Offizieller Besuch des Bundeskanzlers in der Republik Polen vom 6. bis 8. Juli 1995 - Offizielles Abendessen im Königsschloß

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Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl hielt anläßlich des offiziellen Abendessens,
gegeben vom Ministerpräsidenten der Republik Polen, Dr.
Jozef Oleksy, am 6. Juli 1995 im Königsschloß in Warschau
folgende Rede:

Herr Ministerpräsident, sehr verehrte gnädige Frau,
Exzellenzen,
meine Damen und Herren,

zunächst möchte ich Ihnen, Herr Ministerpräsident, nochmals
sehr herzlich danken für Ihre Einladung und für den freundlichen Empfang, den Sie
meiner Frau und mir sowie der deutschen Delegation bereitet
haben. In dieser Stunde denke ich mit großer Bewegung an
meinen Besuch in Polen im November 1989. Während dieses
Besuches erreichte mich die Nachricht vom Fall der Mauer in
Berlin. Die Ereignisse jener Tage haben das Gesicht Europas
verändert. Für uns Deutsche ist dabei unvergessen, daß vor
der europäischen Freiheitsrevolution von 1989 der Kampf um
Freiheit und Demokratie hier bei Ihnen in Polen stand. Am Ende
dieser Entwicklung stand die Einheit meines Landes und die
Überwindung der Ost-West-Konfrontation. Heute, über fünf
Jahre danach, lebt Deutschland mit allen seinen Nachbarn in
Frieden und Freundschaft. Es gibt keine Grenzfragen mehr, die
unsere Beziehungen belasten. Nach meinem damaligen Besuch
habe ich im Deutschen Bundestag gesagt: "Wir wollen
Verständigung und Aussöhnung zwischen dem deutschen und
dem polnischen Volk. Dies ist unser historischer Auftrag. Das
ist der Wunsch, das ist die Sehnsucht der Menschen in beiden
Ländern. Den deutsch- polnischen Ausgleich voranzubringen
ist für mich ein Gebot der Moral und ein Gebot der Vernunft,
denn es geht ja zugleich um unsere Verantwortung für
Gegenwart und Zukunft des ganzen Europas". Heute sind die
deutsch-polnischen Beziehungen - zum ersten Mal in der
jüngeren Geschichte - dabei, ein wirklicher Eckpfeiler der
Stabilität und der Sicherheit in Europa zu werden. Deutschland
und Polen verbindet ein enges und vielfältiges Netz des
Austausches und der Zusammenarbeit. Vor sechs Jahren hätte
dies niemand zu träumen gewagt. Wir haben eine gewaltige
Wegstrecke zurückgelegt, und diese Erfahrung, meine Damen
und Herren, gibt uns Zuversicht im Blick auf die gemeinsame
Zukunft. Deutsche und Polen sind dabei, gute Nachbarschaft
auf einer Vielzahl von Feldern zu verwirklichen. Hier wächst
Verständnis und Vertrauen zwischen den Nachbarn. Ich setze
dabei ganz besonders auf die jungen Menschen. Das
Deutsch-Polnische Jugendwerk bringt junge Deutsche und
Polen zusammen. Seine Arbeit verdient unsere tatkräftige
Unterstützung. Jeder Zloty, jede Mark, die wir dafür ausgeben,
ist eine hervorragende Investition in unsere gemeinsame
Zukunft. Nur wenn junge Menschen aus Deutschland und Polen
einander kennenlernen, werden wir verbliebene Vorurteile für
die Zukunft überwinden und das gegenseitige Vertrauen
stärken können. Die Stiftung für Deutsch-Polnische
Zusammenarbeit hat mit erheblichen Mitteln eine Vielzahl von
Projekten im Umweltschutz, im Gesundheitswesen, in der
wissenschaftlichen Zusammenarbeit und im Denkmalschutz
unterstützt. Sie leistet Großartiges. Der freie Reise- und
Güterverkehr über die deutsch-polnische Grenze hat sich in
den vergangenen Jahren vervielfacht. Die deutsch-polnische
Grenze trennt uns nicht länger. Sie verbindet und ermöglicht
Austausch und nachbarschaftliche Zusammenarbeit. Dabei
verkenne ich nicht die schwierige Situation an den
Grenzübergängen, die Polen und uns vor materielle und
personelle Probleme stellt. Wir haben darüber gesprochen,
Herr Ministerpräsident. Vieles bleibt hier noch zu tun. Unsere
persönlichen Beauftragten haben uns jetzt einen Bericht über
die Fortschritte der vergangenen Monate vorgelegt. Wir sind
auf gutem Weg. Aber wir dürfen in unseren Anstrengungen
nicht nachlassen. Die Menschen beiderseits der Grenze
erwarten mit Recht rasche und fühlbare Verbesserungen in
diesem wichtigen Bereich. Hier werden wir und auch die
Europäische Union weiterhin hilfreich sein. Die regionale
Zusammenarbeit kommt gut voran - gerade weil sie sich auf die
Mitarbeit vieler Menschen stützen kann. Über 160 Städte und
Gemeinden unserer Länder haben aktive Partnerschaften
abgeschlossen oder bauen sie auf. Unsere gemeinsame
Regierungskommission für regionale und grenznahe
Zusammenarbeit hat soeben in Dresden Bilanz gezogen und
Impulse für die weitere Arbeit gegeben. Ich freue mich über
diese gute und dynamische Entwicklung. Deutsche und Polen
haben einander seit jeher kulturell bereichert und zugleich
einen ganz unverwechselbaren Beitrag zum kulturellen Erbe
Europas geleistet. Unsere Kulturbeziehungen sind auch heute
ein zentraler Bestandteil unserer nachbarschaftlichen
Verbindungen. Mit kaum einem anderen Land haben wir einen
so intensiven kulturellen Austausch wie mit Polen. Dies gilt für
Musik und Theater, dies gilt für Studien- und
Forschungsaufenthalte. Unsere Kulturinstitute erweitern die
Kenntnis von Sprache, Geschichte und Kultur des Nachbarn.
