die kultur als quelle der einen deutschen nation - rede von bundesminister frau dr. Wilms in muenchen

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der bundesminister fuer innerdeutsche beziehungen, frau
dr. dorothee wilms, hielt zur eroeffnung der
vortragsreihe "die deutsche teilung" an der ludwig-maximilians-
universitaet am 15. november 1988 in muenchen folgende
rede:

ich freue mich, heute abend hier in muenchen zu ihnen ueber
ein thema sprechen zu koennen, das dem spiritus loci wahrhaft
angemessen ist. denn in dieser stadt ist die tradition
von jahrhunderten lebendig, in denen sie sich zu einer der
grossen kulturmetropolen deutschlands ausgebildet hat.
und das thema, um das es geht, verbindet den blick auf die
tradition mit einer politischen frage, die nicht weniger alt
ist und die doch heute wieder zu den bedraengenden fragen
unserer gegenwart und zukunft gehoert.
bedeutung und wirkung der kultur sind in deutschland -
spaetestens seit der zweiten haelfte des 18. jahrhunderts -
niemals auf den bereich der kultur im engeren sinne
beschraenkt geblieben, sie wurden und werden durch das
fruchtbare spannungsverhaeltnis zur politik mitbestimmt. die
deutschen sind sich ihrer nationalen existenz zunaechst ueber
die kultur bewusst geworden, sie knuepfen an diese
historische gemeinsamkeit das politische ziel ihres
zusammenlebens in freiheit und einheit. dieses ziel ist uns
auch heute aufgegeben.
die bedeutung der kultur in deutschland geht darum nicht
allein den historiker oder kulturwissenschaftler an, gefragt
ist auch nach der antwort des politikers.
"was haben wir denn gemeinsam als unsere sprache und
literatur?" so fragten sechs jahre nach der gescheiterten
1848er revolution die brueder grimm in der einleitung des
"deutschen woerterbuches". "wer sollte die einheit
deutschlands gewaehrleisten und darstellen, wenn nicht ein
unabhaengiger schriftsteller, dessen wahre heimat die von
besatzungstruppen unberuehrte deutsche sprache ist?"
fragte thomas mann in seiner goethe-gedenkrede 1949.
"einzig die dichter haetten (. . .) die deutsche sprache als
letztes band geknuepft", heisst es bei guenter grass in einem
roman unserer tage.
die frage, die in diesen zitaten anklingt, lautet: erwaechst
aus der kultur weiterhin die einheit der deutschen nation?
und wenn es so sein sollte: was bedeutet dies fuer unsere
politische gegenwart im geteilten deutschland, und welche
perspektiven ergeben sich daraus fuer unsere zukunft?
das ist nicht nur eine akademische frage, sondern zugleich
eine eminent politische. man erkennt das unmittelbar, wenn
man die wiedererwachte diskussion ueber die deutsche
frage in den letzten jahren beobachtet, in deutschland,
aber auch im ausland.
im naechsten jahr werden wir das 40jaehrige bestehen der
bundesrepublik deutschland begehen, die durchsetzung
einer demokratischen ordnung der freiheit und des rechtes
- jedoch nur fuer den westlichen teil unseres vaterlands.
40 jahre bundesrepublik deutschland bedeuten zugleich
40 jahre staatlicher teilung, 40 jahre, in denen es leider
nicht gelungen ist, die einheit und freiheit deutschlands zu
vollenden. es sind aber ebenso 40 jahre, in denen das
bewusstsein von der einheit und zusammengehoerigkeit der
deutschen lebendig geblieben ist.
erlauben sie, dass ich meinen ausfuehrungen zwei thesen
zugrunde lege.

