Ansprache von Bundespräsident Johannes Rau

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I.

Herr Staatspräsident, einen besseren und einen schöneren Auftakt könnte Ihr Besuch in Deutschland nicht haben: Die "Silberhochzeit" zwischen Wuppertal und Beer Sheva und die Eröffnung einer Synagoge auf einem Grundstück, das eine Kirche zur Verfügung stellt. Ich finde beides ist ganz unglaublich, und ich freue mich von ganzem Herzen darüber, dass wir das miteinander feiern können.

Wer hätte denn geglaubt, dass unmittelbar nach der Shoah noch einmal enge und freundschaftliche Beziehungen zwischen Deutschland und dem Staat Israel, zwischen Deutschen und Israelis entstehen würden. Jüdisches Leben schien damals undenkbar in Deutschland. Und doch ist auf einem von Deutschen verwüsteten Feld wider alles Erwarten, wider aller Skepsis und Resignation neues Verstehen, ja Vertrauen und Freundschaft gewachsen. Für mich gehört das zu den beglückendsten Erfahrungen meines Lebens.

II.

Ich habe ein Bild vor Augen, das ist sicher 60 Jahre her. Als meine Schulfreunde und ich mit der Straßenbahn vom Alten Markt zur Winchenbachstraße fuhren, da stand auf dem Perron ein Mann, der hielt die Aktentasche gegen die Brust gepresst. Wir verstanden das nicht. Als er aber beim Aussteigen die Tasche in die Hand nahm, haben wir gesehen, dass er mit der Tasche vor der Brust den Judenstern verborgen hatte. Ein alter Mann hatte Angst vor Kindern. Dieses Bild werde ich nicht vergessen. Damals habe ich mir eine Zeit gewünscht, in der Menschen nie mehr Angst haben müssen wegen ihres Herkommens, wegen ihres Glaubens oder wegen ihrer Überzeugung.

Den Grundstock für die positive Entwicklung, die die deutsch-israelischen Beziehungen nahmen, haben Konrad Adenauer und David Ben Gurion gelegt, von dem der Satz stammt: "Wer nicht an Wunder glaubt, der ist kein Realist."

Die Freundschaft der beiden ist ein unauslöschliches Symbol für die stabile Partnerschaft geworden, wie sie zwischen den beiden Staaten jetzt entstanden ist. Und die zweite Begegnung zwischen Adenauer und Ben Gurion, öfter haben sie sich nie getroffen, fand statt, nachdem sie schon aus ihren Ämtern ausgeschieden waren: in der Dämmerung ihres Lebens gewissermaßen, in einem bescheidenen Holzhaus in der Negev-Wüste - das ist eines der bewegendsten Bilder der Nachkriegsgeschichte.

III.

Es ist die so genannte große Politik, die die Weichen stellt und den Rahmen für die Beziehungen zwischen den Völkern setzt. Aber ob sich dieser Rahmen mit Leben erfüllt, das hängt davon ab, ob sich Menschen begegnen und kennen lernen, ob es neben den diplomatischen Kontakten, neben der Zusammenarbeit der Regierungen Begegnungen zwischen ganz normalen Bürgen gibt, zwischen Jung und Alt. Heute ist das Netz persönlicher Begegnungen zwischen Israel und der Bundesrepublik Deutschland so dicht geknüpft wie mit keinem anderen Staat, auch mit keinem anderen europäischen Staat. Dabei spielen die Städte und Gemeinden in beiden Ländern eine besondere Rolle. Es gibt inzwischen fast 100 Städtepartnerschaften. Das muss uns beide, Herr Staatspräsident, als ehemalige Bürgermeister besonders freuen. Denn Sie waren jüngster Bürgermeister Israels, Sie haben das mit 24 Jahren geschafft, wofür ich das reife Alte von 38 Jahren brauchte, bis ich in dieser Stadt Oberbürgermeister sein durfte. Und ich denke noch gern daran, wie ich zum ersten Mal in Beer Sheva war. Das ist jetzt 40 Jahre her.

IV.

Abba Eban, der kürzlich verstorben ist, hat in seiner legendären Filmserie über das jüdische Erbe gesagt, es gebe praktisch keine Zivilisation, die nicht eine jüdische Komponente hat, so wie es keine jüdische Zivilisation gebe, die nicht ein Zeichen einer anderen Kultur in sich trägt. Über die deutsch-jüdische Geschichte, über ihre Widersprüche, ihre großen und ihre schrecklichen Momente, ist viel geschrieben worden, gerade auch über den Jahrhunderte währenden Beitrag von Juden in Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft, mit Berlin als Zentrum. Die jüdische Komponente in der deutschen Kultur und Zivilisation ist herausragend, und  wir  werden morgen und  übermorgen noch Gelegenheit haben, das miteinander zu erleben. Diese Spuren konnten auch durch zwölf Jahre Barbarei und Verbrechen nicht ausgelöscht werden.

