"Ich wäre gern ein unbesonderer Teil der Gesellschaft"

Gespräch über Identität "Ich wäre gern ein unbesonderer Teil der Gesellschaft"

Die "dritte Option" ermöglicht intergeschlechtlichen Menschen mehr Rechte zur selbstbestimmten Identität. Davon profitieren auch andere Personen, die sich im zweigeteilten Geschlechterverständnis zwischen Mann und Frau nicht wiederfinden - so wie Sophie und Maikel. Im Gespräch miteinander erzählen sie, was das Gesetz für sie verändert.

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Die beiden Protagonist*innen stehen am Spreeufer und sprechen. Im Hintergrund ist der Reichstag zu sehen.

Sophie Maeve Rauscher (links) und Maikel Benjamin Drexler (rechts) im Gespräch.

Foto: Bundesregierung/Dudzinski

Ein Café im Regierungsviertel. Sophie und Maikel unterhalten sich bei Tee und Limo über Identität. In Geburten- und Personenstandsregistern kann neben "weiblich" und "männlich" nun auch die Option "divers" eingetragen werden. Das Gesetz hat auch ihren Alltag verändert: Zum Beispiel, wenn sie in der U-Bahn aufgrund ihres Aussehens von Fremden belästigt werden. Außerdem verbinden sie mit dem Gesetz auch Hoffnungen.

Während bei inter* Personen körperliche Merkmale ausschlaggebend sind, sind nicht-binäre Menschen unabhängig davon, wie sie aussehen oder welches Geschlecht in ihrem Ausweis steht, nicht ausschließlich oder "weder - noch" Frau oder Mann. Sie verorten sich außerhalb einer binären (aus zwei Elementen bestehenden) Geschlechterordnung.

Alltagsgespräche könnten einfacher werden

Maikel: "Ich erhoffe mir vom Gesetz, dass Alltagsgespräche für mich als nicht-binäre Person einfacher werden. Wenn mich fremde Leute in der U-Bahn ansprechen und irritiert fragen, was ich denn nun bin, könnte ich jetzt dank des Gesetzes einen Begriff in der Hand haben, den die Menschen schon einmal gehört haben. Dann kann ich sagen 'Habt ihr in den Nachrichten von der dritten Option gehört? Genau, dazu gehöre ich.' Das setzt natürlich voraus, dass eine dritte Option unabhängig von diagnostizierter Intergeschlechtlichkeit gewählt werden kann. Als betroffene Person müssen wir uns immer erklären, das ist sehr anstrengend. Wir leisten ständig unbezahlte Bildungsarbeit. Ich würde mich lieber auf meine Arbeit und andere Dinge konzentrieren, statt mich ständig damit beschäftigen und erklären und legitimieren zu müssen."

Sophie: "Ich glaube auch, dass durch das Gesetz mehr Personen das Thema wahrnehmen und sich damit beschäftigen. Gerade Eltern von intergeschlechtlichen Kindern können sehr davon profitieren, wenn mehr Informationen verfügbar sind und mehr Bewusstsein für das Thema. Wie das Gesetz wirkt, hängt davon ab, wie die medizinische Praxis aussieht. Ärzt*innen könnten auch trans* Personen als solche bezeichnen, aber machen sie das? Der nicht-binäre Körper wird in der Medizin nicht berücksichtigt. Dazu wird Intergeschlechtlichkeit noch immer als etwas wahrgenommen, dass korrigiert werden soll. Inter* Personen, die zwangsoperiert wurden und traumatische Erfahrungen gemacht haben, sollen sich dann wiederum dieser Medizin für ein Attest anvertrauen?"

Inter* Personen erfahren oftmals bereits bei Geburt Pathologisierung aufgrund von Geschlechtsmerkmalen, die nicht - wie bei den meisten Geburten üblich - eindeutig zugeordnet werden. Sie werden deshalb teilweise zwangsoperiert und in der Folge entweder dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zugeordnet. Diese Praxis hat die Bundesregierung Ende 2018 mit dem "Gesetz zur Änderung der in das Geburtenregister einzutragenden Angaben" unterbunden.