erstens: die kulturelle einheit der deutschen nation ist
ungebrochen. sprache und literatur, geschichte und
kulturelles erbe, lebensweise und grundeinstellungen geben
davon zeugnis. das bewusstsein dieser gemeinsamkeit
nimmt zu.
hieran moechte ich gleich eine aktuelle bemerkung knuepfen:
diese gemeinsamkeit verpflichtet. sie verpflichtet uns im
westen deutschlands zur solidarischen hilfe gegenueber
den landsleuten, die an den folgen des von uns verschuldeten
krieges laenger und schwerer als wir zu tragen haben.
das gilt fuer die deutschen in der ddr, es gilt aber unter
anderem auch fuer die deutschen, die als aussiedler aus
ost- und suedosteuropa zu uns kommen. im bewusstsein
dieser verantwortung hat bundeskanzler kohl so bei
seinem besuch in moskau auf unser ziel der
selbstbestimmung aller deutschen wieder nachdruecklich
hingewiesen.
zweitens: zu den tragenden geistigen grundlagen der
europaeischen kultur gehoeren freiheit, rechtsstaatlichkeit
und selbstbestimmung. deutschland hat zu der
ausgestaltung dieser grundlagen wesentliches beigetragen. die
deutsche kulturnation kann daher fuer uns nicht ende und
abschluss politischen wollens und handelns sein, solange
freiheit und menschenrechte, selbstbestimmung und
einheit noch nicht fuer alle deutschen realitaet sind.
die kulturnation ist eine grundlage unseres willens zur
politischen einheit in freiheit. es bleibt unser ziel, die
deutsche einheit in einer europaeischen friedensordnung
wiederzuerlangen, wie es die briefe zur deutschen einheit vom
anfang der siebziger jahre formulieren. das ist kein
rueckwaerts gewandter nationalismus, sondern europaeische
freiheits- und friedenspolitik.
generalsekretaer gorbatschow hat vor kurzem erklaert, die
wahl seines politischen systems muesse jedem volk in
europa selbst ueberlassen bleiben. gut, aber die
konsequenz dieses satzes ist fuer das ganze deutsche volk erst
noch zu ziehen. die selbstbestimmung fuer die deutschen
wie fuer andere europaeische voelker wird im gemeinsamen
interesse auch tatsaechlich realisiert werden muessen, wenn
das "sogenannte europaeische haus", von dem
gorbatschow spricht, wenn eine stabile europaeische friedens-
und freiheitsordnung zustande kommen soll. an diesem
ziel halten wir fest.
i.
ich kann hier nicht in eine erschoepfende diskussion der
frage "was ist kultur?" eintreten, moechte aber doch
wenigstens knapp erlaeutern, was ich meine, wenn ich von
kultur spreche.
mir scheint, das eigentuemliche einer "kulturnation" laesst
sich nicht erfassen, wenn man einen engen begriff von kultur
- ausschliesslich als inbegriff hoeherer geistiger taetigkeit
wie kunst und wissenschaft - zugrunde legt. bei goethe finde
ich eine treffende definition: "alles, was der mensch treibt,
kultiviert ihn", schreibt er, und er fasst damit kuenste und
wissenschaften, philosophie und geschichte, religion
und moral, lebensgewohnheiten, handel, wirtschaft und
gewerbe, alles, wie gesagt, was der mensch treibt, als
ausdruck und als wirkungsbereich menschlicher kultureller
entwicklung auf.
aehnlich umfassend versteht jacob burckhardt den begriff,
kultur ist fuer ihn "der inbegriff alles dessen, was zur
foerderung des materiellen und als ausdruck des geistig-
sittlichen lebens spontan zustandegekommen ist, alle
geselligkeit, alle techniken, kuenste, dichtungen und
wissenschaften".
ein solch umfassendes kulturverstaendnis legen ja auch wir
oft unreflektiert in unserer alltagssprache zugrunde, wenn
wir teilbereiche sprachlich aussondern und von wohnkultur
oder esskultur, von alltagskultur, von politischer kultur
oder meinethalben auch von "kultur des politischen streits"
sprechen.
indem ich diesen umfassenden begriff aufnehme, verzichte
ich auf die unterscheidung von kultur und zivilisation, die
mir in der tat schwierig erscheint. denn das streben nach
vervollkommnung und verfeinerung ist meines erachtens
nicht nur bei der ausbildung des geistigen, sondern auch
bei der ausformung des materiellen lebens wirksam.
kultur entwickelt sich im miteinander der menschen, in
gesellschaftlichen verstaendigungsprozessen. ihre inhalte
bestimmen sich aus den in den gesellschaften wirkenden
geistigen und ethischen kraeften, ihr medium ist die
kommunikation. wesentliche grundlagen einer kultur sind
somit gemeinsame sprache und gemeinsame tradition, das
heisst, gemeinsame bejahung bestimmter, in einer
gesellschaft weitergegebener normen und gemeinsame
historische erinnerungen.
daraus ergibt sich zweierlei:

erstens: der sprachgemeinschaft kommt bei der ausbildung
kultureller gemeinschaft besondere - wenn auch nicht
ausschliessliche - bedeutung zu. sprache ist nicht blosses
kommunikationsinstrument. sie ist vor allem auch das
system von begriffen und kategorien, in denen wir die
wirklichkeit erfassen.

zweitens: da kultur an gesellschaft gebunden ist, gibt es
kulturelle eigentuemlichkeiten in jeder existierenden
gesellschaft. das gilt fuer sozial beschreibbare bereiche,
wie in der geschichte z. b. die gelehrtenwelt des humanismus
oder die hoefisch-ritterliche kultur des hochmittelalters.
heute sehen wir vergleichbare zusammenhaenge in den sozialen
comments von diplomaten, wissenschaftlern oder
wirtschaftsmanagern oder in typischen verhaltensweisen von
jugendlichen. die menge der modernen
kommunikationsmoeglichkeiten vervielfacht und erweitert die
sozialen bezuege, in denen der einzelne lebt, "der moderne
mensch", so sagt georg simmel, "lebt nicht in einem kulturkreis,
sondern jeweils im schnittpunkt einer reihe von
kulturkreisen."
es gilt ebenso fuer geographisch begrenzte bereiche -
man denke an regionalkulturen innerhalb einer
sprachgemeinschaft, aber auch an die grossen kulturkreise,
die die sprachgemeinschaften ueberwoelben wie der unsere, der
abendlaendische. keine der europaeischen nationalkulturen
ist allein aus sich selbst verstaendlich. vielmehr bilden sie
einen zusammenhang, in dem gemeinsam uebernommenes
mehr oder weniger auf jeweils spezifische weise ausgestaltet
wird. romanik und gotik, reformation und aufklaerung,
klassik und romantik sind gesamteuropaeische
phaenomene, die in jeder nationalen kultur eigentuemliche,
charakteristische formen und zuege gefunden haben.
ii.
der begriff der kulturnation wird haeufig im kontrast zur
politischen nation oder staatsnation gebraucht, unbewusst
oder bewusst auch als politisches streitinstrument. die
staatsnation kann man verstehen als willensgemeinschaft
nach dem prinzip kollektiver selbstbestimmung. ernest
renan hat dies 1882 zugespitzt folgendermassen formuliert:
"l'existence d'une nation est un plebiscite de tous les jours."
es versteht sich, dass dieser nationbegriff in einem land
entstanden ist, in dem die einheit des volkes und die einheit
des territoriums nicht mehr in zweifel standen. als 1789 die
versammlung des dritten standes sich zur nationalversammlung
erklaerte, war die franzoesische staatsnation durch
die erfolgreiche einigungspolitik der franzoesischen koenige
und durch die kulturelle ausstrahlungskraft des pariser
hofes laengst tatsaechlich vorhanden.
demgegenueber vollzog sich in deutschland zur gleichen
zeit die staatliche modernisierung in den einzelnen
territorialstaaten, waehrend idee und politische realitaet des
reiches weit auseinanderklafften. das bewusstsein nationaler
gemeinsamkeit knuepfte an das gegebene an: an die
gemeinsamkeit der herkunft, sprache, gewohnheit und
geschichte.
worauf ende des 18./anfang des 19. jahrhunderts die
historiker und sprachwissenschaftler stiessen, war die
eigengesetzlichkeit nationaler kulturen, die sich nach
jeweils eigenen inhaerenten anlagen entwickelten und
insofern als historische individualitaeten verstehbar waren.
herder war der wichtigste unter denen, die diese entdeckung
machten, aber sie lag gewissermassen in der luft - man
denke an montesquieus "geist der gesetze" und an
voltaires versuch einer kulturgeschichte der voelker.
man kann die bedeutung dieser entdeckung fuer die
entfaltung des geistigen und wissenschaftlichen lebens, fuer
die dichtung der romantik und fuer die geisteswissenschaften
kaum ueberschaetzen. aus der rueckschau sehen wir
allerdings noch klarer, welch gefaehrliches potential zugleich
in dieser lehre beschlossen lag. nicht, solange der
"volksgeist" als stimme in einem gottgewollten chor der
menschheit verstanden wurde, wohl aber in dem augenblick,
in dem die eigene nationale individualitaet aus dem
kulturzusammenhang gerissen und mit dem vorzeichen des
hoeheren wertes verabsolutiert wurde.
keine der grossen europaeischen nationen hat dieser
versuchung ganz widerstehen koennen, wie die geschichte des
imperialismus zeigt. am schlimmsten und folgenreichsten
geschah dies in deutschland, wo diese ueberhebung
schliesslich durch die politik hitlers ins entsetzliche
pervertiert wurde und als programm eines nicht mehr national
sondern rassisch begruendeten "reiches" eine neue
diabolische qualitaet annahm. wir haben allen anlass, uns
gerade in diesen tagen an die furchtbaren judenpogrome vor
50 jahren in deutschland mit scham und trauer zu erinnern.
die entdeckung des zusammenhanges von kultur und volk
in der zweiten haelfte des 18. jahrhunderts, zusammen mit
der im 19. jahrhundert aufkommenden erinnerung an "kaiser
und reich" des mittelalters, fuehrte mit innerer
folgerichtigkeit zu dem verlangen auch nach einer engeren
politischen gemeinsamkeit. der grosse katalysator bei diesem
prozess war die franzoesische revolution und der aufstand
europas gegen die armeen napoleons. einheit und freiheit
wurden das ziel der deutschen nationalbewegung. wilhelm
von humboldt schrieb im dezember 1813:

