Abkommen im Interesse beider Seiten

Im Wortlaut: Merkel Abkommen im Interesse beider Seiten

Die Kanzlerin hält eine Zusammenarbeit mit der Türkei in der Flüchtlingskrise weiterhin für notwendig. "Die Türkei hat einen berechtigten Anspruch darauf, dass wir die Lasten teilen", sagte Merkel in einem Interview. Kritische Entwicklungen innerhalb der Türkei werde sie dennoch ansprechen - öffentlich wie nichtöffentlich.

  • Interview mit Angela Merkel
  • Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Bundeskanzlerin Angela Merkel

Merkel ist überzeugt: Das EU-Türkei-Abkommen ist im Interesse beider Seiten.

Foto: Imo/photothek.net

Das Interview im Wortlaut:

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS): Frau Bundeskanzlerin, Sie werden am Montag den türkischen Staatspräsidenten treffen. In den letzten Wochen ist einiges passiert: Da waren der Fall Böhmermann, der erzwungene Rücktritt des türkischen Regierungschefs und dann hat der Präsident auch noch die Vereinbarungen in der Flüchtlingskrise in Frage gestellt. Haben Sie sich in Recep Tayyip Erdogan geirrt?

Angela Merkel: Nein, ich kenne ihn seit vielen Jahren und in der Tat werde ich in Istanbul am Humanitären Gipfel der Vereinen Nationen teilnehmen und dort auch mit dem türkischen Staatspräsidenten sprechen, und zwar über alle wichtigen Fragen. Ziel des EU-Türkei-Abkommens zur Flüchtlingspolitik sind eine faire Lastenteilung und der Schutz unserer EU-Außengrenze.

FAS: Ist das Abkommen denn wirklich im Interesse beider Seiten? Nur dann wäre es ja stabil.

Merkel: Ich bin fest davon überzeugt, dass es im deutschen, im europäischen und im türkischen Interesse ist, wie im übrigen auch ganz besonders im Interesse der betroffenen Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, damit sie sich nicht weiter in die Hände von Schleppern begeben müssen. Die Türkei ist ein wichtiger Partner in Europas direkter Nachbarschaft. Im übrigen: Selbst wenn wir in Europa bereits eine gemeinsame Flüchtlingspolitik genau nach meinen Vorstellungen machen würden, also bis hin zur fairen und solidarischen Verteilung von Flüchtlingen auf alle Mitgliedsstaaten, wäre ein solches Abkommen immer noch notwendig, weil wir nur so an den Fluchtursachen ansetzen können. Wir sollten Flüchtlingen die Chance geben, so nah an ihrer Heimat wie möglich Schutz zu finden. Da hat die Türkei mit drei Millionen Syrern im Land sehr große Verantwortung übernommen. Sie hat einen berechtigten Anspruch darauf, dass wir die Lasten teilen. Es kann auch nicht im Interesse der Türkei sein, wenn entlang ihrer Küste eine der größten Menschenschmuggelaktivitäten stattfindet, die man sich vorstellen kann, und weiter viele Menschen ertrinken. Die Ägäis nicht diesen Kriminellen zu überlassen, das ist einer der Hauptbeweggründe hinter dem EU-Türkei-Abkommen, und da hat es große Fortschritte erbracht. Wenn wir Europäer unsere eigenen, oft beschworenen Werte ernstnehmen, dann müssen wir zu unserer Mitverantwortung stehen – für die Aufnahme der Flüchtlinge ebenso wie für die Bekämpfung der Fluchtursachen.  

FAS: Und das reicht aus, damit sich beide Seiten an das Abkommen halten?

Merkel: Es gibt natürlich wechselseitige Abhängigkeiten, Sie können es auch einfach die Notwendigkeit zum Interessensausgleich nennen. Das ist Politik - in einer immer enger vernetzten, miteinander verbundenen Welt erst recht. Das gilt auch für unser Verhältnis zu Libyen, Ägypten und vielen anderen Staaten. Weil wir mit anderen Staaten gemeinsame Interessen haben, bedeutet ein fairer Interessensausgleich natürlich trotzdem nicht, dass wir in allem mit ihrer Politik übereinstimmen. Wir werden deshalb immer auch Kritisches in der Entwicklung eines Landes ansprechen, und zwar öffentlich wie nichtöffentlich.

