Darum brauchen wir die EU
70 Jahre Frieden, offene Grenzen und Wohlstand: Die EU ist so allgegenwärtig, dass wir ihre Vorteile oft für selbstverständlich halten. Doch wie sähe unser Leben aus, wenn es die Europäische Union nicht gäbe?
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Wir werfen einen Blick auf verschiedene Szenarien: Was wäre, wenn die EU keine so starke Gemeinschaft wäre? Was, wenn sich jedes Land allein den globalen Herausforderungen stellen müsste? Schnell zeigt sich: Die EU macht unser Leben lebenswerter.
Wer die temporär wiedereingeführten Grenzkontrollen während der Corona-Pandemie vor Augen hat, weiß welche Zustände uns ohne einheitliche Reise- und Grenzregeln drohen würden. Es gäbe lange Staus an den Grenzen und Waren würden verspätet geliefert werden. Die Wirtschaft läge auf Eis, Supermarktregale blieben zeitweise leer. Und nicht zuletzt: Auch der persönliche Austausch zwischen den Bürgerinnen und Bürgern in der EU würde leiden, wenn Grenzübertritte mit großem Aufwand verbunden wären.
Ob als Tourist, Berufspendlerin oder LKW-Fahrer: Wir alle können als EU-Bürgerinnen und -Bürger die gemeinsamen Binnengrenzen der EU-Mitgliedsstaaten an jeder Stelle ohne Personenkontrolle überschreiten. Damit profitieren wir von den gemeinsamen Reise- und Grenzregeln in der EU.
Denn zum Glück gibt es für die Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen, wie während der Corona-Pandemie, sehr strenge Kriterien, die für alle Mitgliedstaaten gelten. Dazu gehört auch, dass sie nur in außergewöhnlichen Umständen und immer nur zeitlich begrenzt eingeführt werden können. All das ist in der EU-weit verbindlichen Verordnung Schengener Grenzkodex festgehalten.
Deutschland ist eine Handelsnation: Mehr als die Hälfte der Exporte gehen in die EU-Länder und fast jeder vierte Arbeitsplatz in Deutschland hängt vom Export ab. Gleichzeitig ist Deutschland in der EU ein sehr begehrter Handelspartner. Für 16 der 27 EU-Mitgliedstaaten war Deutschland 2021 das Hauptzielland ihrer Warenexporte.
Ohne Binnenmarkt hätten unsere Unternehmen keinen einfachen Zugang zu einem Markt mit annähernd 450 Millionen Menschen. Stattdessen müssten sie für jeden Mitgliedsstaat andere Regeln beachten – und damit 27 unterschiedliche Zugänge. Ein immens großer Aufwand und eine Schreckensvision für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Ohne die vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes – den freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital – müssten wir Zölle zahlen und Visa beantragen. Preise würden steigen, die Arbeitslosigkeit ebenso.
Deutschland hat eine starke Wirtschaft. Aber als einzelnes Land Handelsabkommen mit Wirtschaftsmächten wie den USA oder China aushandeln? Unsere Verhandlungsposition wäre viel schwächer als im Verbund von allen EU-Mitgliedstaaten. Der EU-Binnenmarkt ist mit rund 450 Millionen Verbraucherinnen und Verbrauchern einer der größten gemeinsamen Wirtschaftsräume der Welt. Und somit ein Partner, an dem keine globale Wirtschaftsmacht vorbeikommt.
Damit haben wir auch die Macht, auf eine wertebasierte Handelspolitik hinzuwirken – also Wirtschaftswachstum mit sozialer Gerechtigkeit, Menschenrechtsstandards und Rechtsstaatlichkeit zu verbinden. Wir können auf Normen für den Arbeits-, Umwelt- und Gesundheitsschutz bestehen. Gemeinsam mit den EU-Mitgliedstaaten bestimmen wir die Weltwirtschaft mit – als einzelner Staat eher nicht.
Rund 350 Millionen Menschen weltweit nutzen den Euro täglich und machen ihn damit zur am zweithäufigsten verwendeten Währung der Welt. In 20 der 27 Mitgliedstaaten können wir mit dem Euro als offizielle Währung bezahlen. Das erspart uns bei einer Reise durch Europa hohe Wechselgebühren und intransparente Preise.
Auch die deutsche Wirtschaft würde sehr darunter leiden, wenn jedes Land seine eigene Währung hätte. Unsere stark exportorientierte Wirtschaft hätte mit Wechselkursschwankungen zu kämpfen. Sie müsste jedes Jahr erhebliche Kosten für die Transaktionen aufwenden. Die Folge: Die Preise für die Verbraucherinnen und Verbraucher würden steigen.
Der mit dem Euro verbundene Wegfall der Handelshindernisse in der EU hat zu einer Vertiefung des Binnenmarktes geführt. So gingen beispielsweise 2021 knapp 40 Prozent der deutschen Exporte in Länder der Eurozone. Das schafft wiederum Arbeitsplätze in Deutschland. Ohne eine gemeinsame Währung wäre das nicht mehr der Fall.
Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden schützt auch jeden von uns in Deutschland – denn Kriminalität organisiert sich längst international. Der Austausch von DNA und Fingerabdruckdaten sowie Daten aus Kfz-Registern steigert die Effizienz der EU-weiten Strafverfolgung. Europol, das „Europäische Polizeiamt“, stimmt die Polizeiarbeit der Mitgliedstaaten untereinander ab: Schwere Kriminalität und Terrorismus lassen sich europaweit besser bekämpfen.
Seit 2021 verfolgt eine Europäische Staatsanwaltschaft Straftaten, die unsere finanziellen Interessen gefährden, darunter Betrug, Korruption, Geldwäsche. Die EU wappnet sich zudem gegen Cyberangriffe – denn nicht nur Infrastruktur und Wohlstand müssen wirksam gegen Angriffe aus dem Internet geschützt werden. All das könnte ein Land alleine nicht erreichen.
Umweltprobleme machen nicht an Landesgrenzen halt. Die EU-Umweltnormen schützen Gesundheit und Lebensqualität der Menschen in ganz Europa. So sind dreckige Gewässer und Phosphate im Trinkwasser heute kaum mehr vorstellbar. Ohne gemeinsame Regeln wären solche Erfolge viel schwieriger zu erzielen. Auch die Belastung mit Abgasen in den Städten gehen vernehmbar zurück. Um die Luft rein zu halten, hat die EU 2005 Höchstwerte etwa für Schwefeldioxid und Blei festgelegt.
Noch anzupacken ist etwa der Abrieb von Reifen: Feinstaub, der die Luftqualität beeinträchtigt. Dafür entlasten höhere Recyclingquoten die Umwelt: Es fallen Millionen von Tonnen jährlich weniger an Abfällen aus Kunststoffen und Metallen an.
Auch für den Klimaschutz bündelt die EU ihre Kräfte: Sie setzt sich gemeinsame Klimaziele, sorgt für hohe Klimaschutzstandards in der europäischen Industrie, beispielsweise durch Grenzwerte für den CO2-Ausstoß bei Fahrzeugen und unterstützt klimafreundliche Projekte wie den Ausbau der Wasserstoffindustrie. Wichtig dafür ist auch der Net Zero Industry Act, der die Transformationstechniken wie z. B. Solar- und Windenergie, Batterieherstellung, Wärmepumpen in der EU beschleunigen soll.
Beim Einkauf gäbe es kein EU-weites Gewährleistungsrecht. Dieses Recht sichert den Kundinnen und Kunden zu, dass gekaufte Ware nachgebessert, ersetzt oder der Preis gemindert oder erstattet werden muss, wenn ein Artikel mangelhaft ist. Ohne gemeinsamen Verbraucherschutz gäbe es auch keine kostenlose Garantie von mindestens zwei Jahren oder gar das 14-tägige Widerrufsrecht – egal, ob man im Laden oder online kauft.
Es gäbe ebenso wenig das EU-einheitliche Energielabel, das leicht erkennbar Informationen über die Energieeffizienz eines elektronischen Gerätes gibt. Nur mühsam wären Kaufentscheidungen mit Blick auf Preiswertigkeit und Treibhausgasemissionen zu fällen.
Fehlen würde zudem das Ökodesign-Gesetz der EU. Dieses Gesetz fordert den Aspekt der Nachhaltigkeit bereits bei der Entstehung von Produkten ein. Bis 2030 würde somit allein Energie von geschätzten 230 Millionen Tonnen Rohöläquivalenten EU-weit nicht eingespart werden.
Auch beim Reisen würden viele Vorteile wegfallen: Wenn eine Flug- oder Bahnreise in einem anderen EU-Land ausfällt, würden die Kosten nicht unbedingt erstattet werden. Ebenso gäbe es nicht zwangsläufig Entschädigungen, wenn sich die Reise erheblich verzögert. Auch der nationale Führerschein würde nicht in ganz Europa automatisch anerkannt werden.
Ganz praktisch: Im Krankheitsfall während eines Urlaub in Europa, ist es gut, dass es die Europäische Krankenversicherungskarte gibt. Denn im europäischen Ausland gilt, dass dringende Gesundheitsversorgung zu denselben Bedingungen und Kosten bereitgestellt wird wie für die Versicherten des jeweiligen Landes. Wer in Deutschland gesetzlich versichert ist, muss die Europäische Krankenversicherungskarte nicht beantragen – sie ist automatisch auf der Rückseite der Versichertenkarte aufgedruckt.
Ansonsten gilt: Gesundheitsversorgung funktioniert normalerweise gut auf nationaler Ebene. Aber die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass es Situationen gibt, in denen es wichtig ist, über Ländergrenzen hinweg zusammenzuarbeiten. Zum Beispiel, um gemeinsam Impfstoffe auf dem Weltmarkt zu beschaffen. Oder mit einem gemeinsamen digitalen Impf-Zertifikat sicheres Reisen innerhalb der EU möglich zu machen.
Und für die Zukunft? Geplant ist ein „Europäischer Raum für Gesundheitsdaten“. Das ist wichtig angesichts des enormen Digitalisierungstempos. Mit gemeinsamen europäischen Regeln sollen Menschen in Europa die Kontrolle über ihre Gesundheitsdaten behalten und überall in der EU eine bessere Gesundheitsversorgung bekommen.