"deutschland muss frei und stark sein, um das (. . .)
notwendige selbstgefuehl zu naehren, seiner
nationalentwicklung ruhig und ungestoert nachzugehen und die
wohltaetige stelle, die es in der mitte der europaeischen
nationen fuer dieselben einnimmt, dauernd behaupten zu koennen.

wie die form dieser einheit aussehen koenne - staatenbund
oder bundesstaat, mehr zentralistisch oder mehr foederativ,
mit einer fuehrungsmacht oder dualistisch oder gar
dreikoepfig, vielleicht in form engerer und weiterer buende -,
das war die deutsche frage im folgenden halben jahrhundert.
sie schloss die frage ein, welche loesung unter den
aussenpolitischen rahmenbedingungen und unter wahrung des
europaeischen gleichgewichts erreichbar und stabil war. das
ergebnis war bekanntlich ein nach langen und schweren
auseinandersetzungen gefundener kompromiss: der
kleindeutsche bundesstaat.
unumstritten war aber seit beginn des 19. jahrhunderts in
der deutschen nationalbewegung die doppelte ziel
setzung: es ging zugleich um "einigkeit und recht und
freiheit".
die bundesrepublik deutschland hat sich, auch in der wahl
ihrer staatssymbole, in diese tradition gestellt, die
praeambel des grundgesetzes verbindet das bewusstsein der
kulturell begruendeten nationalen zusammengehoerigkeit mit
dem ziel der freien, rechtsstaatlichen und politisch geeinten
ganzen nation. sie atmet den geist der paulskirche.
iii.
fragt man nach der heutigen kulturellen einheit der
deutschen, so findet man, dass der stolz auf den wiederaufbau
nach dem krieg das identitaetsbewusstsein vieler deutscher
bestimmt hat - mit abstufungen und zeitlichen
phasenverschiebungen in beiden staaten in deutschland. dies
geschah in demselben masse, in dem ein historisch
begruendetes politisches selbstverstaendnis angesichts der
deutschen katastrophe problematisch geworden war.
seit den siebziger jahren gibt es deutliche zeichen einer
gegenorientierung. die deutschen in der bundesrepublik
deutschland beziehen, wie umfragen zeigen, ihr
identitaetsbewusstsein zunehmend aus dem stolz auf die
erreichte politische und verfassungsrechtliche ordnung, der
verfassungsstaat tritt als integrierendes identitaetsobjekt in
den vordergrund. zugleich aber zeigt eine fuelle von indizien -
etwa der starke besuch historischer ausstellungen oder die
grosse zahl historischer bestseller auf dem buechermarkt -,
dass viele menschen in unserem land auf der suche nach
der verlorenen geschichte sind, dass sie die antwort auf die
frage, wer "wir" sind, auch wieder in der geschichte
suchen.
das ist nicht nur nostalgie und suche nach geborgenheit
angesichts eines weltweit sich beschleunigenden
modernisierungsprozesses, obwohl auch dies dabei eine rolle
spielt. die wiederentdeckung der geschichte ist zweifellos
auch eine reaktion auf ihre abwertung im politischen
bewusstsein in den zurueckliegenden jahrzehnten. und dies
bedeutet zugleich den versuch, ein historisch-politisches
selbstverstaendnis zu finden, das unsere geschichte nicht
nur als vorgeschichte der katastrophe von 1933 bis 1945
versteht.
dies ist verstaendlich und richtig. die ns-diktatur war die
moralische und politische katastrophe deutschlands, aber
nicht die ganze deutsche geschichte war moralisch und
politisch katastrophal. das bedeutet keine verharmlosung
des nationalsozialismus und keine verdraengung seiner
verbrechen. wenn wir deutschen das wort "wir" gebrauchen,
dann meinen wir damit das volk kants und goethes, bachs
und duerers, marx' und plancks und eben auch hitlers.
davon kommen wir nicht weg - wir koennen und duerfen es
nicht einmal versuchen. aber in dieser beschaemenden
epoche erschoepft sich nicht unsere geschichte. darum
duerfen wir unsere selbstvergewisserung auch in den
geschichtsbuechern suchen, ohne dass wir dabei irgendein
kapitel ueberschlagen sollten!
die bundesregierung haelt es fuer eine wichtige politische
aufgabe, massnahmen zu foerdern, die dem gewachsenen
beduerfnis nach historischer information und reflexion
entsprechen. als beitrag zum 750jaehrigen stadt-jubilaeum
errichtet sie z. b. in berlin das deutsche historische
museum. dieses museum wird die deutsche geschichte in
ihrem gesamtzusammenhang, in ihrer europaeischen
einbindung und in der vielfalt ihrer aspekte praesentieren.
dazu gehoert selbstverstaendlich auch der historisch-kulturelle
beitrag ostdeutschlands zur deutschen geschichte.
mit ostdeutschland verbindet sich die erinnerung an
bedeutende historische ereignisse und gestalten - von kant
bis eichendorff. mit deutschen siedlungsgebieten im osten
verknuepft sich das wissen um eine jahrhundertelange
fruchtbare nachbarschaft mit den nationalen kulturen der
polen, der tschechen und slowaken und anderer voelker,
die erst in unserem, sich so fortschrittlich duenkendem
jahrhundert zerbrach und sich in feindschaft verwandelte.
es ist wichtig, gerade der nachwachsenden generation
kulturelle zusammenhaenge der deutschen und
ostmitteleuropaeischen geschichte bewusstzumachen. vieles,
was auch mein ministerium an historischer, zeithistorischer,
rechtlicher und kulturgeschichtlicher informationsarbeit zur
deutschen frage foerdert, hat zur ostdeutschen kultur und
auch zur mitteldeutschen kultur einen engen bezug.
es versteht sich von selbst, sei aber auch hier noch einmal
betont, dass solche unternehmungen wie das deutsche
