Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier

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Vor mehr als 50 Jahren, im Mai 1967, ist die Platte „Sgt. Pepper‘s Lonely Hearts Club Band“ von den Beatles erschienen. Viele von Ihnen werden sich daran erinnern. Darauf war ein seltsames Lied, das klang wie Musik für ältere Leute. Es hieß "When I'm Sixty-Four". Im Alter, so träumt der Sänger, wird er als Großvater mit Großmutter zusammen in einem Landhausidyll leben. Auf den Knien die Enkel, in der Ecke brennt gemütlich der Kamin und Großmama strickt. So sollte es sein, wenn er einmal 64 Jahre alt sein wird.

Wer das Lied damals als Jugendlicher gehört hat, dem wird ein solches Alter unendlich fern vorgekommen sein – mir auch! Mancher hat damals sogar leichtsinnigerweise gehofft, er würde niemals so alt. Hymnisch zugespitzt ist diese Hoffnung in einem anderen Lied – nicht von den Beatles –, in "My Generation" von den Who. Sie erinnern sich an die Textzeile "I hope I die, before I get old". Geschrieben hatte es Pete Townshend mit nicht einmal 20 Jahren.

Nun, Pete Townshend lebt noch. Wie auch Paul McCartney, der Komponist von "When I'm Sixty-Four". Er hat die 64 längst überschritten, und statt als Großpapa mit Großmama am Kamin zu sitzen, tourt er noch immer über die Bühnen der Welt.

Und Mick Jagger, der Inbegriff ungestümen jugendlichen Rebellentums? Er ist vor vier Jahren Urgroßvater geworden. Und wird bald mit den Stones noch einmal in Deutschland auftreten. Und viele meiner Generation – und ein bisschen älter – werden wieder hingehen! Die Ikonen unbeschwerter Jugendlichkeit haben längst das Rentenalter überschritten. Sie haben zwar nicht das Alter selbst, aber das gesellschaftliche Bild vom Alt-Sein in Teilen der Gesellschaft verändert.

Wer heute alt geworden ist, der hat auf Schiefertafeln schreiben gelernt – ich auch – und der nutzt vielleicht heute das Tablet. Er hat die 1968er-Bewegung erlebt, die Wohlstandsgesellschaft, das neue Verhältnis von Mann und Frau und das Erwachen des ökologischen Bewusstseins. Wer in der DDR gelebt hat, hat dazu das Ende seines Staates und eines ganzen Gesellschaftssystems erlebt. Heutiges Alt-Sein ist durch die Erfahrungen solcher mächtigen Veränderungen zutiefst geprägt. Und durch den Fortschritt von Hygiene und Medizin dauert das Alt-Sein länger als je zuvor. Gut so, sagen die meisten!

Wie anders Alt-Sein geworden ist, zeigen übrigens manche Programmpunkte dieses Seniorentages. Da gibt es zum Beispiel "Interkulturelle Trainings in Theorie und Praxis", "Unterwegs am anderen Ufer. Ältere Lesben und Schwule in der Seniorenarbeit" oder "Gipfelstürmer 60+: Digital-Kompass für Internet-Lotsen". Und selbstbewusst in den Handicaps des Alters gibt es auch "Tanzen mit Rollator". Alter und Beschränkungen im Alter sind längst kein Tabu mehr. Jedenfalls nicht auf dem Seniorentag, und das ist gut so!

Ihre bewegte Jugendzeit prägt die Generation der Babyboomer, die sich jetzt auf Seniorentagen treffen, auch im Alter. Alte Menschen wollen heute so aktiv wie möglich am gesellschaftlichen und kulturellen Leben teilnehmen. Und nicht nur das: Sie wollen dieses Leben verantwortlich mitgestalten und auch genießen. Allerdings, die optimistische Parole "Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an…", gilt längst nicht für alle! Nicht alle haben noch Spaß daran!

So wenig, wie es "die" Jugend gibt, gibt es "die" Alten. Sicher, da gibt es tatsächlich die wohlsituierten Rentner, die man selten zu Hause antrifft, weil sie zwischen der letzten Kreuzfahrt und dem nächsten Mallorca-Urlaub ihr Theaterabo ausnutzen. Aber da gibt es auch die, und das sind mehr, die jeden Cent umdrehen müssen und die darüber bitter geworden sind, dass sie trotz lebenslanger Arbeit kein würdiges Auskommen haben.

Da gibt es die, die bei einer der vielen Lebensmitteltafeln in unserem Land mithelfen – und da gibt es die, die für sich selber inzwischen auf diese Tafeln angewiesen sind.

