27. Januar – Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus - Gedenkstunde des Deutschen Bundestages am 27. Januar 2010 - Ansprache des Präsidenten des Staates Israel, Shimon Peres:

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27. Januar – Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus - Gedenkstunde des Deutschen Bundestages am 27. Januar 2010 - Ansprache des Präsidenten des Staates Israel, Shimon Peres:

  • Bulletin 14-2
  • 7. Februar 2010

Sehr verehrter Herr Bundespräsident!
Frau Köhler!
Herr Bundestagspräsident!
Frau Bundeskanzlerin!
Herr Bundesratspräsident!
Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts!
Verehrte Gäste!

Ich stehe heute vor Ihnen als Präsident des Staates Israel, dem Heim des jüdischen Volkes. Mit mir befinden sich hier auch Überlebende des Holocaust und Vertreter der zukünftigen Generationen vom Staate Israel.

Während mein Herz zerreißt, wenn ich an die Gräueltaten der Vergangenheit denke, blicken meine Augen in die gemeinsame Zukunft einer Welt von jungen Menschen, in der es keinen Platz für Hass gibt, einer Welt, in der die Worte "Krieg" und "Antisemitismus" nicht mehr existieren.

Sehr verehrte Anwesende, in unserer uralten jüdischen Tradition findet sich ein Gebet in der aramäischen Sprache, das in Erinnerung an die Toten gesagt wird, im Andenken an Väter und Mütter, Söhne und Töchter, Brüder und Schwestern. Dieses weit über tausend Jahre alte jüdische Gebet konnten weder die Mütter sprechen, deren Säuglinge ihren Armen entrissen wurden, noch die Väter, die ihren Kindern einen letzten erschreckten Blick zuwarfen, bevor sie in die Gaskammern gepfercht wurden, noch hörten es die Kinder, die im Krematorium in Rauch aufstiegen.

In dieser Veranstaltung ist es mir ein Bedürfnis, jetzt und hier die ersten Worte dieses Kaddisch-Gebets im Namen des jüdischen Volkes und zu Ehren und im Andenken an die sechs Millionen Juden, die zu Asche wurden, zu rezitieren:

"Erhoben und geheiligt werde Sein großer Name in der Welt, die er nach Seinem Willen erschaffen, und Sein Reich erstehe in eurem Leben und in euren Tagen und dem Leben des ganzen Hauses Israel, schnell und in naher Zeit. Sprechet: Amen."

Sein Name sei gesegnet, überall und immer.

Das Gebet endet mit den folgenden Worten, die im Staate Israel zum Symbol des jüdischen Traumes überhaupt geworden sind:

"Der Frieden stiftet in seinen Himmelshöhen, stifte Frieden unter uns und ganz Israel. Sprechet: Amen."

Danke, dass Sie sich erhoben haben.

Meine Freunde, Gesandte des deutschen Volkes und dessen Vertreter, im Staate Israel und überall auf der Welt weilen immer weniger Holocaustüberlebende unter uns. Ihre Zahl nimmt ständig ab. Gleichzeitig leben auf deutschem Boden, in Europa und anderswo auf der Welt immer noch Menschen, die sich damals das schrecklichste Ziel überhaupt gesetzt hatten – den Völkermord. Ich bitte Sie: Tun Sie alles, um diese Verbrecher ihrer gerechten Strafe zuzuführen. In unseren Augen handelt es sich nicht um Rache. Es geht hier um Erziehung. Die jüngere Generation lebt in einer Stunde der Gnade. Die Jugend muss sich erinnern, darf nicht vergessen und muss wissen, was geschehen ist. Sie darf niemals, aber auch niemals an etwas anderes glauben, sich andere Ziele setzen als Frieden, Versöhnung und Liebe.

Heute, am internationalen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, erinnern wir uns, dass genau vor 65 Jahren nach sechs Jahren Dunkelheit zum ersten Mal die Sonne schien. Die ersten Sonnenstrahlen legten das Ausmaß der Zerstörung, die mein Volk erlitten hatte, bloß. An diesem Tag stieg der Rauch noch aus den Krematorien auf, und Blut und Asche bedeckten das Lager Auschwitz. Der Bahnsteig war verstummt, die "Selektionsrampe" menschenleer. Im Tal des grauenhaften Mordes breitete sich trügerische Ruhe aus. Das Ohr nahm nur die Stille wahr, doch aus den Tiefen der vereisten Erde wurde ein Schrei hörbar, der das menschliche Herz zerriss und bis zum gleichgültig schweigenden Himmel aufstieg.