historische museum oder das haus der geschichte der
bundesrepublik deutschland in bonn nicht dazu dienen, ein
geschlossenes geschichtsbild gewissermassen amtlich zu
verordnen. das waere ein absurder gedanke, es
widerspraeche fundamental unserem verstaendnis von freier
und pluraler wissenschaft.
ich halte es fuer eine bemerkenswerte und kennzeichnende
tatsache, dass sich die neue hinwendung zur geschichte in
deutschland zu beiden seiten der innerdeutschen grenze
vollzieht. in der ddr hat in den letzten zehn jahren die von
der sed gelenkte und kontrollierte geschichtsschreibung
auch "vertreter von ausbeuterklassen" als traeger des
historischen fortschritts entdeckt: unsere mittelalterlichen
kaiser und koenige, aber auch luther, august der starke und
der grosse kurfuerst, friedrich der grosse und bismarck wurden
positiv gewuerdigt.
das ist kein ausfluss neuer historischer erkenntnisse der
sed, sondern das ergebnis der tatsache, dass die fruehere,
sehr viel enger und oft ideologisch wertende
geschichtsschreibung in der ddr bei den menschen dort nicht
das erhoffte echo gefunden hatte. die deutschen werden eben
auch im anderen teil deutschlands, wenn sie historische
bezugspunkte suchen, weniger von der kommunistischen
parteigeschichte und ihren einzelnen vertretern als von
der deutschen geschiche insgesamt angezogen.
die sed selbst allerdings versteht diese neue hinwendung
zur deutschen geschichte als abgrenzend im verhaeltnis
zur bundesrepublik deutschland, als identitaetsbildend fuer
die ddr. in der ddr sei eine sozialistische nation
deutscher nationalitaet - so fein sind dort die
sprachlichen nuancen - im entstehen begriffen. sie teile mit
der "kapitalistischen nation der brd" zwar gewisse ethnische
gemeinsamkeiten, sei aber durch die gegensaetzliche
sozial- und wirtschaftsordnung konstitutiv von ihr verschieden.
nebenbei sei gesagt: das ist nicht in der tradition der
kommunistischen nation-lehre gedacht, ueber korea spricht
man bekanntlich ganz anders!
es gibt auch aussagen von generalsekretaer honecker und
anderen sed-repraesentanten, die die langfristperspektive
eines kommunistischen gesamtdeutschland aufzeigen oder
einschliessen, dieses ziel ist nicht tot, auch wenn es aus
der verfassung der ddr verschwunden ist und zur zeit nicht
mehr propagiert wird. derzeit wird behauptet, dass die
deutsche nation zerfallen oder im zerfall begriffen sei.
die gemeinsamkeit der geschichte spreche auch nicht
dagegen, denn gegensaetzlich, weil klassenbedingt, sei die
art, die geschichte aufzunehmen und zu bewerten, sie als
"tradition", als verpflichtend fuer die gegenwart, aufzufassen
oder als blosses "erbe" nur zur kenntnis zu nehmen. nach
wie vor wird also von der sed dekretiert, was als "tradition"
gelten soll und wie der historische fortschritt zum
sozialismus/kommunismus sich gesetzmaessig zu vollziehen hat.
mit ihrer "zwei-nationen-theorie" steht allerdings die sed
allein, auch im eigenen buendnis. selbst generalsekretaer
gorbatschow spricht von "den deutschen" insgesamt,
beispielsweise in seinem sehr sorgfaeltig formulierten
"spiegel"-interview vor der moskau-reise des bundeskanzlers.
das abgrenzende geschichtsverhaeltnis der sed wird
keinen erfolg haben koennen. wer goethe, schiller, lessing,
kleist, fontane, rauch und schinkel, luther und bach, kant
und hegel zu seiner eigenen geistigen ahnenreihe zaehlen
will, der wird den menschen kaum erklaeren koennen, warum
die deutschen im anderen teil deutschlands, die an dasselbe
geistige erbe anknuepfen, fuer sie auslaender sein sollen.
- ergaenzend sei hier erwaehnt, dass die ddr bekanntlich zwei
"staatsbuergerschaften" fixiert hat, waehrend wir an einer
deutschen staatsangehoerigkeit fuer alle deutschen gemaess
dem grundgesetz festhaltenue -
wer die alten deutschen kulturregionen mecklenburg und
pommern, brandenburg, sachsen und thueringen unter den
neuen verwaltungseinheiten wiederentdeckt, wie es jetzt
geschieht, der hat muehe, begreiflich zu machen, warum der
harz oder das eichsfeld oder der mecklenburgisch-holsteinische
raum kraft historischen gesetzes voneinander
getrennt bleiben muessen.
und mehr noch: wer humboldt und luther feiert, desavouiert
sich selbst, wenn er das geistige leben "parteilich"
anleiten will und christen im taeglichen leben benachteiligt.
wer die traditionen deutscher geschichte in anspruch
nimmt, der muss sich auch ihremanspruch stellenue
und wer die deutsche geschichte als eigene vorgeschichte
betrachtet, stoesst unvermeidlich auf die historisch
gewachsene einheit der nation!
iv.
auf diese einheit stoesst auch, wer sprache und literatur
betrachtet. es hat in den letzten jahrzehnten immer wieder
vergleichende untersuchungen zur deutschen sprache
gegeben. ihr ergebnis war in der hauptsache: die deutsche
sprache ist durch die innerdeutsche grenze nicht
beschaedigt worden. der wichtigste grund dafuer ist, dass die
sprachliche kommunikation ueber diese grenze hinweg nie ganz
unterbrochen war. die meisten neologismen, soweit sie
ueberhaupt in der alltagssprache ueberleben, kommen vom
westen. oft sind es amerikanismen oder ausdruecke der
jugendsprache. sie lassen sich weder von der grenze noch
von gelegentlichen sprachreinigungskampagnen in der
ddr aufhalten.
die ddr-spezifischen neubildungen, die in die alltagssprache
eingang gefunden haben, sind dagegen vergleichsweise