Da gibt es die Sportlichen, die morgens beim Schwimmen sind und nachmittags beim Nordic-Walking – und da gibt es die auf Rundumpflege Angewiesenen, die keinen eigenen Schritt mehr gehen können, die sich in ihrer Verlassenheit über noch so kurzen Besuch so unendlich freuen würden.

Da gibt es die Citysenioren, mit Kinos, Kneipen und Konzerthäusern um die Ecke – und da gibt es die, die in manchen Dörfern und kleinen Orten kaum öffentlichen Nahverkehr haben, die kaum noch rauskommen. Keine Ärzte in der Nähe, kaum Kultureinrichtungen, öffentliche Bibliotheken oder Schwimmbäder – und dazu noch ein so langsames Internet, dass man auch dessen Bildungs- und Unterhaltungsmöglichkeiten nicht richtig nutzen kann.

Da gibt es die gut Vernetzten, die in Familie und Verein Gemeinschaft erleben und Gemeinschaft mit aufbauen – und da gibt es die, die keine Kinder und Enkel haben und deren Freunde längst nicht mehr leben. Schmerzlich erfahrene Einsamkeit – und das hat zugenommen – lässt viele nach dem Sinn des Lebens und Weiterlebens fragen.

Es gibt also große Unterschiede und getrennte Welten – bei den Alten wie in der Gesellschaft insgesamt. Deswegen ist "Brücken bauen", das Motto dieses 12. Deutschen Seniorentages, wirklich gut gewählt. Es passt zu dem, was wir dringend brauchen, es passt aber auch zum Wirken der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen, die immer wieder auf die Situation der alten Menschen in unserem Land hinweist und notwendiges politisches Handeln einfordert.

Der Brückenbau gehört übrigens zu den anspruchsvollsten Ingenieursleistungen. Beim Brückenbau gibt es keine halben Sachen: Entweder eine Brücke hält oder sie hält nicht. Fürs Brückenbauen braucht man also ganz sicher guten Willen – aber noch mehr Können.

Ich bin mir sicher, dass die vielen tausend Haupt- und Ehrenamtlichen, die vielen Engagierten in den Organisationen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren dieses Können besitzen. Ich bin überzeugt davon, dass unser Land in der Arbeit für und mit Senioren auf Sie bauen kann. Und ich will Ihnen allen heute meinen Respekt und meine große Anerkennung aussprechen. Haben Sie großen Dank für das, was Sie tun. Herzlichen Dank im Namen übrigens von Jung und Alt in Deutschland.

An welche Brücken aber denken wir bei dieser Überschrift? Zuerst sicher natürlich an die Brücken zwischen Alt und Jung. Der Austausch zwischen den Generationen ist für uns alle und in jeder Hinsicht wichtig. Er ist wichtig, damit nicht neben all den Echokammern, in denen Gleichgesinnte unter sich bleiben, auch noch eine größere Kluft zwischen Alt und Jung entsteht.

Der Austausch zwischen den Generationen geschieht zuerst in den Familien. Gerade weil man sich die Familienangehörigen nicht aussuchen kann, gerade weil hier so manche Zumutung erfahren wird, lernt man hier, Spannungen auszuhalten, Konflikte auszutragen, andere Lebenseinstellungen zu ertragen und vielleicht auch zu verstehen. Und natürlich erfährt man auch das Glück des Zusammenhaltens und des Reifens, wenn man – auch das haben viele erfahren – schwere Zeiten gemeinsam überstanden hat. Hier können Brücken gebaut werden, die ein Leben lang halten.

Wie wichtig und tragfähig sie sein können, sehen wir schon an der Tatsache, dass weit mehr als eine Million Pflegebedürftiger allein von Familienangehörigen gepflegt werden. Was hier an tätiger Nächstenliebe, an praktischer Solidarität geleistet wird, das können wir überhaupt nicht genug respektieren.

Brücken zwischen den Generationen können auch in Vereinen gebaut werden, in Chören und Orchestern – wo immer wieder um Nachwuchs geworben wird. In Dorf- und Kiezkneipen – wenn es sie denn noch gibt. In Sport- und Heimatvereinen, in Nachbarschaftsinitiativen und Quartiersprojekten. Es gibt tatsächlich unendlich viele Möglichkeiten der Begegnung und des Austausches, aber keine funktioniert automatisch: Jede muss intensiv gepflegt, erhalten und genutzt werden, um lebendig zu bleiben. Und es braucht fast überall die Hand derer, die vorangehen, die sich kümmern und andere mitziehen.

