abschied von kurt georg kiesinger - ansprache des bundeskanzlers

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bundeskanzler dr. helmut kohl hielt die folgende
ansprache:

herr bundespraesident,
liebe frau kiesinger, liebe familie kiesinger!

wir trauern um kurt georg kiesinger, und unsere herzliche
anteilnahme gilt in dieser stunde ihnen, verehrte frau
kiesinger, und ihrer familie. wer ihren gatten kannte, wer
erleben konnte, wie sehr er seine familie liebte, in ihr lebte,
der kann ermessen, welch einen verlust sie erlitten haben.
wir nehmen abschied von einer persoenlichkeit, die die
entwicklung unseres landes, unserer bundesrepublik
deutschland, in vielen bereichen entscheidend gepraegt hat.
wir nehmen abschied von einem der grossen baumeister
unserer republik. von anfang an hat kurt georg kiesinger
massgeblich daran mitgewirkt, auf den truemmern eines
zerstoerten landes eine stabile, im kreis der freien voelker fest
verankerte demokratie zu gruenden.
an der seite konrad adenauers widmete er sich dem
aufbau der christlich demokratischen union deutschlands,
deren organisatorische und programmatische entwicklung
er vor allem in den gruendungsjahren ganz nachhaltig
beeinflusste. er war dann spaeter vier jahre lang
bundesvorsitzender der partei und bis zu seinem tod ihr
ehrenvorsitzender.
im deutschen bundestag kaempfte er leidenschaftlich fuer die
westintegration und die westbindung unserer
bundesrepublik deutschland. er war von der ersten stunde an ein
vorkaempfer der europaeischen einigung. mit rhetorischer
brillanz, mit der klarheit und der ueberzeugungs- und
ausdruckskraft seiner sprache praegte er viele grosse
parlamentsdebatten gerade in den schwierigen aufbaujahren
unseres staates. die tatsache, dass er schon sehr frueh in
wichtige parlamentarische aemter berufen wurde - im
deutschen bundestag, in der beratenden versammlung des
europarates -, bezeugt in einer eindrucksvollen weise den
respekt und das ansehen, das er ueber die grenzen seiner
eigenen partei und ueber die grenzen unseres landes
hinweg genoss.
er wurde 1958 zum ministerpraesidenten von baden-
wuertemberg gewaehlt. er selbst hat oft die acht jahre seiner
amtszeit, in der er die landesregierung fuehrte, zu den
gluecklichsten seines lebens gezaehlt. hier in baden-
wuertemberg war seine heimat, aus der er kraft schoepfte und die
fuer ihn auch eine quelle geistigen reichtums bedeutete.
seine kindheitserinnerungen, in denen er diese grossartige
landschaft an der europaeischen wasserscheide auf eine so
liebevolle, ja bewegende weise schilderte, lassen uns
nachempfinden, wie tief kurt georg kiesinger in seiner
schwaebischen heimat verwurzelt war.
es erfuellte ihn stets mit freude und dankbarkeit, diesem
bundesland, seiner heimat, als ministerpraesident dienen zu
koennen. er hat auch mit seiner politik hier in diesem land
grundlagen einer modernen, in die zukunft strebenden
entwicklung geformt.
wir nehmen heute auch abschied von dem dritten kanzler
der bundesrepublik deutschland - dem kanzler der grossen
koalition. drei jahre lang lenkte kurt georg kiesinger
unsere republik durch einen besonders schwierigen
zeitabschnitt der geschichte - durch eine phase innenpolitischer
unruhe und aussenpolitischer ungewissheiten.
die freiheitliche demokratie in der bundesrepublik
deutschland musste damals nach der phase des aufbaus und der
westintegration erneut eine grosse bewaehrungsprobe
bestehen. dass sie sich diesen herausforderungen gewachsen
zeigte, gehoert zum bleibenden verdienst kurt georg kiesingers.
seine wirtschafts- und finanzpolitik festigte das vertrauen
in die soziale marktwirtschaft. durch seine reformpolitik
stellte kurt georg kiesinger die faehigkeit der demokratie
unter beweis, neue entwicklungen sensibel aufzunehmen,
sich auf sie einzustellen und schoepferisch die zukunft zu
gestalten. er hat einen wichtigen beitrag geleistet, die
unruhe jener jahre mit aufzufangen, gestalterisch zu
verarbeiten und extremistische herausforderungen abzuwehren.
in der aussenpolitik galt es, die ersten wesentlichen ansaetze
zu einer entspannung zwischen ost und west
aufzunehmen und durch eigene weiterfuehrende initiativen
mitzugestalten. gleichzeitig drohten die auseinandersetzungen
um den richtigen europaeischen weg, um die
zusammenarbeit im buendnis, um vermeintliche optionen zwischen
paris und washington die bundesrepublik deutschland in
eine aussenpolitische orientierungskrise von gefaehrlichem
ausmass zu stuerzen.
kurt georg kiesinger hat unser land aus diesen
gefaehrlichen stroemungen herausgefuehrt. unter seiner fuehrung
wurde die deutsch-franzoesische zusammenarbeit neu
gefestigt, das verhaeltnis zu unseren amerikanischen freunden
auf einer partnerschaftlichen basis stabilisiert. das
atlantische buendnis verstaendigte sich damals mit dem
harmelbericht auf eine zukunftsweisende grundlage, die mit ihrer
verknuepfung von sicherheit und entspannung bis heute nichts,
aber auch gar nichts von ihrer bedeutung eingebuesst hat.