"Leute akzeptieren uns eher, wenn sie uns einordnen können"

Maikel: "Ich finde, die einzige sinnvolle Variante ist, wenn das Geschlecht unabhängig von der Medizin und Attest eingetragen werden kann."

Sophie: "Das sehe ich auch so. Auch bei binären trans* Personen. Das sogenannte Transsexuellengesetz sieht vor, dass Personen eine Namensänderung erst über Gutachten erwirken können. Das sind zum Beispiel rund 1.500 Euro. Wenn ich anderen erzähle, wie viel das alles kostet, sind sie empört – da ist die Gesellschaft weiter als man denkt."

Cissexuell bedeutet, dass sich eine Person dem Geschlecht zugehörig fühlt, das ihr bei der Geburt zugewiesen wurde. Cis betrifft demnach die Mehrheit der Bevölkerung, die sich als Mann oder Frau wiederfinden. Trans* sind Menschen, die bei der Geburt einem bestimmten Geschlecht zugewiesen wurden, im Laufe ihres Lebens aber feststellen, dass dieses Geschlecht nicht auf sie zutrifft. Sie sind entgegen dieser ursprünglichen Zuweisung eher Personen mit einem davon abweichenden oder keinem Geschlecht.

Maikel: "Alleine Dinge wie Bankdaten zu ändern, ist sehr willkürlich abhängig von der Person am Schalter. Der Aufwand und die Kosten sind hoch, deswegen kann man nicht mal eben alles offiziell machen."

Sophie: "Ich werde in Behörden falsch angeredet, weil das unzutreffende Geschlecht in meinen Dokumenten steht."

Maikel: "Leute akzeptieren mich eher, wenn sie mich einordnen können. Es ist ja auch eine Frage der Gewöhnung. Am praktischsten wären geschlechtsneutrale Anreden in Briefköpfen. Wieso ist das Geschlecht überhaupt so ein relevanter Teil der Anrede? Wenn ich zum Beispiel einen Parkschein kaufe, hat mein Geschlecht doch nichts damit zu tun. Deswegen finde ich, dass es möglich sein sollte, den Eintrag ganz streichen oder leer lassen zu können."

Neue Sprache und Handhabung finden

Sophie: "Ich hoffe, dass das Gesetz Leute zum Nachdenken bringt und dadurch auch eine Sprache und Handhabung entsteht. Dann wird es weniger Unsicherheit und Unbeholfenheit geben wie 'Wie soll ich die denn jetzt anreden, das klingt doch seltsam?!' Es ist schon spannend, wie wenig über Sprache nachgedacht wird. Es ist schade, dass zum Beispiel das Gendern so als akademische Diskussion wahrgenommen wird."

Maikel: "Für Sprachliebhabende! (lacht) Aber Spaß beiseite: Natürlich passiert es oft, dass Menschen unbeholfen mit mir umgehen, mich falsch ansprechen. Viel wichtiger ist für mich, wie sie mit diesen Fehlern umgehen. Übernehmen sie Verantwortung und verbessern sie sich einfach kurz? Oder erwarten sie von mir, dass ich ihnen die Absolution erteile, weil das Ganze doch so schwierig sei? Manche sagen sogar zu mir, ich solle 'tolerant' sein, wenn sie mich falsch ansprechen. Insgesamt gibt es aber sehr positive Entwicklungen. Sie haben vor langer Zeit begonnen und bilden sich mehr und mehr ab."

Sophie: "Es sollte neue Pronomen geben, am besten mehrere! Für Menschen, die sich nicht einordnen können oder möchten, wäre es super, neue Worte zu etablieren und die Sprachlosigkeit zu überwinden."

Maikel: "Zum Beispiel 'xier' oder 'Y'. Viele behaupten, Neopronomen seien komplizierter. Aber grammatikalisch sind sie viel einfacher als die geläufigen Pronomen, die dekliniert werden müssen."