Der 27. Januar 1945 kam zu spät. 6 Millionen Juden hatten bereits ihr Leben gelassen. Dieser Tag symbolisiert nicht nur die Erinnerung an die Ermordeten, nicht nur das Schuldgefühl der Menschheit im Angesicht dieser nicht fassbaren Schreckenstaten, sondern auch die Tragödie des Versäumnisses. Dies ist unsere Lehre aus einer Zeit, als die in Flammen lodernde Welt so abgelenkt war, dass die Mordmaschine tagaus, tagein weiterarbeiten konnte, jahraus, jahrein, ungestört.

Drei Jahre zuvor, am 20. Januar 1942, unweit von hier, in der "Villa am Wannsee" am wunderschönen Gewässer, traf sich eine Gruppe hochrangiger Offiziere und Beamte unter Reinhard Heydrich, um die "Endlösung" der "Judenfrage" zu organisieren und in die Tat umzusetzen. Adolf Eichmann arbeitete fleißig an einem Dokument zur Erfassung der Zielbevölkerung, die zur Vertreibung und Ausrottung bestimmt war. Dazu zählte die gesamte Judenheit Europas: von den drei Millionen polnischen, ukrainischen und sowjetischen Juden bis zu den 200, die im kleinen Albanien lebten. Elf Millionen Juden wurden zum Tode verurteilt. Die Nazis arbeiteten effizient, und der Weg führte von der "Villa am Wannsee" direkt in die Gaskammern und Krematorien von Auschwitz.

Ich stehe heute, an diesem Gedenktag, vor Ihnen, verehrte Zuhörer, vor Führungspersönlichkeiten und Vertretern eines anderen, demokratischen Deutschlands, eines wertvollen Deutschlands – als Vertreter des jüdischen Staates, des Staates der Überlebenden, des Staates Israel. Mir sind die Tragweite und die erschütternde Bedeutung dieser Sitzung bewusst, und ich hoffe und bin sicher, Ihnen geht es ebenso.

Vor meinem geistigen Auge steht die prächtige Gestalt meines von mir so bewunderten Großvaters, Rabbi Zwi Meltzer, ein würdiger und schöner Mann, dessen Lieblingsenkel ich war. Er war mein Lehrer und Erzieher. Er lehrte mich die Thora. Ich sehe ihn noch vor mir mit seinem weißen Bart und seinen dunklen Augenbrauen, eingehüllt in den Gebetsmantel, inmitten aller Betenden in der Synagoge, in meinem Geburtsstädtchen Wiszniewo in Weißrussland.

Ich hüllte mich damals ebenfalls in den Gebetsmantel meines Großvaters und lauschte seiner schönen, klaren Stimme. Noch jetzt klingt das Echo seiner Stimme in meinem Ohr, das "Kol Nidrei"-Gebet am Versöhnungstag, in den Stunden und Momenten, wo nach dem jüdischen Glauben das Schicksal jedes Einzelnen vom Allerheiligsten festgelegt wird, ob ihn der Tod erwartet oder das Leben.

Ich erinnere mich, wie er am Bahnsteig stand, wo die Eisenbahn mich, den elfjährigen Jungen, von unserem Dorf nach Eretz Israel bringen sollte. Ich erinnere mich an seine überschwängliche Umarmung, und ich erinnere mich an seine letzten Worte, die mir befahlen: "Mein Kind, bleib immer ein Jude!" Die Lokomotive pfiff, und die Bahn fuhr los. Ich blickte meinem Großvater durchs Fenster nach, bis seine Gestalt verschwand. Es war das letzte Mal.

Als die Nazis in Wiszniewo einmarschierten, befahlen sie allen Juden, sich in der Synagoge einzufinden. Mein Großvater ging als Erster, eingehüllt in denselben Gebetsmantel, in den ich mich als Kind schon eingewickelt hatte. Seine ganze Familie marschierte mit. Die Türen wurden von draußen verriegelt, und das Holzgebäude wurde angezündet. Von der gesamten Gemeinde blieben nur glühende Asche und Rauch. Keiner hat überlebt.

