gemeinsamkeiten und bereicherungen der europaeischen kultur - ansprache des bundespraesidenten zur eroeffnung

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bundespraesident richard von weizsaecker hielt zur
eroeffnung der ausstellung "die manessische
liederhandschrift in zuerich" am 11. juni 1991 im schweizerischen
landesmuseum in zuerich folgende ansprache:

herr bundespraesident,
meine damen und herren!

zur siebenhundertjahrfeier der schweizerischen
eidgenossenschaft besucht die manessische liederhandschrift
ihre heimatstadt zuerich. das ist ein grund zur freude fuer uns
alle.
so legendenhaft ihr ursprung und ihr lebensweg auch sein
moegen, sie fuehrt uns doch immer wieder nach zuerich. ihr
selbst entnehmen wir, dass man nirgends so meisterlich den
gesang uebte und lieder zusammenzutragen wusste, wie
damals in zuerich und bei der familie manesse. es war
johann jakob bodmer mit seinem freund breitinger, der
der handschrift ihren namen gab.
gottfried keller verdanken wir mit der ersten seiner
zuericher novellen einen bericht ueber die entstehungsgeschichte,
der wahrhaft herrlich genug ist, um uns ueber jeden kummer
hinwegzutroesten, dass wir die lebensgeschichte der
liederhandschrift nicht mit letzter historisch wissenschaftlicher
genauigkeit klaeren koennen.
bei diesem grossen werk begegnen wir der kultur des
sorgfaeltigen sammelns und bewahrens als gegengewicht
zu den zerstreuenden und zerstoererischen maechten, die
immer in der geschichte am werk sind. wir haben es mit
einer unersetzlichen uebersicht an texten und mit einem
dichterischen und malerischen reichtum ohnegleichen zu
tun.
dass sich dies alles mit dem namen zuerich verbindet, das
lehrt uns die manessische liederhandschrift vom zeitpunkt
ihres entstehens bis heute zu dieser vorbildlich
entworfenen ausstellung. und das ist ein grund zur freude
und dankbarkeit weit ueber den ganzen deutschen
sprachraum hinaus.
denn die sammlung ist in vieler weise ein europaeisches
werk: die lieder und epen des hochmittelalters sind ohne
ihre wurzeln im suedfranzoesischen albi, ihre elsaessischen
muster und bretonischen vorlagen nicht denkbar. damals
wie heute gab es bedeutende gemeinsamkeiten in der
europaeischen kultur.
die entstehung der eidgenossenschaft faellt in eine zeit, in
der die kultur die kraft hatte, die lebensweise der
menschen zu praegen. gewiss ist die geschichte keines volkes,
auch nicht des schweizer volkes, eine einzige kette von
liebesliedern. aber an der geschichtlichen wiege ihres
volkes erklang vor allem der minnesang. er war damals das
vornehmste, am hoechsten geachtete lied. und die kunst des
liedes stand bei den dilettanten aller staende - vom kaiser
bis zum bauernsohn - in keinem geringeren ansehen als bei
den grossen dichtern selber.