Ich weiß, dass es manche Juden in Israel und in den Vereinigten Staaten nicht verstehen, dass es heute in Deutschland wieder jüdisches Leben gibt. Was das allerdings bedeutete, wenn es das nicht gäbe, das wäre für mich als Deutschen nicht akzeptabel. Denn gäbe es kein jüdisches Leben mehr in Deutschland, dann hätte Hitler tatsächlich einen dauerhaften Sieg davon getragen. Darum bin ich glücklich darüber, dass der israelische Staatspräsident und der deutsche Bundespräsident heute gemeinsam an der Einweihung der Synagoge in meiner Heimatstadt teilnehmen.

V.

Die deutsch-israelischen Beziehungen werden immer besondere Pflege brauchen, wie gut sie auch sein mögen. Deshalb halte ich den Jugendaustausch für so überaus wichtig. Die jungen Menschen von heute werden bestimmen, welchen Weg die deutsch-israelischen Beziehungen in der Zukunft nehmen werden. Vor wenigen Woche hatte ich 20 Jugendliche aus Israel zusammen mit ihren deutschen Gastgebern im Schloss Bellevue zu Gast. Mich hat diese Begegnung zuversichtlich gestimmt. Sie hatten mir begeistert von ihren Eindrücken erzählt, von ihrem Aufenthalt in Deutschland, vom Leben mit deutschen Familien. Solche Erfahrungen für junge Menschen kann es nie genug geben. Darum möchte ich alle Verantwortlichen besonders ermutigen, den Jugendaustausch noch stärker zu fördern. Es ist schlimm, dass als Folge des Nahostkonflikts auch der Jugendaustausch zurückgeht.

VI.

Und damit bin ich bei einem Thema, von dem ich mir wünschte, ich brauchte es nicht anzusprechen: die nicht enden wollende Gewalt in Israel und in Palästina. Wir alle wären glücklicher, wenn Friede herrschte, herrschen könnte, zwischen Palästinensern und Juden. Aber seit unserem letzten Treffen vor zwei Jahren, Herr Präsident, sind wieder Jahre schlimmer Gewalt ins Land gegangen. Und wenn wir Bilder, wie zuletzt aus Kenia oder wie von vorgestern aus Gaza sehen, dann ergreift uns Entsetzen. Wir fragen uns, was wird noch auf die Menschen bei Ihnen zukommen, was werden sie noch erdulden müssen? Als der jordanische König Abdullah II. im Oktober hier war, hat er gesagt, dass der Blick auf den Frieden durch einen hohen Berg verstellt werde, durch den erst wieder ein neuer Pfad geschlagen werden müsse. Kann uns das gelingen?

Ich bin trotz allem Schrecklichen, was geschehen ist, überzeugt davon, dass am Ende des Konfliktes zwei Staaten – Israel und Palästina – Seite an Seite als Nachbarn in sicheren und anerkannten Grenzen existieren werden. Für mich ist das die einzige realistische Chance, den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen.

Deutschland ist bereit, alle auf dem Weg dahin zu unterstützen. Was heute wie eine Utopie klingen mag, das kann morgen Realität sein. Ich erinnere uns Deutsche daran: Heute vor 15 Jahren haben die damaligen Präsidenten Ronald Reagan und Michael Gorbatschow den Vertrag über die weltweite Abschaffung aller nuklearen Mittelstreckenraketen unterzeichnet. Das war das erste echte Abrüstungsabkommen zwischen den beiden Staaten. Wer hätte damals, nach dem Beginn der Eiszeit zwischen West und Ost, die mit der sowjetischen Invasion in Afghanistan im Dezember 79 begann, nach der Ausrufung des Kriegsrechtes in Polen, nach dem Abbruch der sowjetisch-amerikanischen Abrüstungsverhandlungen, noch an diesen Schritt geglaubt?

VII.

Beer Sheva kann auf eine 6.000-jährige Geschichte zurückblicken. Das erste Buch Mose erzählt uns davon, wie Abraham dahin kam. Nach einem Streit um einen der wenigen Brunnen schloss Abraham mit dem kanaanitischen König Abimelech einen Vertrag. Und wir lesen dazu in der Genesis: "Daher heißt die Stätte Beer Sheva, weil sie beide miteinander da geschworen haben. Und so schlossen sie den Bund zu Beer Sheva."

Unsere Hoffnungen und auch die Gebete vieler begleiten Sie, Herr Präsident, und die Menschen in Israel und in den palästinensischen Gebieten, dass es gelingen wird, die Gewalt zu beenden und einen neuen Bund zu schließen. Nur ein gerechter Friede für Israel und seine Nachbarn vermag die so sehnlich erhoffte Sicherheit zu bringen.

Der Prophet Jesaja verwendet dafür ein Bild, das mich immer wieder beeindruckt. "Die Wüste und Einöde wird frohlocken, die Stätte wird jubeln und wird blühen wie die Lilie, denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Land."

Ich glaube es, nein, ich weiß es, die Menschen sehnen sich nach diesem Wasser des Friedens.