Meine verehrten Anwesenden, die Shoah wirft sehr schwierige Fragen zur tiefsten Seele des Menschen auf: Wie böse kann der Mensch sein? Wie gelähmt ein ganzes Volk, ein Volk, das sich gänzlich zur Kultur und zur Philosophie bekannt hatte? Zu welchen Scheußlichkeiten ist der Mensch fähig? Kann er den moralischen Kompass stilllegen, die Logik ausschalten? Wie kann ein Volk sich als "Herrenrasse" betrachten und den Mitmenschen als null und nichtig?

Noch heute stellt sich die Frage, weshalb die Nazis in der Existenz der Juden eine solche Gefahr und Bedrohung sahen. Was brachte sie dazu, so viel in diese Todesindustrie zu investieren? Wieso setzten die Nazis ihren Plan bis zum bitteren Ende fort, obwohl sich die Niederlage schon längst am Horizont abzeichnete? Waren die Juden denn eine Bedrohung für das "Tausendjährige Reich"? Konnte ein verfolgtes Volk, das von den Stiefeln der Täter zertrampelt wurde, den mörderischen, kriegerischen Nazi-Zug aufhalten? Wie viele Divisionen standen den Juden Europas zur Verfügung, wie viele Panzerwagen, Kampfflugzeuge, wie viele Gewehre?

Der Hass der Nazis lässt sich durch reinen Antisemitismus nicht erklären. Der Antisemitismus ist ein abgedroschener Begriff und keine Erklärung für die mörderische, tierische Begeisterung, die krankhafte Entschlossenheit des Nazi-Regimes, die Judenheit auszurotten. Der eigentliche Zweck des Krieges war doch die Macht über Europa und nicht die Begleichung einer historischen Rechnung mit den Juden. Wenn wir Juden in den Augen des Hitler-Regimes eine so bedrohliche Gefahr waren, dann handelte es sich doch bestimmt um keine militärische, sondern eine moralische Bedrohung.

Dabei wurde auch der Glaube verneint, dass jeder Mensch im Antlitz Gottes erschaffen ist, dass jeder Mensch vor Gott gleich ist, dass alle Menschen ebenbürtig sind. Selbst unbewaffnet wird ein Jude für die Heiligkeit des göttlichen Namens einstehen. Seit Anbeginn seiner Existenz ist das jüdische Volk den Geboten: "Du sollst nicht morden!", "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!" und "Suche den Frieden und verfolge ihn!" unter allen Umständen und überall verpflichtet.

Den gutgläubigen Juden, der an diese Gebote glaubt, sehe ich jetzt in Gestalt meines gütigen Großvaters vor mir, des wertvollsten und ehrlichsten Menschen, den es je gab. Die Nazis wollten ihn entmenschlichen. Sie verbrannten ihn und seine Brüder lebendig. Das Feuer vertilgte ihren Körper, doch nicht ihren Geist.

Die Nazis versuchten, uns Juden in ihren schrecklichen Propagandafilmen und im Stürmer als Parasiten, Höhlenratten und Verbreiter von Krankheiten darzustellen. Sie hatten sich zum Ziel gesetzt, die Werte von Gerechtigkeit und Gnade zu vergessen. Als Jude trage ich für immer den Stempel des Schmerzes über meine verstorbenen Brüder und Schwestern. Als Israeli beweine ich die tragische Verzögerung in der Entstehung des Staates Israel, was mein Volk ohne Zufluchtstätte hinterließ. Als Großvater kann ich den Verlust von 1,5 Millionen Kindern nicht verschmerzen, dem ungeheuren menschlichen Potenzial, ohne dessen Verlust die Zukunft Israels anders ausgesehen hätte.