Beim Brückenbauen in der Gesellschaft geht es nicht nur um den Zusammenhalt von Alt und Jung. Gerade ältere Menschen sind heute auf vielen Feldern unterwegs. Und in ihrem Willen, die späten Jahre intensiv und sinnvoll zu leben, sind sie sehr oft im Einsatz für andere zu finden. Ein sinnvolles, immer noch neugieriges Leben, ein Leben, in dem man Resonanz erfährt auf sein Wort und seine Tat, so ein Leben ist auch ein gesünderes. Das zeigen alle entsprechenden Untersuchungen.

Die heutigen Senioren ziehen sich – wenn es irgendwie geht – nicht aufs Altenteil zurück, sie bringen sich ein: ob in der Hilfe für Flüchtlinge oder in der Hausaufgabenbetreuung, ob als freiwillige Betreuer im Sportverein, ob in Kunst- und Kulturvereinen, ob in Parteien, Gewerkschaften, ob in aktiven Nachbarschaften, ob in der Kirchengemeinde, ob in Geschichtswerkstätten. Kaum etwas davon ist heute denkbar ohne den aktiven Einsatz der Älteren, oft genug weit über den 75. Geburtstag hinaus. Sie bilden das Rückgrat der Ehrenamtlichen! Und was ich bei meinen vielen Begegnungen mit Ehrenamtlichen immer wieder sehe, das sind vor allen Dingen die aktiven Älteren, und deshalb möchte ich an dieser Stelle, auf diesem 12. Seniorentag, Ihnen auch dafür danken, dass Sie die Last des Ehrenamtes mehrheitlich tragen in dieser Gesellschaft.

Die heutigen Senioren, so kommt es mir manchmal vor, sind diejenige Gruppe der Gesellschaft, die man zum Brückenbauen am wenigsten auffordern muss. Brücken zu bauen scheint im Gegenteil für viele eine selbstverständliche Lebenshaltung zu sein, woran sich die Jüngeren ein Beispiel nehmen können.

Da habe ich jetzt natürlich von den Aktiven gesprochen. Aber keine noch so gesunde Lebensführung, keine noch so gute Medizin kann uns davor bewahren, dass das Alter auch Beschwerden und spezifische Lasten mit sich bringt. Irgendwann können wir uns nicht mehr um andere und nur wenig um uns selbst kümmern. Wir sind darauf angewiesen, dass andere die Brücken zu uns nicht abbrechen oder sie neu aufbauen.

Damit sind wir aber nicht mehr nur im privaten oder ehrenamtlichen Bereich. Die Notlagen, die das Alter unausweichlich mit sich bringt, sind eine Herausforderung für Staat und Gesellschaft. In unserem Sozialstaat ist die Politik verpflichtet, dafür zu sorgen, dass auch im Alter für alle ein würdiges Leben möglich ist.

Dazu gehört, dass es eine gerechte, ausreichende Rente gibt, die nicht nur ein Dach über dem Kopf und das tägliche Brot sichert, sondern auch Teilhabe am gesellschaftlichen Leben möglich macht!

Wir wissen, dass die heutige Rentnergeneration im Durchschnitt besser dasteht als frühere Rentnergenerationen. Experten warnen aber davor, dass in den nächsten Jahren und Jahrzehnten ein wesentlich größerer Teil der Rentner von Altersarmut betroffen sein wird, zum Beispiel aufgrund von unsteten Erwerbsbiographien. Armut im Alter ist eine besondere Belastung. Altersarmut ist eine Sackgasse, da dem Einzelnen mit zunehmendem Alter kaum noch ein Ausweg bleibt. Da muss dringend gegengesteuert werden. Deswegen ist es gut, dass die Bundesregierung dieses Problem erkannt hat und angehen will.

Wer sich selber nicht mehr helfen kann, ist auf Pflege angewiesen. Und es hilft kein Schönreden: Der aktuelle Zustand der Altenpflege bereitet Sorge. Es fehlen viele Pflegerinnen und Pfleger. Und die, die aufopferungsvoll arbeiten, sind oft heillos überfordert. Obwohl sie oft mit höchster Motivation in den Pflegeberuf gegangen sind, obwohl es ihr innerster Antrieb war, alten Menschen bis in die letzten Stunden, bis in den Tod hinein beizustehen, obwohl sie auch unter schwierigsten Umständen versucht haben, den alten Menschen mit Zuneigung und Wärme zu begegnen, haben viele irgendwann resigniert und den Beruf verlassen.