FAS: Erdogan hat aber auch diesen harten Satz an die Adresse der EU gerichtet: Wir gehen unseren Weg, geh Du Deinen Weg. Das klang gerade nicht nach wechselseitiger Abhängigkeit, sondern fast schon nach Scheidung.

Merkel: Ich konzentriere mich darauf,  genau zu beobachten, wie die Türkei mit ihren Zusagen umgeht. Bis jetzt setzt sie sie verlässlich um, und natürlich werde ich mit dem türkischen Präsidenten über den Stand der Dinge sprechen. Ich sehe jedenfalls jeden Grund, dass Europa seinerseits seine Zusagen einhalten sollte.

FAS: Sie kennen Erdogan schon sehr lange, er war während Ihrer gesamten Amtszeit da, erst als Ministerpräsident, dann als Präsident. Können Sie einschätzen, was ihn im Innersten bewegt, wenn es um Europa und die Zukunft der Türkei geht?

Merkel: Psychologische Analysen sind nicht meine Aufgabe. Meine Aufgabe und die Rolle der Politik insgesamt ist es, Unterschiede festzustellen und Gemeinsamkeiten auszuloten. Es gibt einfach ein klares Interesse Deutschlands und Europas an einer intensiven Zusammenarbeit mit der Türkei, wie auch umgekehrt. In Deutschland leben drei Millionen türkischstämmige Menschen, die Türkei ist Nachbarland an den EU-Außengrenzen. Sie hat in den letzten Jahren einen beachtlichen wirtschaftlichen Aufstieg hingelegt. Daran hat auch der türkische Präsident seinen Anteil. Aber natürlich bereiten uns einige Entwicklungen in der Türkei große Sorgen. So ist der Prozess der Annäherung und Aussöhnung mit den Kurden im letzten Jahr abgebrochen, stattdessen gibt es wieder gewaltsame Auseinandersetzungen. Die PKK ist eine terroristische Vereinigung, das ist auch unsere deutsche Sichtweise, aber wir wollen, dass die kurdische Bevölkerung ihren gleichberechtigten Platz und eine gute Zukunft in der Türkei hat.

FAS: Wenn im türkischen Parlament, darauf hingearbeitet wird, die Immunität von Abgeordneten aufzuheben, insbesondere von kurdischen Politikern, sind wir dann nur Zuschauer? Oder bereden Sie das auch mit dem türkischen Präsidenten?

Merkel: Ich will meine Istanbuler Gespräche nicht vorwegnehmen, aber ich spare grundsätzlich keine Themen aus. Die Entscheidung des türkischen Parlaments zur Aufhebung der Immunität von Abgeordneten ist mit schwerwiegenden Folgen verbunden, gerade für kurdische Politiker. Das erfüllt mich mit großer Sorge. Auch bei den Verhandlungen für das EU-Türkei-Abkommen sprechen wir immer auch über Fragen von Demokratie und Rechtstaatlichkeit. Die Grundlagen dieses Abkommens sind aus sich heraus eindeutig und sind von beiden Seiten zu beachten. Wir vertreten unsere Werte und Interessen und haben dabei etliches für die betroffenen Menschen erreicht, etwa die Arbeitserlaubnis für syrische Flüchtlinge in der Türkei. Wir können mit europäischen Geldern zu besserer Schulbildung für syrische Flüchtlingskinder beitragen. Und indem wir bereit sind, freiwillige humanitäre Kontingente aufzunehmen, entziehen wir den Menschenhändlern in der Ägäis die Geschäftsgrundlage.  

FAS: Verstehen Sie denn die Kritik, die hierzulande an den türkischen Verhältnissen geübt wird?

Merkel: Ja, selbstverständlich. Die Kritik spiegelt darüberhinaus ja auch ein großes Interesse an der Türkei wider. Die Türkei ist unser Partner in der Nato, den Konflikt in Syrien bekommt das Land hautnah zu spüren. In der Grenzstadt Kilis schlagen regelmäßig Granaten ein, ein Teil der Grenze wird vom IS beherrscht. Das muss man sich vor Augen führen. Es ist immer besser, wenn man miteinander spricht als übereinander. Was mich irritiert, ist, dass ich manchmal fast so etwas wie eine Freude am Scheitern beobachte. Erst wurde gesagt, das Abkommen komme nie zustande, wir brauchten es gar nicht erst zu versuchen. Als wir es dann hatten, hieß es, das werde nie funktionieren. Inzwischen kommen um 90 % weniger Flüchtlinge in Griechenland an. Wenn es neue Probleme gibt, heißt es sofort, jetzt sei aber endgültig klar, dass das Abkommen wirklich scheitern müsse. So denke und arbeite ich nicht. Die Umsetzung des Abkommens ist ein Prozess, wir werden weiter konsequent daran arbeiten und wenn manches länger dauert, etwa die Reisefreiheit für Türken, weil die Voraussetzungen noch nicht erfüllt sind, dann sehen wir, wie wir damit klar kommen und welchen nächsten Schritt wir gehen können.