Ich bin stolz darauf, dass wir immer der Erzfeind der Nazi-Verbrechen waren. Ich bin stolz auf das Erbe unserer Vorväter, das genaue Gegenteil dieser Rassenlehre. Ich bin stolz darauf, dass der Staat Israel erstanden ist, die moralische und historische Antwort auf den Versuch, das jüdische Volk von der Erde zu tilgen. Ich danke dem Allerheiligsten für diejenigen Völker, die diesem Wahnsinn, dem Bösen und der Grausamkeit ein Ende setzten. Die Shoah muss dem menschlichen Gewissen als ewiges Warnzeichen stets vor Augen stehen: als Verpflichtung zur Heiligkeit des Lebens, zur Gleichberechtigung aller Menschen, zu Freiheit und Frieden.

Die Ermordung der Juden Europas durch Nazi-Deutschland darf nicht als ein astronomisches schwarzes Loch betrachtet werden, als ein Todesstern, der das Licht schluckt und die Vergangenheit gemeinsam mit der Zukunft verschlingt. Die Shoah darf uns aber auch nicht davon abhalten, an das Gute zu glauben, an die Hoffnung, an das Leben.

Heute, am internationalen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, frage ich mich, wie die Juden Europas in unserem Gedächtnis hätten verbleiben wollen. Nur durch den Rauch der Krematorien? Sollten wir uns nicht auch das Leben vor der Shoah in Erinnerung rufen? Würden die Millionen von Juden Europas über eine kollektive Stimme verfügen, würde diese Stimme uns und alle anderen auffordern, den Blick in die Zukunft zu richten, zu verwirklichen, was diese Opfer hätten sein können, wozu ihnen jedoch die Gelegenheit entrissen wurde, neu zu erschaffen, was wir durch ihren Tod verloren haben.

Nehmen wir als Beispiel den Schöpfungsgeist der deutschen Juden, die sich mit ihrem Heimatland identifizierten und deren Beitrag zu Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft und Deutschland überhaupt so bedeutungsvoll war, dass er jeglicher Proportion zur tatsächlichen Größe der jüdischen Gemeinde entbehrte. Es ist bekannt, dass die Juden Europas die Wissenschaft, Technologie, Wirtschaft, Literatur und Kunst dieses Kontinents ungemein bereichert haben, da sie nach der Vertreibung aus ihrem Heimatland zu einem belesenen Nomadenvolk von Handwerkern und mehrsprachigen Kaufleuten wurden; ein Volk von Ärzten, Schriftstellern, Wissenschaftlern und Künstlern; ein Volk, das mit Persönlichkeiten gesegnet war, welche die deutsche Kultur und die Welt überhaupt bereicherten.

Ich bin überwältigt, wenn ich an die vielen Philosophen und Erfinder denke, die aus den Tiefen des jüdischen Dorfes, des jüdischen Gettos und des jüdischen Bürgertums strömten, sobald ihnen der Zugang zu den Universitäten gewährt wurde. Wie durch einen Zauber erscheinen Albert Einstein, Sigmund Freud, Martin Buber, Karl Marx, Hermann Cohen, Hannah Arendt, Heinrich Heine und Moses Mendelssohn, Rosa Luxemburg, Walther Rathenau, Stefan Zweig und Walter Benjamin. Trotz ihrer Verschiedenheit ist allen der nicht zu unterschätzende Beitrag zum menschlichen Gedankengut gemein sowie ihr außergewöhnlicher Einfluss auf die Moderne. Sie richteten den Blick Deutschlands, Europas, ja, der gesamten Welt auf eine neue Zukunft.

Und nun zur bedeutendsten aller Lehren: "Nie wieder!" Nie wieder eine Rassenlehre, nie wieder ein Gefühl von Überlegenheit, nie wieder eine scheinbar gottgegebene Berechtigung zur Hetze, zum Totschlag, zur Erhebung über das Recht, nie wieder zur Verleugnung Gottes und der Shoah. Nie wieder dürfen blutrünstige Diktatoren ignoriert werden, die sich hinter demagogischen Masken verbergen und mörderische Parolen von sich geben.

Meine Freunde, Vertreter des deutschen Volkes, des demokratischen Deutschlands, die Drohungen, unser Volk und unseren Staat zu zerstören, kriechen aus dem Schatten von Massenvernichtungswaffen an uns heran, Waffen, die im Besitz irrationaler Hände sind, von Menschen, die nicht zurechnungsfähig sind, und Mündern, die nicht die Wahrheit sprechen. Um eine zweite Shoah zu verhindern, ist es an uns, unsere Kinder zu lehren, Menschenleben zu achten und Frieden mit anderen Ländern zu wahren. Die junge Generation muss lernen, jede Kultur und dabei jedoch auch universelle Werte zu respektieren. Die Zehn Gebote müssen stets neu gedruckt werden.

