Interview
Der Theologe Ehrhart Neubert erzählt über die Geburtsstunde des "Demokratischen Aufbruchs" in seiner Privatwohnung. Dort trafen sich am 1. Oktober 1989 Bürgerrechtler, um einen Aufruf zur demokratischen Umgestaltung der DDR zu unterzeichnen.
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Herr Dr. Neubert, am 1. Oktober 1989 war Ihre Privatwohnung in Berlin ein ganz besonderer Ort...
An diesem Tag haben wir in meiner Wohnung den "Demokratischen Aufbruch" (DA) gegründet. Wir hatten das gut vorbereitet. Über 80 Leute sollten kommen, und zum Teil waren die auch alle angetreten. Allerdings hat in der letzten Minute der Staatssicherheitsdienst davon erfahren und hat dann die Wohnung abgesperrt und ein Auto mit Schwerbewaffneten – mit Maschinengewehren – vor dem Haus postiert. Es kamen nur 17 rein, die dann den DA gründeten.
Aber immerhin 17 haben es geschafft. Wie sind die an der Stasi vorbeigekommen?
Wir hatten einen Scheintreffort organisiert. Die 80 Leute sind in die Samaritergemeinde zu Rainer Eppelmann gefahren. Dort erst kriegten sie den Zettel, wo sie hin sollten. Irgendein Spitzel muss dabei gewesen sein. Der hat dann diesen Zettel auch offenbar der Stasi gegeben. Da gab es eine Wettfahrt: Wer war zuerst bei mir in der Wohnung? Die ersten 17 kamen halt noch rein, und dann kam auch schon die Stasi mit ihren Autos und hat dann dicht gemacht.
Warum haben Sie überhaupt den "Demokratischen Aufbruch" ins Leben gerufen, es gab doch schon das "Neue Forum"?
Wir hatten auch mit den Leuten vom "Neuen Forum" im Vorfeld gesprochen, Ende August. Die ersten Pläne gab es schon im Juli zur Gründung des "DA", aber das "Neue Forum" hatte ein völlig anderes Konzept – ein zivilgesellschaftliches Dialogkonzept. Wir wollten gleich deutlich mehr politische Inhalte haben, und insofern gab es da keine Möglichkeit mit dem "Neuen Forum" zu kooperieren. Aber wir wollten auch nicht mit der entstehenden sozialdemokratischen Partei zusammenarbeiten, sodass wir dann zur eigenen Gründung gegangen sind.
Der "Demokratische Aufbruch" wollte im Oktober 1989 noch einen reformierten Sozialismus. Um die Staatsmacht nicht zu sehr zu provozieren, oder hielten Sie den Sozialismus tatsächlich noch für reformierbar?
Wir haben über ein Jahrzehnt geglaubt, dass wir den Sozialismus reformieren könnten, bzw. wir haben nicht gedacht, dass der Sozialismus überhaupt zusammenbrechen würde. So wie niemand gemeint hat, die DDR verschwindet einfach. Wir dachten, in kleinen Schritten müsste es uns gelingen, den Kommunisten etwas mehr Freiheit abzudrücken und abzugewinnen. Darum gab es immer noch diese Vorstellung, dass man den Sozialismus demokratisieren könnte.
Das hat sich dann spätestens mit dem Mauerfall erledigt. Für einen Großteil der Mitglieder des "Demokratischen Aufbruchs" war dann der Sozialismus obsolet geworden.
Von deutscher Einheit war damals, im Oktober 1989, auch noch nicht die Rede. War das noch kein Thema für Sie? Im Dezember 1989 hat sich der "DA" dann dazu bekannt.
Im September/Oktober 1989 haben wir in unseren Papieren gehabt: Für uns ist die deutsche Frage offen. Wir glaubten damals, dass die Einheit dann zu erringen wäre, wenn man quasi ein neutrales Deutschland schaffen würde. Wenn die Sowjets aus der DDR abzögen und die Westmächte aus dem Westen, dass dann aus freien Wahlen eine neutrale, deutsche Republik hervorgeht.
Ich meine, das war natürlich utopisch, aber es hat sich dann auch schnell gezeigt, dass es kein realistischer Weg war. Aber über die deutsche Frage haben wir intensiv nachgedacht – wenn auf dem falschen Weg –, aber wir haben nach Wegen gesucht, wie es möglich sein könnte. Der "DA" war dann, glaube ich, auch die Oppositionsgruppe, die sich am schnellsten für eine Einheit auf westlicher Basis ausgesprochen hat.
Pfarrer Ehrhart Neubert seit 1979 Mitglied oppositioneller Friedenskreise, Ende der 80er Jahre Referent beim Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR, zuletzt Fachbereichsleiter in der Stasi-Unterlagenbehörde, heute im Ruhestand. Zahlreiche Veröffentlichungen, unter anderem "Unsere Revolution – die Geschichte der Jahre 1989/90".