Raus aus der rechtsextremen Szene

„Drudel 11“ Raus aus der rechtsextremen Szene

Menschen für die Demokratie zurückgewinnen: Das ist das Ziel des Jenaer Vereins „Drudel 11“. Sebastian Jende begleitet junge Leute bei ihrem Ausstieg aus der rechtsextremen Szene – und vermittelt ihnen neue Perspektiven.

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Foto: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung

Sebastian Jende ist zurück aus dem Gefängnis – von einem Gespräch mit einem ehemaligen Klienten, der rückfällig geworden ist. Jetzt sitzt er in seinem Jenaer Büro, telefoniert mit einer besorgten Mutter. Sie hat Angst, ihren Sohn an die rechtsextreme Szene zu verlieren. Ein neuer Fall für den Vorsitzenden des Vereins „Drudel 11“. „Wir wollen junge Menschen, die einen falschen Weg eingeschlagen haben, wieder für unsere Demokratie zurückgewinnen“,  erläutert Jende das Ziel seiner Arbeit.

Aktiv gegen Hass und Gewalt

Für den Diplom-Sozialpädagogen und sein vierköpfiges Team ist es „ein wichtiger gesellschaftlicher Auftrag, Rechtsextremismus, Hass und Gewalt aktiv entgegenzuwirken“. Etwa 80 sogenannte Ausstiegswillige hat „Drudel 11“ in den vergangenen zwölf Jahren erfolgreich begleitet.

Einer von ihnen ist Michael Zeise. Betritt der 32-Jährige den Raum, steht einem ein freundlich schauender Mann in Jeans und Kapuzenpulli mit Dreitagebart und Zopf gegenüber. Zur Begrüßung zeigt Zeise ein drei Jahre altes Porträtfoto: aggressiver Blick, Schirmmütze, schwarze Jacke mit Nazi-Symbolen. „Ich bin damals rumgerannt wie eine Litfaßsäule. Wenn ich mir das jetzt ansehe, frage ich mich: ‚Was ist das für eine Person?‘“ So beschreibt Zeise seine Gedanken. „Ich bin so erleichtert darüber, dass ich aus der Szene ausgestiegen bin. Es ist eine wahnsinnige Last von mir abgefallen.“

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Video Hilfe beim Ausstieg aus der rechtsextremen Szene

Ich brauchte Hilfe

Vor drei Jahren hat sich Zeise an den Verein von Sebastian Jende gewandt. „Ich brauchte Hilfe. In meinem alten Leben habe ich nur noch Feinde und Schlechtes gesehen. Das wollte ich nicht mehr.“

Das „alte Leben“ von Michael Zeise war keine Episode: Es umfasste knapp 15 Jahre. Als Jugendlicher habe er sich als Außenseiter gefühlt, erzählt Zeise bedächtig, mit tiefer Stimme. Er sei mit „Naziskins“ in Berührung gekommen, die „auf alles eine einfache Antwort hatten, das fand ich toll“. Ob Arbeitslosigkeit in der Familie, finanzielle Sorgen, Perspektivlosigkeit: Schuld seien die „Ausländer und die Demokraten gewesen“. Sein neues Umfeld habe ihm Halt und Anerkennung gegeben. Die szenetypische Kleidung und Musik sowie die vermeintliche Kameradschaft zogen ihn an. „Das war für mich wie eine Ersatzfamilie“, sagt Zeise.

„Der Ärger mit meinen Eltern war sehr groß. Die zerknickten in ihrer Verzweiflung CDs und zerrissen T-Shirts: Das hat mich nur noch mehr provoziert.“ Mit 17 nahm Zeise das erste Mal an einem Neonazi-Aufmarsch teil – und war so begeistert, dass er sich nach seinem Realschulabschluss für ein Aktivisten-Leben entschied. Finanziell hielt er sich mit Szene-internen Jobs als Fotograf, Security-Mitarbeiter oder Kurierfahrer über Wasser.

Seine eigentliche Leidenschaft war die Musik: Als Rapper und Redner machte er sich in seiner Welt mit extremistischen und gewaltverherrlichenden Texten einen Namen. „Das war schon geil, wenn einem bei einem Event 1.000 Leute zujubelten“, erinnert sich Zeise.