Diese so wichtige Arbeit kann man gar nicht hoch genug
einschätzen. Unsere beiden großen Kulturnationen sollten aber
auch beweisen, daß sie schwierige und sensible Probleme im
Geiste freundschaftlicher, gutnachbarschaftlicher
Zusammenarbeit lösen können. Ich denke hier insbesondere an
eine einvernehmliche Lösung bei der Rückführung von
Kulturgütern an ihren angestammten Platz. Hier wollen wir
konkrete Fortschritte erreichen. Herr Ministerpräsident, meine
Damen und Herren, ich habe stets betont, daß nach
Überwindung der politischen und ideologischen Gräben
zwischen Ost und West keine neuen Trennlinien
wirtschaftlicher oder sozialer Art in Europa entstehen dürfen.
Der Übergang zur marktwirtschaftlichen Ordnung ist eine
gewaltige Herausforderung für Ihr Land. Auch wir sind dabei,
im Osten unseres Landes das bedrückende Erbe einer
jahrzehntelangen sozialistischen Mißwirtschaft in Gesellschaft,
Wirtschaft und Umwelt zu überwinden. Polen ist in den letzten
Jahren auf dem Weg des ökonomischen und sozialen Wandels
ein großes Stück vorangekommen. Ich beglückwünsche Sie
ausdrücklich zu diesem Erfolg. Ich möchte Sie ermutigen, den
Reformweg konsequent und beharrlich weiterzugehen.
Deutschland kann Ihnen dabei in vielfacher Weise helfen, zum
Beispiel bei der Auslandsverschuldung, der Beratungshilfe, bei
der Berufsausbildung oder im Energiebereich. Der Anschluß
Polens an die offenen Märkte des Westens bleibt entscheidend.
Bereits heute wickelt Polen seinen Handel zu zwei Dritteln mit
der Europäischen Union ab. Dies ist ein Beweis für die
wachsende Leistungsfähigkeit der polnischen Volkswirtschaft.
Dies zeigt aber auch die Bedeutung des Europaabkommens
zwischen der Europäischen Union und Polen, das den Weg zu
einer Mitgliedschaft Polens in der Europäischen Union ebnen
soll. Deutsche und Polen haben das Potential ihrer
wirtschaftlichen Zusammenarbeit längst noch nicht
ausgeschöpft. Dies gilt insbesondere auch für deutsche
Investitionen in Ihrem Land. Investitionen - wir haben heute
darüber gesprochen - lassen sich nicht durch Regierungen
verordnen. Investoren achten nicht nur auf die politische
Großwetterlage, sondern auch auf die ganz konkreten
wirtschaftlichen Bedingungen vor Ort. Sie werden ihr
Engagement in dem Maße verstärken, wie ihre Möglichkeiten
zur Niederlassung und zur Ausübung ihrer wirtschaftlichen
Tätigkeit erweitert werden. Ich wünsche mir - und ich sage dies
auch im Angesicht einer großen Delegation aus der deutschen
Wirtschaft -, daß möglichst viele deutsche Unternehmen sich
hier in Polen engagieren. Herr Ministerpräsident, meine Damen
und Herren, Deutschland und Polen bekennen sich zum
gemeinsamen Ziel eines in Freiheit zusammenwachsenden
Europa. Polen ist heute der Europäischen Union assoziiert und
Partner der Westeuropäischen Union. Im NATO-Programm
"Partnerschaft für den Frieden" hat Ihr Land als erstes
mitgearbeitet. Die polnischen und deutschen Streitkräfte
arbeiten eng zusammen bei der Ausbildung von Offizieren und
bei gemeinsamen Übungen. Ich denke beispielsweise an das
gemeinsame Manöver polnischer, deutscher und französischer
Soldaten im vergangenen Jahr. Dergleichen wäre noch vor
wenigen Jahren unvorstellbar gewesen. Dies kennzeichnet
mehr als alles andere das Maß an gegenseitigem Vertrauen
zwischen uns. Der Beitritt Polens zum Europarat war die erste
wichtige Etappe seiner Integration in die Gemeinschaft
europäischer Demokratien. Sie haben mitgearbeitet an der
Rahmenkonvention zum Schutz der Minderheiten, die unsere
beiden Staaten unterzeichnet haben. Das Thema der
Minderheiten, das die deutsch-polnischen Beziehungen über