Lasst uns Licht ins Dunkel bringen! Lasst uns Teleskope und Mikroskope auf die Geheimnisse der Wissenschaft richten, die dem menschlichen Körper und Geist Heilung bringen können! Wir benötigen Nahrung für die Hungrigen, Wasser für die Durstigen, Luft zum Atmen und Weisheit für die Menschheit.

Mit dem Ende des britischen Mandats rief David Ben-Gurion, der Wegbereiter der sich erneuernden Nation, den Staat Israel aus. Die Araber wiesen die UNO-Resolution zurück und griffen Israel an. So attackierten sieben arabische Heere Israel nur wenige Stunden nach seiner Deklaration, um den noch kaum ins Leben gerufenen Staat zu zerstören. Wir standen ihnen alleine gegenüber. Wir hatten keine Verbündeten und waren trotz allem die letzte Hoffnung des jüdischen Volkes auf Sicherheit. Hätten wir den Krieg verloren, wäre dies vielleicht das Ende unseres Volkes gewesen.

Die israelische Armee siegte in diesem aussichtslosen Kampf, in dem sich historische Gerechtigkeit und menschlicher Mut vereinten. In den Reihen der israelischen Streitkräfte kämpften bereits in diesem Krieg Überlebende der Shoah, die vor nicht langer Zeit die sichere Küste Israels erreicht hatten und sich während der Schlachten zu den anderen Soldaten gesellten. Einige starben an der Front.

Während Israel noch die Kriegswunden leckte, begann das kleine Land bereits, als erste Priorität seine Tore den Holocaustüberlebenden und den vielen jüdischen Flüchtlingen aus arabischen Ländern zu öffnen. Alle anderen Tore blieben vor ihnen verschlossen.

Meine sehr verehrten Anwesenden, wir erinnern uns noch gut, wie uns damals, als unsere Wunden noch bluteten, unerwartet Hilfe angeboten wurde – aus dem neuen Deutschland. Zwei historische Figuren reichten sich über dem Abgrund die Hand: Kanzler Konrad Adenauer, der Vater der demokratischen Bundesrepublik, und David Ben-Gurion, Gründer und erster Ministerpräsident des Staates Israel.

Am 27. September 1951 hielt Kanzler Adenauer eine Rede im Bundestag. Er sprach von der Verantwortung des deutschen Volkes für die Verbrechen des Dritten Reiches, von seiner Verantwortung dem jüdischen Volk gegenüber und von der Bereitschaft seiner Regierung, die Juden für den Raub an ihrer Habe zu entschädigen und dem jungen Staat beim Wiederaufbau unter die Arme zu greifen.

Der Entschluss der israelischen Regierung, mit der deutschen Regierung direkt zu verhandeln, führte zu einer noch nie da gewesenen Protestwelle unter den Juden. Überlebende mit eintätowierten Todesnummern der Vernichtungslager bewarfen das israelische Parlament mit Steinen. Es gab aber auch andere, die Ben-Gurion unterstützten. Ben-Gurion bestand auf seinem Entschluss und sagte: Es gibt ein anderes Deutschland, mit dem wir über die Zukunft und nicht nur über die Vergangenheit reden müssen. – Schweren Herzens stimmte die Knesset zu. Die Reparationen aus Deutschland halfen Israel aus seiner Notlage und leisteten einen wesentlichen Beitrag zur schnellen Entwicklung des Landes.

Ich hatte damals als junger Mensch die Ehre, Ben-Gurions Assistent und nachher im Verteidigungsministerium sein Stellvertreter zu werden. Ich lernte dort, dass es die Verpflichtung Israels war, seine Kinder zu beschützen, obwohl wir uns selbst im Wiederaufbau befanden. Auch in diesem Fall zeigten die Deutschen Verständnis für uns und belieferten uns mit Verteidigungsmitteln. Wir danken Ihnen dafür.