FAS: Die Türkei ist bislang nicht bereit, ihre Anti-Terror-Gesetze einzuschränken. Gesetze, die auch gegen Journalisten und Oppositionspolitiker eingesetzt werden. Müssen wir auf solche Änderungen dringen, weil die Türkei unser Nachbarland ist, oder sollten wir vorsichtiger sein, weil die Türkei kein EU-Mitgliedsland ist?

Merkel: Wir reden über die Visafreiheit schon seit vielen Jahren. Beide Seiten haben 2013 einen Katalog mit Bedingungen erarbeitet, die dafür erfüllt werden müssen. Das betrifft nun mal die Standards in der Türkei und erfordert dort Änderungen.

FAS: Diese Freude am Scheitern, von der Sie sprechen, ist das eine deutsche Eigenheit?

Merkel: Das sehe ich nicht nur bei uns im Land. Mein Politikverständnis ist hingegen: Ich will etwas zum Gelingen beitragen. Das ist  oft genug sehr mühsam und dauert lange. Wenn Schwierigkeiten auftauchen, versuche ich sie zu überwinden oder andere Wege zu finden, damit wir es schaffen, eine Herausforderung zu meistern.

FAS: Die Gegner ihrer Politik sagen: Das Flüchtlingsproblem wurde schon durch die Schließung der Westbalkanroute gelöst.

Merkel: Ohne jeden Zweifel ging, wie ich schon oft gesagt habe, mit der Schließung der griechisch-mazedonischen Grenze die Zahl der in Deutschland ankommenden Flüchtlinge deutlich zurück. Eine nachhaltige Lösung aber war das nicht. Ich war und bin unverändert eine Befürworterin eines gesamteuropäischen Ansatzes, der alle EU-Mitgliedstaaten einschließt, gerade wenn sie von einem Problem besonders betroffen sind. Wenn aber wie bei der griechisch-mazedonischen Grenze einige Staaten ein Vorgehen ohne Griechenland und zu Lasten Griechenlands wählen, so ist das keine gesamteuropäische Lösung. Dieses Vorgehen führte dazu, dass zwischen dem 20. Februar und dem 20. März ca. 45.000 Flüchtlinge nach Griechenland kamen und dort strandeten. Dieser starke Zugang von Flüchtlingen belastet Griechenland bis heute massiv, weil die Verteilung der Flüchtlinge auf andere EU-Staaten noch immer nicht wirklich gut vorangekommen ist. Das kann kein europäisches Prinzip sein, dass sich einige Länder zusammentun, um zu versuchen, ein Problem gegen den ausdrücklichen Willen und damit zu Lasten eines anderen Mitgliedslands, noch dazu eines Schengen-Landes, zu lösen. Umso wichtiger ist es, dass CDU, CSU und SPD schon Anfang November gemeinsame Positionen für eine gesamteuropäische Lösung vereinbart hatten, da war der Schutz der EU-Außengrenze ein ganz wichtiger Punkt. Auch das Abkommen mit der Türkei gehörte dazu, einschließlich der Visa-Befreiung, humanitärer Kontingente und finanzieller Hilfen für Flüchtlinge in der Türkei.

FAS: Die Ägäis war stets ein ganz besonderer Raum, ein kulturelles und zivilisatorisches Zentrum. Das war so in der hellenischen Zeit, in Byzanz, im Osmanischen Reich. Erst seit der griechischen Unabhängigkeit und dem damit beginnenden Zerfall der Osmanenherrschaft ist diese Region Quelle vieler Misshelligkeiten und Instabilitäten. Sehen Sie das Abkommen mit der Türkei auch als Türöffner für unsere Beziehungen mit anderen Ländern des Mittelmeerraums, möglicherweise sogar als Chance für Stabilität?