Uramerikanische Gesellschaften kannten fünf Geschlechter

Sophie: "Die Geschlechteraufteilung in Mann und Frau ist ja auch eine Erfindung des christlichen Westens. Bevor die europäischen Kolonialherren nach Amerika kamen, gab es dort in vielen Gesellschaften fünf Geschlechter."
 
Maikel: "Das Geschlecht ist eben doch gesellschaftlich konstruiert – und die Einteilung in Mann und Frau ist nichts Natürliches, Biologisches, das schon immer so war".

Die Geschlechtsidentität beschreibt, wie sich ein Mensch geschlechtlich selbst wahrnimmt und wie er von anderen wahrgenommen werden möchte. Die sexuelle Orientierung beschreibt, zu welchem Geschlecht sich eine Person hingezogen fühlt.

Von Fremden belästigt

Maikel: "Es wäre schön, wenn alle unbehelligt in ihrer Geschlechtsidentität leben könnten. Stattdessen werde ich öfter auf der Toilette sehr laut angesprochen beziehungsweise missbilligend angestarrt – egal, ob ich auf das Frauen- oder Männerklo gehe."

Sophie: "Schlimm sind auch Umkleidekabinen. Es geht ja nicht immer um die Geschlechtsidentität, sondern wie man sein Geschlecht auslebt. Ein cis Mann, den ich kenne, wurde verprügelt, weil er in Drag gekleidet war. Wenn eine trans* Person nicht als solche erkannt wird, lebt sie leider oft sicherer."

Drag beschreibt eine Kunst- und Unterhaltungsform, in welcher man in die Rolle des gegenteiligen Geschlechts schlüpft, um dieses übertrieben in künstlerischer und humoristischer Form darzustellen - das bekannteste Beispiel ist die Drag Queen. Die Geschlechtsidentität stimmt mit dem biologischen Geschlecht überein.

Maikel: "Auf der einen Seite fallen nicht-binär gelesene Personen also auf und werden verprügelt, auf der anderen Seite werden sie unsichtbar gemacht. Dabei wäre ich persönlich einfach gern ein unbesonderer Teil der Gesellschaft."

"Gelesen werden" bedeutet, aufgrund seines äußeren Erscheinungsbildes einem Geschlecht zugeordnet zu werden.

Sophie: "Dann müssen wir uns die Frage stellen, inwiefern wir zur eigenen Sicherheit diese binären Regeln befolgen und darauf achten, binär gelesen, also von außen als Mann oder Frau wahrgenommen zu werden."

Viele wissen gar nicht, dass sie nicht-binäre Personen kennen

Maikel: "Wie viele wir wirklich sind, ist schwer zu sagen. Die Zahlen sind nicht belastbar, allein schon bei inter* Personen. Viele Menschen wollen sich nicht dem Pathologisierungsterror aussetzen. Die dritte Option sollte für alle offen sein, die sie nutzen wollen – unabhängig von der Attestpflicht. Viele halten uns für eine winzige Minderheit. Denen sage ich: Ihr kennt wahrscheinlich nicht-binäre Menschen, aber ihr merkt es ihnen nicht an. Vielen sieht man es nicht direkt an, außerdem ist es eine hohe Hürde, es zuzugeben."

Sophie: "Viele sagen mir, ich sei die erste trans* Person, die sie treffen – das glaube ich nicht. Vielen sieht man es nicht an, viele wollen sich nicht outen und achten darauf, von Fremden eindeutig als Mann oder Frau wahrgenommen zu werden."

Maikel: "Dazu kommen die Fremden, die uns ständig auf unser Geschlecht ansprechen. Da ist Berlin nicht anders als kleinere Städte. In meiner Heimatstadt Kiel ignorieren die Leute meine Erscheinung auf Teufel komm raus, in Berlin kommt eine alte Dame ganz nah auf mich zu und ruft laut 'Was sind Sie denn jetzt?' Dafür hat Berlin wiederum mehr Unterstützungsstrukturen, Vernetzungsstellen und Anlaufpunkte."