wenig, der broiler (das brathaehnchen) und die datsche
(die laube am stadtrand) gehoeren dazu. natuerlich gibt es in
beiden staaten, vor allem in der ddr,
gesellschaftsspezifische dinge, fuer die auch
ein spezifischer name - oder noch
besser eine abkuerzung - gebraucht wird. trabbi, lpg und
stasi sind nun einmal durch den willen der partei vorhanden
und muessen, auch umgangssprachlich, bezeichnet werden.
ansonsten aber gilt von der deutschen sprache auch
weiterhin, was bisher galt: es gibt regionale dialekte und
besonderheiten, die zum teil sehr stark sind - ein bayer und ein
friese haben es, wenn sie heimischen dialekt sprechen, mit
sicherheit schwerer, sich zu verstaendigen, als zum beispiel
ich, eine rheinlaenderin, im gespraech mit einem berliner -,
aber darueber oder daneben gibt es eine gemeinsame
hochsprache. an broilern und datschen zerbricht nicht die
deutsche spracheinheit, - sie zerbricht ja auch nicht an
semmeln, wecken und schrippen. und was die kunstpflanzen
sozialistischer partei- und verwaltungssprache angeht, so
ist ihnen wenig dauer beschieden, sobald ihnen das
schuetzende dach der staatlichen sprachreglementierung fehlt.
auch in der modernen deutschen literatur ist auf die dauer
- trotz der unterschiedlichen sozialen umgebung, die sie
jeweils zu verarbeiten hat - das gemeinsame staerker
spuerbar als das trennende. der parteiliche schriftsteller,
der die sozialistische nationalkultur schafft, hat sich nicht
als praegend durchgesetzt. der geist weht nicht da, wo die
partei es beschlossen hat, der geist weht, wo er will.
die literatur ist der empfindlichste, auf veraenderung
allgemeiner rahmenbedingungen und stimmungslagen am
feinsten reagierende seismograph der oeffentlichkeit. sie
ist damit vorreiterin eines gesellschaftlichen
selbstverstaendnisses. besonders in der ddr ist sie zudem auch
immer aesthetisches medium zur verarbeitung gesellschaftlicher
mangelerfahrungen und instrument des dialogs ueber die
probleme und konflikte, die es in der staatlichen
oeffentlichkeit der ddr nicht geben darf.
ist die literatur damit so, wie sie in der ddr und in der
bundesrepublik deutschland geschrieben wird, in ihrer
thematik und ihrer wirkung nicht gerade auch da politisch,
naemlich aehnlichkeiten oder gemeinsamkeiten offenbarend,
wo sie ganz individuell, scheinbar privat ist?
interessant ist es in diesem zusammenhang auch, dass die
deutsche frage erneut zum literarischen sujet avanciert.
stefan heym, peter schneider, martin walser, botho
strauss, bernd jentzsch, einar schleef, um nur einige zu
nennen, sind nicht bereit, die teilung deutschlands wie
ein naturgesetz zu akzeptieren. als "identitaetssucher"
(botho strauss) leiden sie an der teilung.
martin walser hat vor wenigen wochen hier in muenchen
eine "rede ueber das eigene land" gehalten. manchem, was
er da ausfuehrt, kann ich nicht zustimmen. aber er spricht
eine fundamentale wahrheit aus, wenn er sagt: "jetzt
kommt es darauf an, dass die teilung in unserer empfindung
keine zukunftswuerdigkeit hat." und ich stimme ihm ebenfalls
zu, wenn er vor einer "abfindungsform kulturnation" warnt.
man kann insgesamt erfreulicherweise feststellen, dass die
deutsche zweistaatlichkeit das kulturleben im engeren
wortsinne - also literatur, musik, bildende kuenste - nur
zum teil beeinflusst. die unterschiedlichen
entwicklungstendenzen sind in den letzten jahren eher geringer
geworden. die eigenstaendigen momente im kulturleben beider
staaten haben bewirkt, dass man sich beiderseits des
gemeinsamen erbes wieder bewusster wird.
die starke rezeption von ddr-autoren und das
gewachsene leseinteresse an ddr-belletristik und
alltagsgeschichten hier bei uns ist auffallend. in der
grenzueberschreitenden literaturrezeption in deutschland zeigt
sich, wie guenter grass betont, "ein verstaendnis deutscher
identitaet". autoren wie beispielsweise sarah kirsch und christa
wolf, die buechner-preistraegerin von 1980, koennen - bei aller
umstrittenheit - in beiden staaten in deutschland populaer
sein, weil ihre literarischen appelle gegen entfremdung und
selbstentfremdung des menschen vom publikum in ost und
west gleichermassen verstanden werden.
bei der wiederentdeckung fast vergessener autoren kann
man eine art innerdeutscher gleichzeitigkeit feststellen.
auch ereignisse wie die in berlin (ost), rostock, dresden
und weimar in diesen wochen gezeigte ausstellung
"buecher aus der bundesrepublik deutschland" - eine
ausstellung mit buechern aus der ddr wird im naechsten jahr
bei uns zu sehen sein - dokumentieren den zusammenhang des
geistigen lebens ueber die innerdeutsche grenze hinweg.
die ohnehin vorhandene kulturelle kommunikation ist durch
das innerdeutsche kulturabkommen von 1986 erheblich
erleichtert worden. fuer die laufende zweijahresphase sind
etwa 100 projekte vereinbart - dazu kommt der ebenfalls
expandierende kommerzielle bereich.
der rahmen, den das abkommen fuer den wissenschaftlichen
austausch geschaffen hat, und erste kontakte und
initiativen zu universitaetspartnerschaften geben hoffnung,
dass auch hier bestehende gemeinsamkeiten ausgebaut
und neue kooperationswuensche besser realisiert werden
koennen.
ich habe es einleitend gesagt: das medium der kultur ist die
kommunikation, je mehr wir dafuer tun, sie zu erhalten und
auszubauen, desto erfolgreicher wirken wir fuer die
kontinuitaet der deutschen kulturnation. je mehr menschen in