Merkel: Deutschland liegt in der Mitte Europas. Die EU aber reicht von Grönland bis zum Mittelmeer. Wie gut wir in Europa leben werden, hängt entscheidend auch damit zusammen, welches Verhältnis wir zu den Staaten des Mittelmeerraums entwickeln. Da ist ja nicht nur die Türkei, da sind Syrien, Libanon, Jordanien, Ägypten, Israel, Marokko, Algerien, Tunesien. Man muss alles daran setzen, nicht die Gegensätze zu verstärken, sondern zusammenzuarbeiten, gemeinsame Lösungen zu finden. Der Nato-Einsatz in der Ägäis ist ein Beispiel dafür. Da arbeiten jetzt zwei Nato-Staaten zusammen, Griechenland und die Türkei, obwohl es Spannungen zwischen beiden Ländern gibt. Jetzt müssen wir beweisen, ob wir glaubwürdig umsetzen, was wir in unseren Sonntagsreden immer sagen: unsere Wertegebundenheit, unseren humanitären Ansatz, den Schutz der Menschenwürde.

FAS: Hat Europa nicht auch eine Schuld abzutragen? Der Nationalismus, die willkürlichen Grenzziehungen in der arabischen Welt – das alles kam ja nicht von ungefähr. 

Merkel: In einer Kategorie Schuldabtragen denke ich bei der Flüchtlingspolitik nicht, auch wenn wir uns der langen Linien der Geschichte natürlich stets bewusst sein müssen. Die Entstehung der Europäischen Union ist das herausragende Erfolgsprojekt nach dem Zweiten Weltkrieg, das Gräben und sogenannte Erbfeindschaften überwunden hat. Die Bundesregierung hatte 100 Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs die Westbalkan-Konferenz ins Leben gerufen. Sie findet in diesem Jahr zum dritten Mal statt, nun von Frankreich organisiert. Auf dem Westbalkan kann man sehen, wie schnell alte Gräben wieder aufreißen können. Immer geht es darum, Trennendes zu überwinden und Gemeinsames zu fördern, auf der Grundlage unserer Werte und Interessen.

FAS: Nun hat es im letzten Jahr einen politischen Klimawandel in Deutschland gegeben, vielleicht in ganz Europa, eine starke Polarisierung. Überzeugungen, die die in solchen Phasen gebildet werden, bestehen in den Menschen oft über Jahrzehnte fort.

Merkel: Es ist eine Zeit, in der sich beweisen muss, ob wir zu politischen Grundüberzeugungen stehen, ja oder nein. Es gibt konstitutive Grundüberzeugungen der Bundesrepublik Deutschland, für mich sind das unser Bekenntnis zu den unveräußerlichen Rechten und Freiheiten im Grundgesetz, zur sozialen Marktwirtschaft, zur EU, zur Nato, zum Existenzrecht Israels. In diesem Rahmen muss jeder Bundeskanzler seine Entscheidungen treffen. Ja, die letzten Monate haben zu einer Polarisierung der Gesellschaft geführt. Immer noch sagt aber eine überwältigende Mehrheit der Menschen, dass sie bereit sind, jemandem, der wirklich Schutz vor Krieg, Terror und Verfolgung sucht, auch Zuflucht zu gewähren. Darauf können wir stolz sein. Im vergangenen Jahr haben wir die Erfahrung gemacht, dass die Globalisierung gewissermaßen bis vor unsere Haustüren gekommen ist. Wir werden lernen, wie unsere europäischen Außengrenzen besser zu schützen sind, wie wir Fluchtursachen intensiver bekämpfen: Kriege, Hunger, Not, den Klimawandel. Wenn die Menschen sehen, dass wir es damit ernst meinen, warum sollten sie dann nicht ihre Meinung ändern. Sehen Sie, meine Partei, die CDU trägt in ihrem Namen den Gedanken der Union. Das ist etwas Einladendes. Die Union hat immer Menschen zusammengebracht: schichten- und konfessionsübergreifend, Protestanten und Katholiken, Arbeitnehmer und Unternehmer. Diese Einladung der Christlich Demokratischen Union, Polarisierung zu überwinden, richtet sich an alle, auch an Juden, Muslime, Atheisten, wenn sie sich zu unseren Werten und Grundsätzen bekennen.

