, die die Generalversammlung vor einigen Tagen angenommen hat.
Wir brauchen Partner wie Sie, die großartige Arbeit leisten, um Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt zu unterstützen. Gemeinsame Initiativen zeugen von unserer engen Freundschaft mit Israel. Für die neue deutsche Regierung ist und bleibt die Sicherheit Staatsräson. Wir erheben unsere Stimme gegen unbegründete Kritik und Hass gegen Israel. Wir unterstützen Abkommen zur Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und arabischen Staaten – und wir treten für die Zusammenarbeit zwischen Israel und den Palästinensern ein. Wir glauben, dass eine auf dem Verhandlungsweg herbeigeführte Zweistaatenlösung die besten Chancen für beide Seiten bietet, friedlich Seite an Seite zu leben.
In seiner Rede im Deutschen Bundestag verlieh Saul Friedländer seiner Hoffnung Ausdruck, dass das Deutschland, das in den Jahrzehnten nach 1945 entstanden ist, weiterhin für Toleranz und Inklusivität, Menschlichkeit und Freiheit, kurzum, für die wahre Demokratie kämpfen werde.
Ich möchte Ihnen versichern: Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um diese Erwartung zu erfüllen. Wir wissen, dass Frieden, Freiheit und Demokratie in Europa historische Wurzeln haben, die wir bewahren müssen. Wir sind uns unserer moralischen Pflicht bewusst, uns an all diejenigen zu erinnern, die während der Shoah ermordet wurden.
Gemeinsam können wir das Versprechen „Nie wieder!“ mit Leben füllen, heute und in Zukunft – und dafür sorgen, dass Müttern und Vätern für alle Zukunft das grausame Schicksal von Saul Friedländers Eltern erspart bleibt: ein Kind zurückzulassen, um sein Leben zu retten.
Vielen Dank.