beiden richtungen besuchsreisen ueber die innerdeutsche grenze
hinweg machen koennen - 1987 und 1988 werden es jeweils
mehr als 10 millionen seinue -, um so besser werden die
menschliche verbindung und der nationale zusammenhalt
gewahrt. die menschen muessen im wahrsten sinne des
wortes "im gespraech bleiben".
v.
ich habe einleitend betont, dass eine kultur, der spezifische
stil einer kommunikationsgesellschaft - wenn ich es noch
einmal mit diesem etwas hoelzernen wort bezeichnen darf -
nicht nur an ihren hochkulturellen werken, sondern auch
und oft sehr unmittelbar an der art des verhaltens, denkens
und empfindens im alltag erkennbar ist. wie bezeichnend
die alltagskultur ist, erleben wir, wenn wir ueber eine politisch
nicht mehr als trennend empfundene grenze nach westen
oder sueden reisen. an vielen dingen - ganz abgesehen von
der sprache, selbstverstaendlich -, oft an kleinigkeiten, die
man leichter empfinden als definieren kann, merkt man: ich
bin in frankreich, oder: ich bin wieder in deutschland.
woran erkennt man, dass man in deutschland ist? die
antwort ist nicht ganz einfach. auch hier gilt wieder: in
deutschland gibt es viele regionalkulturen, und viele dinge,
die das alltaegliche verhalten, die konsumgewohnheiten, die
umgangsformen kennzeichnen, sind typisch bayerisch oder
rheinisch, thueringisch, niedersaechsisch oder berlinerisch.
wir kommen aber nicht ganz an dem versuch vorbei,
wenigstens einige eigentuemlichkeiten deutscher lebensweise
und alltagskultur zu skizzieren, auch um zu sehen, ob sie in
der bundesrepublik deutschland und in der ddr
ueberwiegend gemeinsam oder unterschiedlich sind. denn wenn
wir von der kulturellen identitaet der deutschen sprechen,
dann muessen wir selbstverstaendlich auch die der deutschen
in der ddr mitbedenken.
was uns bei diesem versuch etwas weiterhelfen kann, sind
die stereotypen vorstellungen, die wir und andere von uns
haben. vielleicht sieht ein auslaender die eigenheiten einer
nation schaerfer als ein angehoeriger eben dieser nation.
selbstverstaendlich sind solche stereotype auch mit vorsicht
zu behandeln, sie haben ihr eigenleben und werden oft
unkritisch und ungeprueft uebernommen und weitergegeben.
trotzdem glaube ich, dass sie eine gewisse erkenntnishilfe
bieten koennen. "many germans", so las ich vor kurzem in
einer amerikanischen zeitung ueber die wirtschaftslage,
"who love to worry, are worried". das schien mir gut
beobachtet. ist es nicht wirklich so, dass wir uns gerne
sorgen machen? oder wenn auslaendische zeitungen verwundert
feststellen, dass in diesem sicherheitspolitischen oder jenem
umweltpolitischen problem die deutschen schwer zu einer
loesung kommen, weil jede seite meint, dass sie und nur sie
die fundamental richtige vertritt, dann sage ich mir: da
ist etwas dran, wir haben anscheinend wirklich die neigung,
aus vielen fragen grundsatzfragen zu machen, und die
neigung zum praktikablen kompromiss ist moeglicherweise
nicht unsere herausragende eigenschaft. das macht
alltagspolitik bei uns oft so schwierig!
vor einiger zeit habe ich in einer wissenschaftlichen ddr-
zeitschrift einen aufsatz ueber "sozialistische lebensweise"
gelesen. der autor, ein namhafter ddr-sozialwissenschaftler,
wollte die eigentuemlichkeiten sozialistischen lebens in
der ddr nachweisen, was fand er heraus? er stellte
zunaechst ein paar ddr-spezifische einstellungen fest wie
"internationalistische haltung" und "staatsbuergerliche
bewusstheit", eigenschaften, die allerdings wohl mehr dem
wunschbild der partei als der wirklichkeit entnommen
waren. darueber hinaus fand er aber solche charakteristika
wie arbeitsamkeit, fleiss, gruendlichkeit, genauigkeit,
ordnungsliebe auf der einen, borniertheit, provinzielle enge,
pedanterie, spiessbuergerlichkeit auf der anderen seite. ist
das etwas neues, ungewohntes, spezifisch
sozialistisches?
man findet viel gemeinsames, wenn man verhaltensweisen
und lebensgewohnheiten der deutschen betrachtet: das
vereinswesen, die volksfeste, ueberhaupt die art, feste zu
feiern, oeffentlich oder privat. das wort "gemutlichkeit"
kennen die meisten amerikaner, die laengere zeit in deutschland
gewesen sind. und wer in den naechsten wochen ueber den
ost-berliner weihnachtsmarkt geht, wird ganz aehnliche
eindruecke haben wie auf einem weihnachtsmarkt bei uns -
abgesehen von einem bescheideneren warenangebot.
man muss noch hinzufuegen: die alltagskultur wird mehr und
mehr international. bestimmte verbrauchs- und
verhaltensgewohnheiten - meist solche aus den usa - breiten
sich ueber die halbe welt aus. wolkenkratzer, fast-food oder
jeans geben zeugnis von einer groesseren kulturgemeinschaft.
aber die ergreift, mit zeitlichen verzoegerungen und
oertlichen abschwaechungen, auch den oestlichen teil europas.
sie ueberwoelbt die innereuropaeische grenze und schafft
dadurch gemeinsamkeiten. und sie tritt eben auch - man
denke an die spielarten der unterhaltungsindustrie - in
erkennbar verschiedenen nationalen einfaerbungen auf.
ich moechte ihnen die gemeinsamkeiten, die ich eben durch
einige skizzenhafte striche und subjektive bemerkungen zu
fassen versuchte, noch mit zwei meines erachtens sehr
sprechenden zeugnissen veranschaulichen. es handelt sich
um ausschnitte aus berichten, die sechzehnjaehrige schueler
nach klassenreisen in die ddr geschrieben haben:

verwunderlich war es immer wieder, jenseits dieser
grenze nicht in einem von dem unseren voellig
abgetrennten staat zu sein, sondern angefangen bei gleichen
briefkaesten und strassennamen ueber gleiche gesichter,
gewohnheiten und gesellschaftsspiele bis hin zu dem
wichtigen element der gleichen muttersprache, vieles
vorzufinden, was die grenze in ihrer paradoxie entlarvt. (...)
man ist eben halt immer noch in deutschland.

und in einem anderen bericht:

trotz der ueberwiegend negativen erfahrungen, die ich
auch fuer wichtig erachte, hatte die reise auch ihre guten
seiten. faszinierend fand ich die historischen staetten, da
mich geschichte sehr interessiert. aber was viel wichtiger
ist: ich habe angefangen, ueber ddr und bundesrepublik
als deutsche staaten nachzudenken. da ich vorher
ueberhaupt keine beziehungen zur ddr hatte, war ich der
ansicht "ach, lass die doch machen, was haben die
eigentlich mit uns zu tun?" dem ist aber nicht so. teilweise
hatte ich zwar das gefuehl, auf einem anderen stern zu sein,
aber vieles war so typisch deutsch, dass man heulen
koennte. die vergangenheit laesst sich nicht ausradieren.
das laesst sich wohl nur beschreiben mit melanchthons
zitat "ein leben ohne geschichte ist ein leben in
fortwaehrender blindheit", was ich unheimlich treffend fand.
als entschaedigung ueberhaupt empfand ich den
gespraechsabend. ich habe gelernt, dass man endlich aufhoeren
muss, menschen als vertreter von gesellschaftssystemen zu
sehen, sondern einfach als menschen. und ich habe die
adresse von birgit, einer fdj-funktionaerin, mit der ich
mich super verstanden habe und die ich naechstes jahr
besuchen werde. meine ddr-reise ist noch nicht zu
ende!