FAS: Trotzdem ist neben der Union mit der AfD eine neue politische Kraft entstanden. Der CSU-Vorsitzende Seehofer macht dafür Ihre Politik in der Flüchtlingskrise verantwortlich. Horst Seehofer beruft sich auf den Satz von Franz Josef Strauß, dass rechts von der Union keine demokratisch legitimierte Kraft entstehen dürfe. Was bedeutet dieser Satz für Sie?

Merkel: Der Satz ist einerseits richtig, weil wir uns als Union stets so verstehen müssen, dass wir zur Mitte hin integrieren, auch indem wir zum Beispiel als Partei der Sicherheit Lösungen für die innere und äußere Sicherheit anbieten, Ordnung und Steuerung in als ungeordnet empfundene Zustände bringen. Damit geben wir konkrete Antworten auf reale Sorgen und Anliegen der Menschen. Wenn der Satz von Strauß aber andererseits auch so verstanden werden kann, dass im Ergebnis Prinzipien relativiert oder gar aufgegeben werden müssten, damit Menschen sich nicht von der Union abwenden, Prinzipien, die für unser Land wie auch die Union konstitutiv sind, die den Kern unserer Überzeugungen ausmachen, dann gilt dieser Satz für mich nicht. Die europäische Einigung mit gemeinsamer Währung und Reisefreiheit, die Wertegemeinschaft Nato, die Wahrung der Menschenwürde, gerade auch für Menschen in Not, das dürfen wir nie aufgeben. CDU und CSU können im übrigen am besten integrieren, wenn wir gemeinsame Lösungen finden.

FAS: Was Sie da sagen, erinnert an Ihre Neujahrsansprache 2015 zu Pegida: Folgt denen nicht, denn sie haben viel Hass in ihren Herzen.

Merkel: Wir haben Meinungs- und Demonstrationsfreiheit, aber die Bürger haben auch ein Recht darauf, meine Haltung zu kennen.

FAS: Über die Frage, ob wir Flüchtlinge aus Syrien aufnehmen, obwohl wir nach den Dublin-Regeln nicht dazu verpflichtet waren, gab es einen fundamentalen Dissens. Wird der von Dauer sein?

Merkel: Dieser Dissens ist nicht zu leugnen. Für mich ist in solchen Situationen wichtig, dass es gelingt, trotz dieses Dissenses zu sehen, dass es so viel mehr Gemeinsamkeiten zwischen CDU und CSU als Unterschiede gibt.

FAS: Die Flüchtlingslage in Deutschland hat sich wesentlich verbessert: Es kommt kaum noch jemand, die Aufnahmelager stehen leer und nun wird schon gerätselt, ob wir überhaupt so viele Beamte brauchen. Trotzdem steigt ihre Partei in Umfragen nicht, sie fällt sogar.

Merkel: Die Welt zeigt immer noch ein hohes Maß an Gefährdungen, an Gewalt und Krieg. Wir brauchen uns nur die Lage in Libyen anzusehen. Die Sorgen bleiben. Früher stand die Arbeitslosigkeit im Mittelpunkt, heute ist es unsere Sicherheit oder unser Verhältnis zum Islam. Wir müssen immer wieder sagen, dass das Grundgesetz offen ist für alle, aber auch für alle verpflichtend gilt. Angriffe auf Asylbewerberunterkünfte sind ebenso verboten wie die Übergriffe in der Kölner Silvesternacht. Wir stocken unsere Polizei auf, um den Menschen noch mehr Sicherheit zu geben. Wir bemühen uns um eine bessere und frühere Integration, um aus Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Diese Prozesse brauchen Zeit.

FAS: In Pakistan, nur ein Beispiel,  haben Händler Bilder von Ihnen aufgestellt. Sie werden dort verehrt, geliebt. Aber Sie werden neuerdings auch gehasst, zumal in Deutschland. Wie gehen Sie damit um?

Merkel: Als Bundeskanzlerin muss ich mit beidem leben. Ich arbeite an den Lösungen für die Probleme und Herausforderungen, vor denen wir stehen, und ich lebe mit den Reaktionen. Ich nehme sie wahr, aber sie prägen nicht meine Entscheidungen.  

Das Interview führten Thomas Gutschker und Volker Zastrow für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung .