Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der Eröffnung des 20. internationalen literaturfestivals berlin (ilb)

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Im Wortlaut Rede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der Eröffnung des 20. internationalen literaturfestivals berlin (ilb)

"Das Jubiläumsprogramm des ilb lädt dazu ein, die verbindende, Grenzen überwindende Kraft der Literatur zu feiern", freute sich Monika Grütters anlässlich der Eröffnung des Festivals. "Dass das Festival zu einem großen Teil analog stattfindet, ist ein Hoffnungsschimmer für jeden Kulturliebhaber mit Entzugserscheinungen, aber auch und vor allem für die vielen Künstlerinnen und Künstler, die auf Live-Auftritte vor Publikum angewiesen sind", betonte sie in ihrer Rede. 

Mittwoch, 9. September 2020

Ob im Lockdown mehr Weltliteratur als sonst geschrieben wurde, wird sich erst bei künftigen Ausgaben des internationalen literaturfestivals berlin zweifelsfrei feststellen lassen. Zu vermuten ist auf jeden Fall, dass im Lockdown mehr Weltliteratur als sonst gelesen wurde. In Berlin, wo die Buchläden durchgehend geöffnet bleiben durften, berichteten manche Buchhändler von einer Nachfrage wie sonst nur zur Vorweihnachtszeit, ja von regelrechten Hamsterkäufen. Und wer in Tolstois „Krieg und Frieden“, in Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ oder in Musils „Mann ohne Eigenschaften“ über die ersten 500 Seiten nie hinauskam, dürfte sich in den Wochen des Lockdowns gefragt haben: Wann, wenn nicht jetzt?

Wann, wenn nicht jetzt: Mit dieser Haltung sind zum Glück auch Festivalleiter Ulrich Schreiber und sein Team ans Werk gegangen und haben sich (und uns!) zum 20. Jubiläum des ilb ein erlesenes, beeindruckend weltläufiges Festivalprogramm gegönnt, dem man die pandemiebedingten Einschränkungen kaum ansieht (- …was man von den ausgedünnten Reihen hier im Kammermusiksaal der Philharmonie leider nicht behaupten kann …). Rund 150 Autorinnen und Autoren aus 50 Ländern sind vertreten, noch unbekannte Schriftstellerinnen und Schriftsteller genauso wie Literatinnen und Literaten von Weltrang, etwa die Literaturnobelpreisträger Olga Tokarczuk und Mario Vargas Llosa.

In Lesungen und Workshops geht es um Themen, die aktuell die Welt bewegen – und zur Sache geht es erfreulich häufig live und mit Publikum. Nach Monaten kultureller Askese, in denen man Künstlerinnen und Künstler allenfalls auf dem Bildschirm zu sehen und zu hören bekam, tut es gut, durch so ein Festivalprogramm zu blättern! Für Ihr Engagement, für die Beharrlichkeit und Nervenstärke, die es dafür in Zeiten von Corona braucht, danke ich Ihnen herzlich, lieber Herr Schreiber, und natürlich auch Ihrem gesamten Team! Ich freue mich, dass wir Sie mit Fördermitteln aus meinem Kulturetat unterstützen können – ganz besonders in diesem schwierigen Jahr, in dem Lesestoff vielleicht noch mehr als sonst Seelennahrung war und ist.

Denn auch wenn die Zeit der geschlossenen Grenzen und der strikten Kontaktbeschränkungen zum Glück vorbei ist, sind die Möglichkeiten des Entkommens aus der Enge der eigenen Lebenswelt nach wie vor begrenzt: nicht nur, weil aus beliebten Reisezielen Risikogebiete wurden, sondern auch, weil mit Theatern, Kinos, Konzerthäusern und anderen Kulturorten ausgerechnet die Sehnsuchts- und Zufluchtsorte des Alltagslebens besonders hart getroffen sind: Orte, die das zutiefst menschliche Bedürfnis nach Austausch und Gemeinschaft stillen – und den Wunsch, die Grenzen der eigenen, kleinen Welt zu überwinden. In den vergangenen Monaten dürfte vielen schmerzlich bewusst geworden sein, wie sehr sie uns fehlen.