in diese jahre fallen auch neue konkrete bemuehungen um
mehr miteinander im geteilten deutschland. auch in dieser
hinsicht wusste kurt georg kiesinger kontinuitaet mit
notwendigem wandel zu verbinden. seine sorge galt der einheit
der deutschen nation. unvergessen ist der satz aus einem
schreiben an willi stoph, der fuer uns heute noch so gueltig ist
wie damals: "die realiltaet, die sie und ich anerkennen
muessen, ist der wille der deutschen, ein volk zu sein."
wenn wir heute das bewusstsein fuer die einheit der nation
wachhalten und schaerfen wollen, dann erfuellen wir damit
auch ein vermaechtnis kurt georg kiesingers.
der leistung bundeskanzler kiesingers gebuehrt um so mehr
anerkennung, als die zusammenarbeit in der grossen
koalition ganz gewiss nicht einfach war. nur eine persoenlichkeit
wie er konnte diese koalition zusammenhalten - mit ruhiger
autoritaet, mit der begabung zum ausgleich.
die wertschaetzung und zuneigung, die kurt georg
kiesinger von vielen entgegengebracht wurden, galten
sicherlich den erfolgen des politikers, den erfolgen des
staatsmannes. vor allem aber - davon bin ich ueberzeugt -
galten sie dem menschen selbst, dem manne, der
ueberzeugte mit herz und verstand, mit liebenswuerdigkeit, mit
einer immer wieder aufleuchtenden umfassenden bildung.
er verstand sich auf die - gerade in einer demokratie so
existentielle - kunst des kompromisses, des
zusammenfuehrens, des zusammenfuegens - und zwar in einem sehr
viel tieferen sinn, als es beim vermitteln zwischen
unterschiedlichen partnern zum ausdruck kommt.
kurt georg kiesinger vereinte in seiner person heimatliebe
mit einer selbstverstaendlichen weltlaeufigkeit, tiefe christliche
ueberzeugung mit einer im besten sinne des wortes
liberalen offenheit und einem praktischen sinn fuer das machbare.
unablaessig warb er mit leidenschaft fuer den gelebten
brueckenschlag zwischen geist und macht.
er argumentierte gerne mit platon, montesquieu - und
immer wieder mit alexis de tocqueville, den er dem
politischen denken der deutschen neu erschloss. er zaehlte zu
den politikern, die in der praktischen politik ueberzeugen
konnten, die aber auch beispiel gaben beim nachdenken
ueber die grundlagen von staat und gesellschaft.
er hatte einen klaren sinn dafuer, dass der mensch nicht vom
brot allein lebt. in einer zeit materiellen wohlstands warnte
er oft davor, dass herz und seele verkuemmern koennten, und
er sprach in diesem zusammenhang - in anlehnung an ein
maerchen von wielm hauff, das er so liebte - von dem
"kalten herzen" als der "eigentlichen gefahr unserer zeit".
er setzte dieser gefahr seine eigene menschlichkeit
entgegen. bei aller entschiedenen leidenschaft, mit der er
streiten konnte, wollte er niemals verletzen. er kannte den
unterschied zwischen politischer gegnerschaft und
feindschaft: er sah im politischen gegner nicht den feind,
sondern eben den nachbarn und mitmenschen mit anderer
ansicht, dem sein respekt galt. mit seinem beispiel setzte
er massstaebe fuer politische kultur, als dieses wort noch nicht
in aller munde war.
ich selbst - und mit mir viele - habe in kurt georg kiesinger
einen guten freund verloren. in den vergangenen tagen
habe ich oft an viele begegnungen gedacht. er gewaehrte
mir freundschaftliche hilfe und kameradschaftliche
unterstuetzung. ich verdanke ihm viel.
als kurt georg kiesinger 1958 nach stuttgart ging, schickte
ihm herbert wehner ein telegramm mit den worten: "bonn
wird aermer."
mit seinem tod sind viele aermer geworden. wir trauern um
kurt georg kiesinger - den freund, den weggefaehrten, den
grossen deutschen patrioten, der sich um unser vaterland
verdient gemacht hat.