Die Zweifel nahmen zu

Bei einem dieser Konzerte habe er ein Schlüsselerlebnis gehabt, was langfristig zu seinem Ausstieg führen sollte. Als er einen bekannten Szene-Funktionär einmal mehr in einem völlig desolaten Zustand gesehen habe, „da ist mir klar geworden: So will ich nicht enden“. Zeise fing an, die eigenen Texte und die rechtsextremen Parolen zu hinterfragen: „Was erzähle ich da eigentlich für einen ideologischen Mist? Passt das noch zu mir?“ Nach und nach seien ihm auch Zweifel an dem Zusammenhalt in der Szene gekommen. Als er einigen Leuten von seinen neuen Gedanken erzählt habe, hätten sie ihn als „Verräter“ bezeichnet. Schließlich habe er sich bei „Drudel 11“ gemeldet, „um endlich mit jemandem reden zu können“. Sebastian Jende erinnert sich noch gut an das erste Gespräch. Und an die vielen weiteren Begegnungen in dem langen Ausstiegsprozess. „Herr Zeise hat eine tolle Entwicklung gemacht, die mich sehr freut“, sagt Jende. Es gebe aber auch Rückschläge in der Arbeit, wenn „die Polizei vor der Tür eines Klienten steht, weil dieser erneut straffällig geworden ist“.

Keine pauschalen Lösungen

Am Anfang habe es Priorität gehabt, Sicherheitsfragen zu klären und gegenseitiges Vertrauen aufzubauen, berichtet Jende. Das gelinge vor allem, indem man frage und nicht von oben herab verurteilte oder versuchte, pauschale Lösungen anzubieten. „Das war für mich eine neue Erfahrung und hat mir sehr geholfen“, betont der heutige Aussteiger Zeise. Überzeugt hat ihn auch, dass jeder Schritt gemeinsam besprochen wurde.

Sebastian Jende und sein Team haben jahrelange Erfahrung in der Ausstiegsbegleitung. Den Verein „Drudel 11“ gibt es seit 1993. Der Begriff „Drudel“ bezeichnet kleine Bilderrätsel, die einen Gegenstand aus einer ungewohnten Perspektive zeigen. „Bei unserer Arbeit geht es ja um neue, zukunftsweisende Perspektiven“, erläutert Jende.

Kontakt zur Polizei ist wichtig

Der 51-Jährige kann auf ein großes Netzwerk zurückgreifen, das ihn bei der Arbeit unterstützt. Dazu gehören Jugendämter, Bewährungshilfe, Sozialarbeitende, Schulen – und die Polizei. Schließlich besteht für das „Drudel-Team“ und die, die dort Hilfe suchen, die Gefahr, von rechtsextremen Gewalttätern angegriffen zu werden.

„Drudel 11“ berät seit vielen Jahren Ausstiegswillige, sogar in Gefängnissen. Mit der eigenen Ausstellung „End.Täuschung“ geht das Team in Schulklassen, um Jugendliche über Rechtsextremismus zu informieren und ihnen gleichzeitig Werte und Chancen unserer Demokratie zu vermitteln. Der Bund unterstützt derartiges Engagement: Insgesamt stehen 2021 im Förderprogramm „Demokratie leben“ für rund 400 Projekte mehr als 150 Millionen Euro bereit.

Bei aller Routine und Erfahrung des Jenaer Vereins: „Jeder Fall, jede Beratung verläuft unterschiedlich“, hebt Jende hervor. Oft spiele das Umfeld eine große Rolle, wenn junge Menschen abdriften. Umso wichtiger sei es, Eltern oder Freundinnen und Freunde von Betroffenen in die Begleitung einzubeziehen. Von ihnen gehe häufig der erste Kontakt zu „Drudel 11“ aus.

Stärken jedes Einzelnen entdecken

Michael Zeise suchte aus eigenem Antrieb das Gespräch und wollte wirklich etwas verändern. „Ich wollte schon immer mal auf dem Jakobsweg wandern. Als die Berater mich dazu ermunterten, habe ich das gemacht“, berichtet Zeise ein wenig stolz.

Für einen Monat war er dann mal weg – um über sein Leben nachzudenken. Zurück kam er bestärkt darin, endgültig aussteigen zu wollen. „Auf der Wanderung habe ich viele Menschen kennengelernt – aus verschiedenen Kulturkreisen und mit unterschiedlichen Hautfarben. Dafür bin ich sehr dankbar“, versichert Zeise. In seinem „alten Leben“ hätte er sich solche bereichernden Begegnungen nicht vorstellen können. „Ich war völlig verblendet.“

Mit Hilfe von „Drudel 11“ hat Michael Zeise einen neuen Weg gewählt. Er will sein Abitur machen, arbeitet an einem Buch-Projekt und betätigt sich auch wieder als Musiker – diesmal mit friedfertigen Liedtexten, in denen er sich unter anderem mit seinem Ausstieg auseinandersetzt. Sich auf die eigenen Stärken besinnen und sie in positive Energie umwandeln: Dieses Ziel verfolgt Sebastian Jende bei allen Klienten.

Nun, am frühen Abend, macht Sebastian Jende „Schluss für heute“. Feierabend hat er aber nicht. Sein Handy bleibt auf Empfang – für Menschen, die wieder eine Zukunftsperspektive haben wollen.