Gemeinsame Erklärung von Bundespräsident Johannes Rau

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I.

Am 12. September 1999 jährt sich zum fünfzigsten Male der Tag, an dem Theodor Heuss, im Jahr der Gründung der Bundesrepublik Deutschland, zum ersten Bundespräsidenten gewählt wurde.

Aus diesem Anlass möchten wir an die Anfänge unserer Demokratie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der NS-Diktatur erinnern und an die bleibenden Verdienste, die sich Theodor Heuss während seiner zehnjährigen Amtszeit bei der Begründung unserer Demokratie als Staats- und als Lebensform erworben hat.

Angesichts der neuen demokratiepolitischen Herausforderungen, vor denen wir in Deutschland und Europa stehen, haben zwei seiner Maximen, die er vor und nach seiner Wahl am 12. September 1949 beschworen und die er zeit seines Lebens befolgt hat, heute noch und heute wieder aktuelle Gültigkeit.

Einmal ist es die mahnende Besorgnis: "Wenn unsere Verfassung nicht im Bewusstsein und in der Freude des Volkes lebendig ist, bleibt sie eine Geschichte von Machtkämpfen der Parteien, die wohl nötig sind, aber nicht ihren Sinn erfüllen....", zum anderen die Meinung, dass "Demokratie keine Glücksversicherung ist, sondern das Ergebnis politischer Bildung und demokratischer Gesinnung".

II.

Vor diesen beiden grundlegenden Sätzen seines demokratischen Credos muss sich unsere Verfassungswirklichkeit einigen besorgten Nachfragen stellen:

Erstens: Wie ist es heute um die politische Bildung und die demokratische Gesinnung in unserem Lande bestellt? Bemühen wir uns ausreichend darum, dass junge Menschen die demokratische Lebensform lernen können, damit Erfahrung und Bewährung möglich werden?

Zweitens: Ist unsere Verfassung "im Bewusstsein und in der Freude des" – nun wiedervereinten – "Volkes lebendig", und ist es nach der glücklichen Vereinigung des 40 Jahre geteilten deutschen Volkes ausreichend gelungen, unsere geschriebene und gelebte Verfassung zur Verfassung aller Deutschen werden zu lassen? Wie kann bisher Versäumtes nachgeholt werden?

Drittens: Sind wir uns bewusst, dass unsere repräsentative Demokratie im Zeitalter globaler Veränderungen mehr denn je des Engagements der Bürger und ihrer Mitwirkung und Teilhabe an politischen Aufgaben bedarf?

Viertens: Haben unsere Parteien und gesellschaftlichen Institutionen schon ausreichend erkannt, dass aus diesem Grund jeder am Gemeinwohl orientierte Einsatz in sozialen, humanitären, kulturellen und ökologischen Feldern ermutigt und gefördert werden sollte?

Fünftens: Sind sich unsere Parteien – über die nötige politische Konkurrenz hinaus – ihrer Mitverantwortung für die Entfaltung demokratischer Lebensformen und Gesinnungen ausreichend bewusst und geben sie selber genügend glaubwürdige Beispiele für ihre eigene Lernfähigkeit und Erneuerungsbereitschaft?

Sechstens: Was können unsere Parlamente – von den Gemeinden bis nach Straßburg und Brüssel – tun, damit sie ihre Aufgabe als Foren demokratischer Öffentlichkeit besser erfüllen und überzeugender praktizieren, weil die vom Volk als "Vertreter des Volkes" gewählten Repräsentanten "nur ihrem Gewissen verpflichtet" und trotz aller Einflussnahme von wirtschaftlichen und anderen Einzelinteressen "an Aufträge und Weisungen nicht gebunden" sind?

Siebtens: Funktioniert die Aufgabenverteilung zwischen Legislative und Exekutive, zwischen Bund, Ländern und Gemeinden? Was muss geschehen, um die Leistungs- und Handlungsfähigkeit unserer föderalen Ordnung, unabhängig von den Mehrheitsverhältnissen in Bund und Ländern, zu stärken?

III.

Es ist nicht die Aufgabe der Unterzeichner, konkrete Lösungsvorschläge für Probleme, Schwachstellen und Defizite in unserer Verfassungswirklichkeit zu machen. Dennoch fühlen sie sich – im Geiste der Maßstäbe, die Theodor Heuss gesetzt hat – berechtigt und verpflichtet, zusammenfassend festzustellen:
Für die Stabilität und Anziehungskraft unserer Demokratie ist ihre Entfaltung und Stärkung als Lebensform unabdingbar. Wir können und sollen nicht alles vom Staat, von Sicherungssystemen und Großorganisationen erwarten. Erst die Vielfalt der Freiheiten und Verantwortlichkeiten, Initiativen und Engagements, Freiwilligkeit und Verpflichtungen – also eine verantwortungsbereite Bürgergesellschaft – halten das Gemeinwesen zusammen.

Darum brauchen wir neben staatlichem Handeln, das gleiche Lebenschancen für alle fördert, das am Gemeinwohl orientierte Engagement möglichst vieler Bürgerinnen und Bürger für soziale, humanitäre, kulturelle und ökologische Aufgaben. Dafür sollen vielfältige Gelegenheiten geschaffen und Wege geebnet werden.

Dazu gehört beispielsweise auch, dass das Steuer- und Arbeitsrecht, das Gemeinnützigkeits- und Stiftungsrecht entsprechend gestaltet sind. Wir brauchen "Stifter", die mit Geld oder mit Zeit gemeinnütziges Engagement fördern.

Vor allem muss die junge Generation stärker als bisher von klein auf in demokratische Lebensformen und soziales Verhalten hineinwachsen können. Familie und Schule sollen beides vorleben, Erfahrungen damit weitergeben und Bewährung möglich machen. Jugendliche sollen erleben, dass sie gebraucht werden und etwas leisten können, im Beruf, in der Gesellschaft, in der Demokratie. Jeder Jugendliche sollte die Möglichkeit haben, sich in Diensten für die Gemeinschaft, durch Patenschaften oder andere Formen freiwillig zu engagieren.

An die Älteren gerichtet: Wir müssen die Jugend auch machen lassen, ihr Freiräume schaffen, Vertrauen schenken und Verantwortung in Gremien und Organisationen übertragen.

Nur so werden wir ihre Begeisterungsfähigkeit und schöpferische Kraft für unsere Gesellschaft erhalten und stärken können und damit eine Brücke zwischen den Generationen bauen.

Zum 12. September 1999

Johannes Rau
Roman Herzog
Richard von Weizsäcker
Walter Scheel