Darüber können und dürfen wir als Gesellschaft nicht einfach hinweggehen. Nicht nur, weil wir selber schon morgen auf Pflege angewiesen sein könnten. Ich meine es grundsätzlicher. Für Alten- wie auch für Krankenpflege gilt: Pflege ist Schwerstarbeit und gleichzeitig nur mit feinstem Fingerspitzengefühl möglich. Pflege ist harte körperliche und ganz sensible Seelenarbeit. Als Leib- und Seelsorge in einem braucht Pflege die bestmögliche Qualifikation. Pflege kann nicht billig sein – und sie darf nicht auf Kosten der Pflegekräfte billig gemacht werden.

Deshalb muss Pflege auf der politischen Agenda erste Priorität bekommen. Der Handlungsbedarf ist im Koalitionsvertrag ausführlich beschrieben. Jetzt muss dementsprechend gehandelt werden, vor allem im Hinblick auf neue Stellen, auf die Arbeitsbedingungen, die Ausbildung und die Bezahlung in der Alten- und Krankenpflege. Ich hoffe, dass das Wort Pflegenotstand nicht dauerhaft zum deutschen Sprachgebrauch gehören muss.

Klar, Wirtschaft und Technik sind überlebensnotwendig für unsere Volkswirtschaft. Die Zukunft des Landes hängt daran, und deshalb haben gewiss die Angehörigen der wissenschaftlichen und technischen Berufe Anerkennung verdient. Doch darüber dürfen wir den Menschen und das Zusammenleben in der Gesellschaft nicht vergessen: Es ist allerhöchste Zeit, dass die, die nicht an Maschinen und Autos arbeiten, die, die mit Menschen arbeiten, also die pflegenden Berufe, endlich die Wertschätzung bekommen, die sie verdienen. Und ich will meinen Beitrag dazu leisten.

Für ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben im Alter spielen Wohnung und Lebensumfeld eine zentrale Rolle. Es muss ausreichend bezahlbare und altersgerechte Wohnungen geben, in denen alte Menschen leben können. Ebenso wichtig ist, dass sie in einem Wohnumfeld zu Hause sein können, das ihren Bedürfnissen entspricht. Dazu gehört zum Beispiel eine Infrastruktur, die Ärzte erreichbar sein lässt, die Einrichtungen wie Läden, Post, Bürgerämter, aber auch Begegnungsstätten, Kneipen und Cafés nicht nur in unerreichbaren Entfernungen anbietet.

Wenn in manchen Gegenden, vor allem auf dem Land, die gesellschaftlichen Treffpunkte verschwinden, wenn die soziale Infrastruktur wegbricht, dann sind alte Menschen, die nicht wie die jungen dem bunten Leben hinterherziehen können, quasi doppelt verlassen. Aber auch in Städten besteht die Gefahr, dass durch nicht bezahlbare Mieten die Alten an den Rand gedrängt werden, wo sie sich unwohl und unsicher, vor allem aber ungerechterweise abgehängt fühlen.

Ich bin froh, dass zum Beispiel über mitalternde Wohnungen nachgedacht wird. Das ist ein Beispiel wie mit Kreativität und Phantasie neue Lösungen gesucht werden. Kreativität und Phantasie gehören auch zum generationengerechten Quartiersmanagement. Das Quartier, also das engere Lebensumfeld, muss tatsächlich im Fokus der Kommunalpolitik liegen. Hier entscheidet sich, wie lebensfreundlich wir alle wohnen können. Denn es geht nicht nur um spezielle Seniorenpolitik. Wo es zum Beispiel für die Alten zu teuer ist, da ist es auch für normalverdienende Familien mit Kindern nicht bezahlbar. Für ein gutes Quartiersmanagement, das übrigens erfahrungsgemäß auch freiwilliges Engagement hervorruft und fördert, müssen – ob in Stadt oder Land – die Entscheidungsspielräume der Kommunen und damit auch ihre finanziellen Möglichkeiten stark verbessert werden.

Dass unser Leben gelingt, dass es bis zum Ende würdevoll und erfüllt gelebt werden kann, das wünschen wir uns alle. In dem Lied "Father and Son", das Cat Stevens mit 21 Jahren geschrieben und 1970 veröffentlicht hat, will der rebellische Sohn seinem Vater sagen, dass er weggehen wird, um das Leben zu erleben. Der Vater, der um die Endlichkeit weiß und darüber gelassen geworden ist, sagt: "Look at me, I am old, but I'm happy." Möchten doch möglichst viele alte Menschen in unserem Land das zu jemandem sagen können. Vielen Dank!