"Wir wollen doch alle dazugehören"

Sophie: "Die sind auch superwichtig! Wir wollen doch alle dazugehören – zur Familie, zur Gesellschaft, zu verschiedenen Gruppen. Dafür gibt es wiederum Leute, die in bestimmte Schubladen passen, die sich von denen distanzieren, die sich diesen Schubladen verweigern."

Maikel: "Sobald ich meine Wohnung verlasse, wird es anstrengend. Ab und zu in eine äußerliche Schublade zu passen, ist eine überlebensnotwendige Erholung für mich. Mein mir bei der Geburt zugewiesenes Geschlecht kommt allerdings, was das angeht, für mich nicht in Frage. Nicht alle haben diese Möglichkeit, sich äußerlich anzupassen – die müssen wir schützen."

Sophie: "Einmal hat mich ein Mann auf mein Geschlecht angesprochen. Als ich ihm sagte, dass ich trans* bin, hat er mir einfach in den Schritt gegriffen."

Staatliche Validierung bedeutet besseren Schutz

Maikel: "Das Ausmaß, wie wir belästigt werden, hätte ich mir früher nie ausmalen können. Wenn meine Geschlechtsidentität von staatlicher Seite aus validiert wäre, wäre ich besser geschützt. Und ich bin als weiße, akademische, nicht behinderte Person mit deutscher Staatsbürgerschaft noch extrem privilegiert und habe es im Vergleich mit ganz vielen anderen trans* Personen noch leicht. Das darf nicht vergessen werden!"

Sophie: "Während wir jetzt aber über all die Diskriminierung reden, die wir erfahren, sollen aber auch all die schönen Dinge nicht zu kurz kommen: Mit der eigenen Identität im Einklang zu sein, ist ein tolles Gefühl, dazu auch eine Gemeinschaft zu haben, die dieselben Erfahrungen gemacht hat."

Maikel: "Als die Person, die ich bin, in der Gesellschaft zu leben und angesprochen zu werden - das sollte die Mindestanforderung sein, aber es fühlt sich für mich nach Jahren der scheinbaren Handlungsunfähigkeit und Unsichtbarkeit an wie Luxus. Es macht glücklich. Und ermöglicht ein Miteinander, das Vielfalt und Freiheit fördert. Was uns unter anderem intergeschlechtliche Menschen mit ihrer Arbeit für das Gesetz ermöglicht haben, hat uns alle einen großen Schritt weitergebracht - ist aber eigentlich nur eine Grundlage, auf der nun Weiteres aufbauen kann."

Zu den Personen:
Aufgewachsen in Nürnberg, ist für Sophie Maeve Rauscher Berlin mittlerweile Zuhause geworden, in dem sie sich gerne bei verschiedenen Projekten engagiert. Sie steht mit dem Performance-Kollektiv "House of Living Colors" auf der Bühne, ist Musiker*in, Journalist*in und in der politischen Bildungsarbeit tätig. Sophie arbeitet in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei der zivilgesellschaftlichen Organisation DeutschPlus e.V. und ist Mitglied bei den Neuen deutschen Medienmachern, bei denen sie auch das No Hate Speech Movement an den Start gebracht hat.

Maikel Benjamin Drexler, ursprünglich aus Kiel, ist queerfeministischer Objekttheaterkünstler und Puppenspieler in Berlin. Er verlässt diese Basis aber auch des Öfteren und ist während und nach dem Abschluss des Puppenspielstudiums an der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" in verschiedensten Produktionen in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Polen aufgetreten. Maikel arbeitet aktuell mit dem Theaterkollektiv TokToy zusammen. In seiner Freizeit spielt er Fußball bei den Kickerinhas, die sich dafür einsetzen, trans* und inter*-freundliche Vereinsstrukturen zu etablieren. Darüberhinaus ist er in organisatorischer Funktion Teil von Nonbinary Berlin.