Zwischen Deutschland und Israel hat sich seither eine einzigartige Freundschaft entwickelt. Diese Freundschaft führt aber nicht dazu, dass wir die Shoah vergessen, sondern wir sind uns der Finsternis, die im Todestal der Vergangenheit herrschte, bewusst; auch im Angesicht der gemeinsamen, klaren Entscheidung, unseren Blick nach vorne zu richten – zum Horizont der Hoffnung und in eine bessere Welt. Die Brücke über dem Abgrund wurde mit schmerzenden Händen und Schultern, die dem Gewicht der Erinnerung kaum standhielten, aufgebaut und steht auf starken moralischen Grundfesten.

Unseren Brüdern und Schwestern, die ermordet wurden, haben wir ein lebendiges Mahnmal errichteten: in den Pflügen, die eine Wüste in fruchtbare Plantagen umwandeln, in Labors, die neues Leben entdecken, in Waffen, die unsere Existenz sichern, und in einer kompromisslosen Demokratie. Wir waren und sind der Überzeugung, dass das neue Deutschland alles, was von ihm erwartet wird, tun wird, damit sich der jüdische Staat nie mehr alleine einer Gefahr ausgesetzt sehen muss. Grausame, arrogante Diktaturen sollen ihr böses Haupt nicht wieder erheben dürfen.

Von Konrad Adenauer, der mit David Ben-Gurion eine gemeinsame Sprache fand, bis zum Kniefall Willy Brandts im Andenken an die Helden des Warschauer Gettos: Sie, Abgeordnete des Bundestages und des Bundesrates, von Helmut Schmidt bis Helmut Kohl, und andere Führungspersönlichkeiten haben die Grundmauern gefestigt und dem Bau noch weitere Steine der Freundschaft hinzugefügt. Uns wohlgesinnte Institutionen, Wirtschaftsorgane, Kulturzentren, Denker, Entscheidungsträger haben alle dieses außergewöhnliche Freundschaftsgewebe bereichert. – Danke und nochmals vielen Dank.

Sie, Herr Bundespräsident Horst Köhler, sagten in der Knesset in Jerusalem: "Die Verantwortung für die Shoah ist Teil der deutschen Identität." Wir rechnen Ihnen das hoch an. Und Sie, Frau Bundeskanzlerin Angela Merkel, haben unsere Herzen mit Ihrer Aufrichtigkeit und Wärme erobert. Sie erklärten vor den beiden Kammern des US-amerikanischen Kongresses: "Ein Angriff auf Israel kommt einem Angriff auf Deutschland gleich." Diese bewegenden Worte unverbrüchlicher Unterstützung werden wir niemals vergessen.

Meine sehr verehrten Anwesenden, beinahe 62 Jahre sind seit der Gründung des Staates Israel vergangen. Wir haben die Feuerprobe von neun Kriegen überlebt. Wir haben zwei Friedensabkommen mit Ägypten und Jordanien geschlossen. Den Ländern, mit denen wir in Frieden leben, haben wir alle Gebiete, die uns während der Kriege in die Hände fielen, zurückgegeben.

Unsere Erde ist sehr störrisch. Dennoch ist uns die Entwicklung einer Landwirtschaft gelungen, die zu den weltbesten zählt. Statt der Rohstoffe haben wir technologisches und wissenschaftliches Know-how, das uns an die Spitze der wissenschaftlichen Forschung setzt und die Größe unseres kleinen Landes kompensiert.

Unser Volk kam aus allen Ecken der Diaspora. Heute befindet sich die Mehrheit der Juden in Israel. Wir sind zu unserer Sprache zurückgekehrt. Wir sind das einzige Land in unserer Region, dessen Kinder sich in derselben antiken Sprache wie ihre Vorfahren vor über 3.000 Jahren unterhalten: dem Hebräisch, der Sprache des Alten Testaments.

Die jüdische Geschichte verläuft weiterhin auf zwei Achsen: einerseits die Ethik, die bereits in den Zehn Geboten festgehalten ist, diesem Dokument, das vor ungefähr 3.500 Jahren niedergeschrieben wurde, seither nicht mehr redigiert werden musste und das zum Fundament der westlichen Kultur gehört; andererseits die Wissenschaft, deren Ziel die Ergründung der Geheimnisse ist, die dem menschlichen Auge bisher verborgen blieben und die unser Leben zu ändern vermögen.