vi.
ich glaube, meine damen und herren, die indizien, die ich
skizziert habe, belegen die richtigkeit meiner these. die
kulturelle identitaet und einheit der deutschen ist nach wie
vor realitaet. sicherlich hat es in beiden staaten in
deutschland auch entwicklungen zu eigenen, unterschiedlichen
selbstverstaendnissen gegeben, aber die konkurrieren nicht
notwendigerweise mit dem bewusstsein nationaler
zusammengehoerigkeit, sondern sie werden von ihm ueberwoelbt.
die deutsche nation hat sich - trotz staatlicher teilung - als
bestaendiger erwiesen, als viele erwartet hatten. das drueckt
sich nicht zuletzt in den vielen privaten bindungen und
verbindungen aus, die nach wie vor - und sogar wieder
erneut - zwischen den menschen ueber die teilungsgrenzen
in deutschland hinweg bestehen.
auch neue umfrageergebnisse bestaetigen diesen befund:
fast 45 jahre nach kriegsende waechst bei den menschen
wieder das bewusstsein, einer gemeinsamen nation
anzugehoeren. rund 80 prozent der bevoelkerung in der
bundesrepublik deutschland betrachten die deutschen in ost und
west als ein volk. rund 90 prozent sprechen sich fuer die
wiedervereinigung aus, obwohl sie sehen, dass diese in
einem konkret ueberschaubaren zeitraum schwerlich zu
verwirklichen sein wird.
was folgt daraus politisch? ich habe es schon gesagt: unser
wille, auch unsere politische einheit zu erreichen - ganz
abgesehen davon, dass die praeambel des grundgesetzes
uns darauf verpflichtet -, findet eine begruendung in unserer
kulturellen einheit. diesen satz moechte ich zum abschluss
meiner ausfuehrungen etwas eingehender begruenden.
zunaechst: staatsnation und kulturnation sind nicht
notwendigerweise deckungsgleich. wir sehen in der europaeischen
geschichte auch beispiele dafuer, dass durch politische
entwicklungen staatsnationen entstanden sind, die elemente
mehrerer kulturnationen in sich aufgenommen haben, wie
die schweiz. und wir sehen beispiele dafuer, dass nationen
sich kraft willensentscheidung aus frueheren nationalverbaenden
herausgeloest haben. oesterreich ist ein solcher fall,
bei dem sich ein altes territorium mit einer spezifischen
regionalkultur, das ganz ohne zweifel zur deutschen
geschichte und kulturgeschichte gehoert, verselbstaendigt
hat. die oesterreicher haben mit dem staatsvertrag 1955
festgelegt, dass sie heute eine eigene nation sein wollen.
aber: die kongruenz von kulturnation und staatsnation hat
sich ohne zweifel als der haeufigste fall in der europaeischen
geschichte herausgebildet. die rechtlich-politische
ausgestaltung der spezifischen kulturellen identitaet in
freiheitlicher selbstbestimmung stellt die geistige grundlage
heutiger europaeischer nationalstaaten dar, die sich, im
freien teil des kontinents, mehr und mehr unter dem gemeinsamen
dach der europaeischen gemeinschaft zusammenfinden.
kuenftig wird diese integration, die abgabe von
kompetenzen an uebernationale gemeinschaften, aber
entgegengesetzt auch an regionalinstanzen, den charakter des
modernen europaeischen nationalstaates veraendern, europa
als ganzes besinnt sich wieder auf seine kulturelle kraft und
sein politisches potential.
staatsnation und kulturnation stehen - das ist der punkt,
den ich abschliessend hervorheben will - in einem
bedeutsamen, durch die europaeische geschichte begruendeten
engen zusammenhang. denn die grundlagen unseres heutigen
staats- und rechtsverstaendnisses, selbstbestimmung,
freiheit, rechtsstaatlichkeit, sind zugleich grundnormen
unserer kultur.
lassen sie mich dazu zwei zeugen aufrufen. schiller:

politische und buergerliche freiheit bleibt immer und ewig
das herrlichste aller gueter, das wuerdigste ziel aller
anstrengungen und das grosse zentrum aller
kultur.

und der bedeutende jurist, rechtsphilosoph und
rechtspolitiker gustav radbruch schreibt:

rechtsstaat ist fuer uns nicht nur ein politischer, sondern
ein kultureller begriff. er bedeutet die wahrung der
freiheit gegen die ordnung, des lebens gegen den verstand,
des zufalls gegen die regel, der fuelle gegen das
schema, kurz dessen, was zweck und wert ist, gegen
das, was nur zweckmaessig und nur insoweit wertvoll ist.

wir koennen diesen gedanken fortsetzen: auch selbstbestimmung
und demokratie sind fuer uns zugleich politische
und kulturelle begriffe. das vorstaatliche persoenliche recht
des einzelnen und die daraus abgeleiteten prinzipien der
menschenrechte, des rechtsstaates, der individuellen und
kollektiven selbstbestimmung ermoeglichen nicht nur kultur,
sondern konstituieren sie auch.
hat das noch etwas mit der deutschen kulturnation zu
tun, oder ist es nicht vielmehr ein element gemeinsamen
europaeischen denkens? es ist beides. die nationalen
kulturen europas erwachsen auf gemeinsamer grundlage
und durchdringen einander, die idee der autonomen
persoenlichkeit, die unserem rechts- und freiheitsbegriff
zugrunde liegt, ist nichts anderes als die saekularisierte
fassung dessen, was die bibel die gottebenbildlichkeit des
menschen nennt. auch die deutsche geschichte hat zu
dieser abendlaendischen entwicklung wesentliches
beigetragen. diese gemeinsame europaeische tradition fuehrt
ja gerade wieder die staaten europas aufeinander zu, nicht
nur in westeuropa. auch die osteuropaeischen staaten
besinnen und berufen sich zunehmend auf ihre europaeische
wurzel.
kultur ist nie etwas nur gegebenes. jeder einzelne, jede
generation waechst neu in sie hinein. darum ist kultur immer
zugleich auch aufgabe, fuer den einzelnen wie fuer die
gesellschaft. dass man sie auch verfehlen kann, hat der rueckfall
in die barbarei 1933 bis 1945 bewiesen. darum gilt auch fuer
die deutsche kulturnation: sie ist etwas gegebenes, sie ist
aber zugleich auch aufgabe. sie ist unvollendet, solange die
prinzipien des rechtsstaates, der freiheit und der
selbstbestimmung nicht fuer alle deutschen verwirklicht sind.
die deutsche frage ist auch 43 jahre nach dem zweiten
weltkrieg offen. die loesung der deutschen frage nach den
grundsaetzen von freiheit und selbstbestimmung bleibt
unsere aufgabe.
sie bleibt unsere aufgabe auch im sinne europas. denn wir
erstreben dieses ziel nicht gegen die anderen europaeischen
voelker, sondern mit ihnen. ein geeintes deutschland in der
mitte europas soll ein tragendes element einer
europaeischen friedensordnung sein.
meine damen und herren, ich habe einleitend auf das
bevorstehende gedenken an 40 jahre staatlicher teilung
deutschlands hingewiesen. ich erlaube mir, zum abschluss
eine zweite jahreszahl ins gedaechtnis zu rufen: vor 140
jahren, am 27. dezember 1848, verkuendete die deutsche
nationalversammlung in frankfurt am main per gesetz die
"grundrechte des deutschen volkes". der vorsitzende des
verfassungsausschusses, friedrich daniel bassermann,
sagte damals: "ausser der sprache gibt es noch ein band
der nationalitaet, das noch staerker ist als das der sprache:
die freiheit."
das ist tradition deutscher kultur in europaeischem geist.
sie soll, soviel an uns liegt, fortwirken fuer uns alle, die
wir in muenchen oder magdeburg, in hamburg oder halle, in
koeln, rostock oder in berlin wohnen und angehoerige dieser
einen nation sind.