Uneinnehmbare Bastion ist und bleibt dagegen das Buch – ein Kulturerlebnis, das garantiert keinen Reisebeschränkungen und Abstandsregeln unterliegt. Glücklich, wer in den unendlichen Weiten der Literatur zu reisen weiß; glücklich, wer lesend mit fremden Menschen sehen, denken und fühlen kann:

  • sei es mit einer Fotografin, die den Spanischen Bürgerkrieg dokumentiert – wie in Helena Janeczeks Roman „Das Mädchen mit der Leica“;
  • sei es mit einem Islamisten, der sich, eingeschlossen ins Museum, mit Erotik und Nacktheit auseinandersetzen muss – wie in Kamel Daouds literarischem Essay „Meine Nacht im Picasso-Museum“;
  • sei es mit einer Mittzwanzigerin, der ein Tinder-Chat mit einem Fernsehpromi aus ihrer Lebenskrise hilft – wie in Moa Romanovas Graphic Novel „Identikid“;
  • sei es mit einem Jungen, der nach Wegen sucht, mit seinem autistischen Bruder zu leben – wie in Katya Balens Kinderbuch „Mein Bruder und ich und das ganze Universum“;
  • sei es mit zwei jungen Männern, die ihre Heimat Albanien in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft verlassen – wie in Pajtim Statovcis Roman „Grenzgänge“.

Das, meine Damen und Herren, sind nur einige wenige Beispiele aus dem Jubiläumsprogramm des ilb, die dazu einladen, gerade in diesem Jahr des „social distancing“ die verbindende, Grenzen überwindende Kraft der Literatur zu feiern. Dass dieses Festival zu einem großen Teil analog stattfinden kann, ist ein Hoffnungsschimmer für jeden Kulturliebhaber mit Entzugserscheinungen, aber auch und vor allem für die vielen Künstlerinnen und Künstler, die auf Live-Auftritte vor Publikum angewiesen sind. 

Das Konjunkturpaket NEUSTART KULTUR der Bundesregierung – die so genannte Kulturmilliarde zur Wiederbelebung der kulturellen Infrastruktur – kann ihre Not nur lindern, aber natürlich nicht alle Probleme lösen. Umso wichtiger ist es, sehr differenziert darüber nachzudenken, wie man mit pragmatischen Konzepten das Bühnengeschehen wieder ins Laufen bekommen kann. Das ist das Mindeste, was wir den Künstlerinnen und Künstler schuldig sind! Dazu muss man sich die Mühe individueller Einzelfallbetrachtungen machen: Jede Veranstaltung, jeder Raum muss speziell auf seine Möglichkeiten geprüft werden, Infektionsschutz und Kulturgenuss miteinander zu vereinbaren. Pauschal sehr restriktiv vorzugehen und sich vor dieser aufwändigen Arbeit zu drücken, wird weder dem Kulturbetrieb in seiner Vielfalt noch den existentiellen Nöten der Kultureinrichtungen und der Künstlerinnen und Künstler gerecht.

Die Wiederbelebung des kulturellen Lebens verdient dieselben Anstrengungen, die auch anderen Branchen zuteilwerden! Denn Kunst ist keine Delikatesse für Feinschmecker, sondern Brot für alle. Künstlerinnen und Künstler sind die Botschafter des Möglichen in der Wirklichkeit. Als treibende Kräfte gesellschaftlicher Selbstreflexion sind sie für eine Demokratie ebenso überlebensnotwendig wie für jeden einzelnen als Inspiration für Träume und für die Suche nach Antworten auf existentielle Fragen des Menschseins.

Mögliches sichtbar zu machen und Wirklichkeit veränderbar zu zeigen, gehört zu den Kernkompetenzen nicht zuletzt von Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Im Bann eines Buchs erfahren wir, dass alles anders sein könnte als wir es wahrnehmen. Und manchmal spüren wir mitfühlend und mitfiebernd die Sehnsucht nach einer besseren Welt, nach einem anderen Leben.

„Die Fiktion“, so hat es Mario Vargas Llosa 2010 in seiner Nobelvorlesung formuliert, „ist mehr als Unterhaltung, mehr als eine geistige Übung, die Sensibilität und kritischen Geist schärft. Sie ist eine unerlässliche Notwendigkeit für das Fortbestehen der Zivilisation, für ihre Erneuerung, zur Bewahrung der besten Seiten des Menschlichen.“ Dafür braucht die Literatur nicht nur Leserinnen und Leser, die bereit sind, aus ihrer Lebenswirklichkeit herauszutreten und sich einzulassen auf die Weltferne des Fiktionalen; dafür braucht sie auch Raum – und Räume – in unserer Gesellschaft. In diesem Sinne rollt das internationale literaturfestival berlin der Welt der Literatur und der Literatur der Welt in Berlin seit zwei Jahrzehnten den roten Teppich aus. Dafür bin ich dankbar! Ich gratuliere herzlich zum 20. Jubiläum und wünsche allen Literaturliebhabern in den nächsten zehn Tagen viel Freude beim Lauschen, beim Schmökern und beim literarischen Reisen durch die Welt!