Israel ist ein jüdischer und demokratischer Staat, in dem ungefähr 1,5 Millionen gleichberechtigte arabische Bürger leben. Wir werden nicht zulassen, dass jemand seiner Nationalität oder Religion wegen diskriminiert wird. Unsere Kultur ist gleichermaßen modern wie traditionell. Die israelische Demokratie ist lebendig. Bei uns gibt es keine Flauten, und selbst in Kriegszeiten geht das Leben weiter.

Unsere Siege haben jedoch den Gefahren kein Ende gesetzt. Es gelüstet uns nicht nach Gebieten, die uns nicht gehören. Wir hegen auch kein Interesse, ein anderes Volk zu beherrschen, dürfen aber unsere Augen trotz allem nicht verschließen. Unser nationales Begehren ist klar und eindeutig: Frieden mit unseren Nachbarn.

Sie wissen, dass Israel dem Grundsatz "Zwei Staaten für zwei Völker" zustimmt. Wir haben im Krieg einen Preis gezahlt und zögern nicht, auch für den Frieden einen Preis zu zahlen. Auch jetzt sind wir bereit, auf Gebiete zu verzichten, um mit den Palästinensern Frieden zu schließen. Sie sollen einen eigenen Staat errichten, einen unabhängigen, gedeihenden und friedliebenden Staat.

Ebenso wie unsere Nachbarn identifizieren auch wir uns mit den Millionen von Iranern, die gegen die Diktatur und Gewalt rebellieren. Genau wie sie lehnen wir ein fanatisches Regime ab, das die Charta der Vereinten Nationen missachtet, ein Regime, das mit Zerstörung droht und Atomkraftwerke und Nuklearraketen besitzt, mit denen es sein eigenes Land wie auch andere Länder terrorisiert. Ein solches Regime ist eine Gefahr für die ganze Welt. Wir sind froh, dass Deutschland sich ganz klar dagegengestellt hat.

Wir möchten von der Europäischen Gemeinschaft lernen, von ihr, die den Kontinent von tausend Jahren Krieg und Not befreit und es jungen Menschen ermöglicht hat, den Hass ihrer Vorväter gegen Solidarität unter den Jungen einzutauschen. Wir können viel aus Ihrer Erfahrung lernen und möchten von einem Nahen Osten träumen, in dem alle Länder bereit sind, den Konflikt ihrer Eltern gegen den Frieden für ihre Nachkommen einzutauschen. Wir möchten eine regionale, moderne Wirtschaft aufbauen, um aktuellen Problemen, die uns allen gemeinsam sind, zu entgegnen: Krankheiten, Terrorismus. Der uns allen gemeinsame Gott ist der Gott des Friedens und nicht der Gott des Krieges.

Sehr verehrte Anwesende, ich stehe heute vor Ihnen im Glauben, dass es in Ihrer und auch unserer Macht steht, den Lauf der Geschichte zu ändern. Der Frieden ist meiner Meinung nach in Reichweite. Drohungen gegen Israel werden uns nicht von diesem Weg abbringen. Ich stehe heute vor Ihnen als Sohn eines Volkes, das bereit ist, alles Menschenmögliche zu tun, um eine bessere Welt zu schaffen, in der der Mensch dem Menschen ein Mensch ist.

Der internationale Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus ist ein Tag der Andacht, der Erziehung, der Hoffnung. Ich habe mit dem Kaddisch-Gebet begonnen und möchte mit unserer Nationalhymne, der "Hatikwa", der Hoffnung, schließen:

"Solange ist unsere Hoffnung nicht verloren,
die Hoffnung, 2.000 Jahre alt,
zu sein ein freies Volk in unserem Land,
im Lande Zion und Jerusalem!"

Wir wagen den Traum, und ich bin überzeugt: Sie wagen ihn mit uns. Gemeinsam werden wir diesen Traum auch verwirklichen. Das ist unser Anfang. Das ist unsere Verpflichtung an die junge Generation.

Vielen Dank, dass Sie mich eingeladen haben. Ich danke Ihnen allen ganz herzlich.

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