Jahre hin belastet hat, vereint uns heute in guter
Zusammenarbeit, die zusätzliches Vertrauen zwischen Polen
und Deutschen schafft. Dies ist ein großartiger historischer
Fortschritt, für den ich ganz besonders dankbar bin. Herr
Ministerpräsident, meine Damen und Herren, die Schaffung des
geeinten Europa ist die Aufgabe der Zukunft. Außenminister
Bartoszewski hat am 28. April dieses Jahres vor unserem
Bundestag in bewegenden Worten daran erinnert, daß dieses
Europa eben mehr ist als ein geographischer Begriff: Es ist
eine Gemeinschaft mit grundlegenden Werten, mit Prinzipien,
mit Traditionen. So wie er glaube auch ich fest an die Zukunft
dieses Europa. Ohne Polen, diese große Kulturnation in der
Mitte unseres Kontinents, ohne den unverwechselbaren
polnischen Beitrag würde Europa ein Torso bleiben. Wir
Deutsche unterstützen den polnischen Wunsch nach
Aufnahme in die Europäische Union und in die NATO aus tiefer
Überzeugung. Hierzu verpflichtet uns unsere Geschichte, das
gebietet uns unsere europäische Verantwortung, dies gebietet
uns auch unser nationales deutsches Interesse. Die Aufnahme
Polens in die NATO und in die Europäische Union stehen in
einem inneren Zusammenhang. Dies bedeutet jedoch nicht, daß
dies zum gleichen Zeitpunkt passieren muß. Aber wir Deutsche
wollen beides: Wir wollen die Aufnahme Polens und der
übrigen neuen Demokratien Mittel- und Osteuropas in die
Europäische Union. Dies setzt zunächst voraus, daß Polen
selbst die notwendigen politischen und wirtschaftlichen
Voraussetzungen schafft. Aber ich sage voller Respekt: Sie
haben in den letzten Jahren unter großen Schwierigkeiten
große Fortschritte erzielt. Ich bin sicher, daß Sie dieses Ziel,
wenn Sie wollen, noch in diesem Jahrzehnt erreichen. Dabei
werden wir Deutsche Polen - gemeinsam mit unseren Partnern
in Europa - fest zur Seite stehen. Damit meine ich ganz
ausdrücklich einen Beitritt noch in diesem Jahrzehnt, das
heißt: bis zum Ende dieses Jahrhunderts. Ich weiß, wie
schmerzhaft der Prozeß der Anpassung für die Menschen auch
in Ihrem Lande ist. Viel kann dazu in klugen Reden gesagt
werden. Es sind aber die Menschen in den Städten und
Dörfern, die diesen Prozeß letzten Endes erleben und
umsetzen müssen. Ich hoffe daher, daß von meinem Besuch
hier in Warschau und in Krakau folgende Botschaft ausgeht:
Sie, die Polen, sind nicht allein auf diesem Weg. Wir haben ein
gemeinsames Interesse, daß Sie diesen Weg erfolgreich gehen.
Herr Ministerpräsident, diese Position, die unseren
gemeinsamen Interessen dient, läßt sich in folgenden Worten
zusammenfassen: Polen braucht Europa und Europa braucht
Polen. Wir brauchen die menschliche Dimension Ihres Landes.
Wir brauchen die Dynamik Ihres Landes - auch im
Wirtschaftlichen. Ich bin sicher, es schlummern hier noch viele
Kräfte, die sich entfalten werden, wenn sie die Chance dazu
haben. Wir brauchen auch den kulturellen Beitrag Ihres Landes
für und in Europa. Wir wollen kein Europa, das grau und
einförmig ist. Wir wollen ein buntes Europa, in dem
unterschiedliche Kulturen, Traditionen und Mentalitäten ihren
Platz haben. Herr Ministerpräsident, wir wollen die
gutnachbarschaftliche Zusammenarbeit im Geiste der
Freundschaft, der Verständigung und der europäischen
Partnerschaft fortsetzen. Darauf möchte ich trinken. Auf Ihr
Wohl, Herr Ministerpräsident, und das Ihrer verehrten Gattin,
auf das Wohl der Menschen in Polen und in Deutschland, auf
die jungen Leute, die jetzt in unseren Ländern heranwachsen:
Sie haben Perspektiven, von denen man früher nur träumen
konnte. Sie sind voller Hoffnungen. Wir wollen sie nicht
enttäuschen.