so koennen wir sie zu ihrem wiegenfest mit seinen auspizien
also nur alle herzlich beglueckwuenschen.
die vom minnesang ausgehende ritterkultur breitete sich in
ganz europa aus. ihre kuenstlerische praegung bestimmte
auch die politische kultur der zeit. im glauben, in der
kunst und in der anerkennung ritterlicher tugenden lebte
das europaeische mittelalter in einer einheit jenseits der
grenzen von fuerstentuemern oder sprachbarrieren. das
weitverzweigte netz der handelsstrassen, auf denen die
kaufleute mit ihren waren auch als boten der kultur durch
europa reisten, bildete eine weitere wichtige klammer.
heute wird beinahe in jedem europaeischen staat ueber die
multikulturelle gesellschaft debattiert. in wachsendem
masse leben wir unter den unentrinnbaren bedingungen der
gemeinsamkeit im guten und im boesen. keine art von
wissenschaft und technik, von sicherheit und
telekommunikation, von energie und transport, von oekonomie
und oekologie respektiert noch staatliche grenzen.
dieser einigungszwang erzeugt aber auch den drang nach
selbstgewissheit und eigenstaendigkeit. je mehr wir den
migrationen und integrationen ausgesetzt sind, desto staerker
wird das beduerfnis nach einer heimat, die als solche
erkennbar und unterscheidbar bleibt und die ihre kraeftigen und
die menschen naehrenden wurzeln behaelt. oekumene soll nicht
zum synkretismus degenerieren. im saekularen bereich ist es
aehnlich.
so haben wir es heute in europa im vergleich zum
mittelalter sowohl leichter als auch schwerer. heute dehnt sich
die freiheit bald ueber ganz europa aus. noch ist die wirkung
ambivalent. alte nationalitaetenkonflikte und neue
wirtschaftliche ungleichgewichte beleben sich neu, sezessionen
werden geprobt, regionalparteien gewinnen an gewicht.
aber die einsicht in die unausweichlichen bedingungen der
lebensfaehigkeit und stabilitaet, anders gesagt: die nuechterne
erkenntnis der eigenen langfristigen interessen, wird sich
allmaehlich durchsetzen.
die kultur begleitet diesen prozess weniger dominant als
frueher und dadurch vielleicht hilfreicher.
bei uns in deutschland gab es vor der vereinigung eine
hoechst lehrreiche und schwierige diskussion, worauf sich
denn unser wunsch nach deutscher einheit gruende. da
wurde auch der begriff der kulturnation vorgeschlagen.
aber das konnte nicht sehr weit fuehren, denn wie haette man
eine deutsche kulturnation definieren sollen?
gewiss, die unterschiede zwischen den staaten, in denen die
deutsche sprache benutzt wird, etwa zwischen der schweiz
und deutschland, sind mannigfaltig genug in der geschichte
und politik, in der wirtschaft und sozialen struktur, im
selbstgefuehl und wohl auch im wechselseitigen bild
voneinander.
wir tun gut, auf traditionen und konturen zu achten und
die distanzen dort, wo sie bestehen, nicht lautstark zu
ueberspielen, sondern in ihren gruenden zu respektieren.
und dennoch, in der kultur, so vielgestaltig sie auch sein
mag, sind deutschland, die schweiz, liechtenstein und
oesterreich eng miteinander verbunden. die kulturbeziehungen
dieser laender untereinander sind internationale beziehungen
und innenverhaeltnis zugleich. von max frisch und
friedrich duerrenmatt haben wir deutschen in unserer
eigenen sprache aufklaerung ueber unsere zeit, ueber uns selbst,
ueber das, was uns auch als deutsche umtreibt, erhalten. die
stimmen von thomas bernhard und peter handke gehoeren
ebenfalls dazu.
nicht anders steht es, wenn wir weiter zurueck in die
vergangenheit gehen und an musil und hofmannsthal, an kafka
oder gar an gottfried keller denken, um nur die
allerbekanntesten zu nennen.
so ist natuerlich auch die kultur in deutschland nicht etwa
die deutsche kultur, sondern auch sie ist ein teil dieser
groesseren kulturellen zusammengehoerigkeit. es gibt keine
deutschsprachige kultur, die einer nation alleine gehoert.
hinzu kommen die nachbarlichen einfluesse dieses unseres
kulturkreises.
dass er an seinen geographischen raendern mit dem
franzoesischen, italienischen und raetoromanischen, mit dem
flaemischen, daenischen, polnischen, tschechischen und
slowakischen, ungarischen, rumaenischen und russischen
sich beruehrt, ist an sich eine bereicherung fuer alle.
die zeit, da man die kultur als machtmittel instrumentell
missbrauchen oder sich unter berufung auch auf sie gegen
andere abgrenzen konnte und wollte, ist ueberwunden. wir
sind frei, den begriff der staatszugehoerigkeit von dem der
kultur zu trennen und damit im kulturbereich aengste zu
beseitigen und schranken aufzuheben, die stets nur kuenstlich
waren und die uns auch nicht im politischen zusammenhang
weiterhalfen.
johann peter hebel - ist er ein schweizer oder ist er ein
deutscher? spielt der geburtsort oder der geburtsschein
ueberhaupt eine rolle? ja und nein. die menschen beider
nationen, die schweizer und die deutschen, verstehen
und lieben ihn, und so gehoert er natuerlich beiden nationen
an.
solche gemeinsamkeiten werden uns gewiss nicht sorgenvoll
stimmen, zumal wir den gedanken der einheit nicht
zu ueberanstrengen brauchen. einheit in der vielfalt und
vielfalt in der einheit ist das eigenartige europas im
allgemeinen und des deutschen sprachraums im besonderen.
die manessische liederhandschrift ist ein beglueckendes
zeugnis der gemeinsamkeit der kultur, die ich meine.
walther von der vogelweide ist in der naehe von bozen
geboren, hadlaub ist ein zuercher, herr reinmar ein
oesterreicher, ulrich von liechtenstein traegt seine herkunft
im namen, und wolfram von eschenbach haette, wenn er heute
lebte, seinen wohnsitz in deutschland.
was wollen solche zuordnungen sagen? die manessische
liederhandschrift ist - das macht diese schoene ausstellung
besonders deutlich - einerseits ganz und gar ein zuercher
buch. und doch umgrenzt es zugleich ein geistiges land, in
dem wir alle wurzeln. kein teil ist berechtigt, sich die
herrschaft ueber dieses land anzumassen. aber wir alle
duerfen uns dieser gemeinsamkeit von herzen erfreuen.
daher mein dank und glueckwunsch zu dieser ausstellung
und unsere herzliche gratulation zur
siebenhundertjahrfeier.